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Kollektive Intelligenz
„Wisst ihr, ich habe nachgedacht“, sagte Mario mit ernster Stimme und stellte seinen Teller auf den Holztisch, der augenblicklich seiner Leidenschaft zu wackeln nachkam. Walther und Yuuki löffelten genießerisch ihr Mahl und genossen die warmen Sonnenstrahlen der am Zenit stehenden Mittagssonne. Aus der Ferne erschallen wie zur musikalischen Untermalung der Idylle die piepsenden Gesänge der Riesenwürmer.
„Vielleicht sollte ich damit aufhören, das Funkgerät zu reparieren.“
Yuuki hielt inne und einen Moment lang schien er wie erstarrt. Dann senkte er den Löffel und starrte Mario durchdringend an. „Was redest du da?“
Der junge Mann aus Buenos Aires drehte den Kopf weg, als könnte er dem Blick nicht standhalten und schwieg.
„Dürfte ich wohl erfahren, was du damit andeuten möchtest?“, setzte Yuuki langsam sprechend nach, wie um ein trotziges Kind zu tadeln.
Mario zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder dem Japaner zu. „Ich möchte natürlich nicht für euch sprechen. Aber was mich anbelangt … ich möchte hier gar nicht mehr weg.“
Bei diesen Worten hörte auch Walther auf zu essen. Er wischte mit dem Handrücken Brühe von der Unterlippe weg.
„Ja, starrt mich nur an!“, rief Mario mit fester Stimme aus. „Was erwartet uns denn, falls man uns retten sollte? Im besten Fall eine Haftanstalt, im schlechtesten Fall Resozialisierungsdienste auf irgendeinem toten Stück Fels im Weltraum.“
Walther setzte zu einer Widerrede an und überlegte es sich anders. Was der Junge gesagt hatte entsprach der Faktenlage. Sie waren drei Gauner – kleine Fische zwar, aber nichtsdestotrotz Verbrecher, die allerlei verbotene Waren wie Alkohol, Sex-Hologramme oder Filme, die auf dem Index standen, zu einsamen Vorposten der Raumfahrt schmuggelten. Aus Walthers Sicht waren sie Rebellen, die dem Regulierungswahn der Regierungen den Stinkefinger zeigten und nach Zerstreuung hungernde Pioniere oder Wissenschaftler mit Unterhaltung jeglicher Art fütterten. Die Weltraumbehörden zeigten in solchen Fällen jedoch wenig Verständnis für dieses noble Ansinnen und verknackten Schmuggler nicht selten zu Strafen, die den Delinquenten manchmal wünschen ließen, man hätte Hinrichtungen nicht in fast allen bewohnten Planetensystemen geächtet.
Es war Yuuki, der die Stille durchstieß: „Zugegeben: Im Moment geht es uns prächtig und es mangelt an nichts Elementarem. Aber irgendwann möchte ich auch mal wieder in eine Disko gehen und mir eine Braut aufreißen, in einem chinesischen Hauben-Lokal essen oder eine warme Dusche genießen.“
Mario lächelte bitter. „Das letzte Mal, als ich im Gefängnis saß, gab es dort weder heiße Bräute, noch chinesische Hauben-Lokale.“
Yuuki zuckte etwas zusammen und musterte die Tischplatte.
„Es ist doch so“, fuhr Mario fort. „Bleiben wir hier und leben als freie Männer oder lassen wir uns retten und werden verhaftet. Es existieren keine Alternativen. Findet euch damit ab.“
„Er hat Recht“, dachte Walther und spürte einen Schauder wie einen Stromschlag durch seinen Körper sausen. Sie waren auf der Flucht gewesen, als der Antrieb ihres Raumschiffs den Geist aufgegeben und sie zu einer Notlandung gezwungen hatte. Wer auf den Fahndungslisten stand, konnte nur noch auf eine milde gestimmte Jury hoffen, was so ziemlich genau das Gleiche war, wie auf einen Sieg der holländischen Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft zu setzen.
„Vielleicht hast du Recht“, sagte er schließlich, tauchte den Löffel in den erkalteten Eintopf und führte ihn zum Mund. Wenig später aßen die drei Männer Seite an Seite, wieder schweigend.
Das seltsame Wesen beobachtete ihn seit geraumer Zeit aus Respektabstand. Seine Hasenohren drehten sich wie antiquierte Radarantennen im Halbkreis, während der an eine fettleibige Katze erinnernde Körper völlig ruhig verharrte. Walther schichtete das gesammelte Feuerholz auf und dachte über ihr mittägiges Gespräch nach. Er hatte keine Ahnung, auf welchem Planeten sie sich befanden, da sich beim Absturz neben dem Antrieb auch der Zentralrechner verabschiedet hatte. Was ihn anbelangte, so wäre Eden ein treffender Name für diese Oase der Friedsamkeit gewesen. Natürlich unterschieden sich die hiesige Fauna und Flora von der terranischen teils beträchtlich. Sie hatten bislang keine Tiere entdecken können, deren Größe jene einer Katze überstieg. Das Geschöpf, das ihn geduldig aus seinen überdimensioniert wirkenden Augen musterte, schien die größte Lebensform der ihnen bekannten Tierwelt darzustellen.
„Na, du?“, sagte Walther plötzlich und war über sein schrulliges Verhalten selbst erstaunt.
Allerdings war es wohl selbst für ihn schwierig, seinen neuen Freund nicht putzig zu finden. Kleiner, träger Körperbau, riesige Augen, lange Ohren, ein bläulich glänzendes Samtfell. Auf Erden hatten schon hässlichere Tiere des Felles wegen ihr Leben lassen müssen.
Walther kam eine Idee. Vorsichtig, um es nicht zu verschrecken, ging er ins Raumschiff und holte aus dem Vorratsschrank ein Stück Brot. Er brach ein weiches Stückchen ab und warf es in die Richtung des Wesens.
Es schnüffelte mit seiner hufeisenförmigen Nase daran, ohne den Menschen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Es zeigte jedoch kein Interesse daran und verschmähte den Leckerbissen.
Walther kratzte sich am schütteren Hinterkopf. „Dann halt nicht. Hey, Vögel würden für so etwas töten!“
Im fingerhohen Gras kroch mühsam ein Riesenwurm entlang und fiepte dabei keuchend wie eine Miniatur-Dampfmaschine. Sie könnten diese Kreatur mal auf ihre Essbarkeit testen, kam ihm in den Sinn. Wobei ihr Äußeres wohl einiges an Überwindung beim Ausweiden oder gar Verkochen kosten würde. Ein giftgrüner Regenwurm, der länger als sein Unterarm war und zwei schleimige Tentakel auf dem Kopf trug, lud nicht gerade zum Verkosten ein.
Ganz im Gegensatz zu den riesigen Insektenwesen, von ihnen „Hähnchen“ genannt, an denen sie sich seit Tagen gütlich taten: Flugunfähige Kreaturen, hinter deren Chitinpanzer unvergleichlich schmackhaftes Fleisch nur darauf zu warten schien, von gierigen Menschen gebraten und verzehrt zu werden.
Yuuki und Mario waren vor einer Stunde aufgebrochen, um ihre Vorräte aufzufrischen und würden bestimmt nicht mit leeren Händen kommen. Dummerweise schienen diese Hähnchen Einzelgänger zu sein – eine ganze Herde davon hätte sie auf lange Zeit hinaus versorgt.
Dieses Wesen jedoch war ganz anders. Seinem Blick lag unergründliche Intelligenz inne und sein niedliches Aussehen verbot ohnehin jeden Gedanken an eine Erweiterung ihres Speiseplans.
Plötzlich verspürte er den Impuls es zu berühren, zu streicheln, seinen mit Sicherheit warmen Körper zu liebkosen. Langsam schritt er auf das Tier zu, gebeugt, um ihm nicht wie ein bedrohlicher Riese zu erscheinen. Dabei stieß er sanfte Laute aus und bemühte sich um ein Lächeln. „Brauchst keine Angst zu haben. Ich tu dir nichts.“
Als er bis auf drei Meter herangekommen war, machte das Tier kehrt und eilte davon. Verblüfft starrte ihm Walther nach, bis es als kleiner schwarzer Punkt im Dickicht des Waldes verschwunden war. Die Geschwindigkeit, mit der es aus der hockenden Position aufgesprungen und weggelaufen war, überraschte ihn. Eine Weile blieb er noch reglos im Gras stehen. Dann kehrte er zum Lager zurück.
Nach wenigen Minuten ertappte er sich dabei, wie er nach dem putzigen Gesellen Ausschau hielt. Aber an diesem Tag kehrte das Tier zu seiner Enttäuschung nicht wieder.
„Willst du nicht mal mitkommen?“, fragte ihn Yuuki und steckte den Lauf der Waffe wie ein abgehalfterter Westernheld zwischen Gürtel und Hosenbund.
Walther schüttelte den Kopf. „Ach, ihr braucht mich doch nicht. Da bleibe ich lieber hier und räume das Lager auf.“
„Soll mir Recht sein“, entgegnete Yuuki und winkte Mario heran, der von ihm meist dazu verdonnert wurde, die Früchte sowie die „Hähnchen“ zu schleppen.
Er sah ihnen nach, bis ihre Silhouetten hinter hohen Büschen verschwunden waren. Dann blickte er sich nach seinem neuen Freund um der wartete, bis die beiden anderen Männer zur Jagd aufgebrochen waren.
„Na, alles klar, Kleiner?“, rief Walther jovial aus und bemerkte, dass das Tier inzwischen fast zum Greifen nahe gekommen war. Jeden Tag während der vergangenen Woche hatte es den Abstand zwischen sich und dem Menschen verringert. Es hatte eindeutig Zutrauen gefasst, wenngleich seine Augen und Ohren wachsam blieben. Die beiden Spezies tauschten Blicke aus. Dann begann Walther zu lächeln und zog das Taschenbuch aus seiner Hosentasche.
„Wir sind fast durch“, sagte er und zwinkerte dem Wesen zu. „Heute erfährst du, ob Robinson Crusoe gerettet wird. Soll ich anfangen?“
Er setzte sich auf einen Holzscheit und blätterte bis zu jener Stelle vor, die er mit einem Eselsohr markiert hatte. Walther räusperte sich und mitten in seine ersten Worte hinein platzte die leise, etwas holprige Stimme des Besuchers: „Nein, danke. Heute nicht.“
Er sog die Luft scharf ein und das Buch glitt ihm aus den Händen. „Was sagst du da?“
„Ich würde lieber mit dir reden.“
Einen Moment lang verschwammen die Konturen der Welt vor seinen Augen und er dachte, er würde vielleicht träumen. Aber nichts deutete darauf hin, dass er sich in einem Traum befände. „Wieso kannst du sprechen?“
Selbst diese wenigen, simplen Wörter musste er nachgerade herauswürgen.
„Du hast mir vorgelesen. Und ich habe des Nachts euren Gesprächen gelauscht“, antwortete das Tier. „Du wirst mir doch hoffentlich nicht wehtun?“
Walther verstand zunächst nicht. Dann lächelte er schief. „Nein, natürlich nicht. Wie sollte ich jemanden, mit dem ich reden kann, verspeisen? Das wäre ja, als würde ich einen Menschen essen.“
Die Nase des Tieres zuckte. „Ihr esst auch Menschen?“
„Aber nein! Das war nur ein bildhafter Vergleich. Mein Name ist Walther. Wie heißt du?“
„Riechst du das denn nicht?“
Er glotzte den Besucher einige Sekunden lang an und fragte sich, ob das irgendein Witz war, den er nicht kapierte. Darin war er noch nie gut gewesen, wie in allen Bereichen des Lebens. Er hatte sich stets irgendwie durchgemogelt – und jetzt steckte er auf diesem paradiesischen Planeten fest, wo er sich mit seinen beiden Partnern ebenfalls wieder durchmogelte.
„Ach“, begann Walther, „jetzt verstehe ich: Ihr kommuniziert mit Hilfe von Düften?“
Das Tier bestätigte und der Mensch fügte hinzu: „Wie bei uns auf der Erde die Ameisen und die Frauen. Ich werde dich Wallace nennen, mit deinem Einverständnis.“
„Erde … das ist eure Heimat?“, wollte sein Gegenüber wissen woraufhin Walther beschloss, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, die ihn, Yuuki und Mario unfreiwillig hierher geführt hatte. Er begann mit dem überhasteten Aufbruch von der Raumstation und endete mit dem glimpflich verlaufenen Absturz an dieser Stelle. Das Tier – Wallace – lauschte Walther geduldig. Plötzlich legte es den Kopf schief. „Werdet ihr für immer hier bleiben?“
„Das wird sich zeigen“, meinte er und betrachtete eine Wolkenformation, die ihn an den Oberkörper einer üppigen Frau erinnerte. Er stieß einen tiefen, von Herzen kommenden Seufzer aus. Er konnte auf vieles verzichten: Weibliche Bekanntschaften zählten nicht dazu.
„Wir sind noch am Überlegen, ob wir um Hilfe funken sollen. Aus … nun ja, verschiedenen Gründen.“
Sie schwiegen eine Zeitlang.
„Gibt es auf diesem Planeten ähnliche Lebensformen wie wir sie darstellen? Eine Spezies, die technologisiert ist, die Raumschiffe baut oder so was in der Art?“
„Nein, wozu?“
Irritiert musterte er Wallace. „Wozu? Nun, um das Leben weniger gefährlich zu gestalten. Um es sich bequemer zu machen. Um zu erforschen.“
Darüber musste sein tierischer Freund nachdenken. Schließlich sagte er mit seiner Singsang-Stimme: „Wir leben in Eintracht miteinander. Unser Leben ist nicht gefährlich. Wir töten nicht einander, wir essen nicht des anderen Fleisch.“
„Ihr habt keine Feinde?“, fragte Walther erstaunt.
Wallace betrachtete ihn verständnislos, woraufhin er ihm das Konzept eines Feindes erklärte.
„Nein. Keine Feinde. Oft teilen wir die Früchte des Waldes mit jenen, die ihr Riesenwürmer nennt. Leider ist es ihnen nicht möglich mit euch zu sprechen, so wie es mir möglich ist. Sie würden gerne –“
„Moment einmal“, unterbrach ihn Walther. „Heißt das, die Riesenwürmer sind ebenso intelligent wie ihr es seid?“
Wallace bestätigte dies.
„Zwei intelligente Lebensformen auf einem Planeten und keine entwickelt eine fortschrittliche Zivilisation“, räsonierte der Mensch.
Seine Hand schlug auf die Stirn, wo ein moskitoähnliches Insekt sich niedergelassen hatte. Angeekelt betrachtete er die zerquetschten Überreste. „Diese verdammten Biester nerven.“
„Warum hast du das getan?“, sagte Wallace.
„Was?“
Sein Blick wechselte von der Handinnenfläche zu dem Besucher. „Ich weiß nicht. Wir erschlagen diese Viecher einfach, weil sie lästig sind. Habe ich dich erschreckt? Falls ja, tut es mir Leid! Ich schwöre dir, ich würde dich niemals verletzen! Oder einen deiner Spezies.“
Wallace antwortete nicht und saß wie erstarrt auf seinem Platz. Er wirkte auf ihn wie ein Buddha – ein niedlicher kleiner Buddha, in dessen Augen plötzlich blankes Entsetzen geschrieben stand. Walther wischte die Hand an der Jeans ab.
„Stimmt was nicht?“
Wallace starrte ihn mit einer Intensität an, die ihn frösteln ließ. Endlich sagte das Tier: „Was hast du getan? Sie sind so klug wie wir! Alle Lebensformen dieser Welt sind so klug wie wir.“
Ihm wurde noch kälter zumute. „Das würde ja dann bedeuten, auch die ‚Hähnchen’ …“
Zu der Kälte gesellte sich Übelkeit hinzu. „Es tut mir Leid.“
„Mir auch. Lebe wohl“, sagte Wallace, richtete sich auf und eilte davon.
Walther schluckte trocken.
Beim Anblick der ungeheuer gewaltigen schwarzen Wolke, die wie ein defekter Photonen-Antrieb surrte, schrie er auf. Sie verdunkelte den Himmel, ehe sie auf ihn hinabregnete und anstatt Wasser Qualen mit sich trug.