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Kollaps
Ich zog mir noch schnell das weiße Pulver von der Spiegelablage, bevor ich die Toilette verließ.
Es war der ordentliche Rest aus Megans Blechdose und die Mischung aus Pulver, Alkohol und Strobo-Licht sorgte dafür, dass ich auf der Tanzfläche anschließend die Orientierung verlor.
Der kleine Club wurde für mich zu einem Labyrinth, dessen Ausgang unmöglich zu finden war.
Ich sah nur noch aufblitzende Schatten und hörte den Technotakt.
Eine Ewigkeit später stand ich draußen. Der Nachthimmel war mittlerweile ergraut.
Ich überquerte die Straße und betrat den Park, der noch ruhig und verlassen im morgendlichen Dunst lag.
Auf einer der Parkbänke saß Megan und drehte Zigaretten. Sie murmelte was vor sich hin, so wie es immer tat, wenn sie alleine und drauf war. Als sie mich sah hielt sie inne und schaute mich erst an und schaute dann auf das Wäldchen hinter mir. Dann fing sie an zu reden. Da ich ihre Dose leer gemacht hatte, drängte sie mich dazu noch mit zu Tom zu fahren und Nachschub zu holen. Tom wohnte keine drei Kilometer entfernt und anstatt die Bahn zu nehmen, machten wir ein kleines Sprintrennen.
Wir sprinteten über mehrere Straßen und Kreuzungen, und wurden ein oder zwei Mal fast von einem Auto erwischt.
Während des Laufens spürte ich wie die Wirkung der Nase richtig einsetzte und trotz meiner Unsportlichkeit, stand ich einige Sekunden vor Megan im Innenhof, der zu Toms Wohneinheit führte.
Toms Bude sah wie immer aus. Balkontür offen, Musik laut –man konnte sie schon von unten aus hören- und das Sofa verschwand unter einem Haufen miefiger Wäsche.
Ich pflanzte mich auf das Balkonsofa und lauschte der Stadt beim Leben. Das Koks machte es schwierig. Jeder Einzelne meiner Sinne brannte wie ein unkontrollierter Brennstab. Ich musste erstmal runter kommen.
Ich ging rein und räumte mir einen Platz neben Megan auf dem Sofa frei.
Sie hatte wieder angefangen Tabak, Blättchen und Filter aus ihrer Gürteltasche zu kramen. Mit einem Filter im Mund deutete sie in die Richtung, in der Tom nach unserem Eintreffen verschwunden war und ich folgte ihm.
Auf halben Weg kam er mir entgegen und hielt mir einen kleinen Frischhaltebeutel hin.
Megan, die blitzschnell aufgestanden war, schnappte sich den Stoff und betrachtete prüfend dessen Inhalt und ich gab ihm das Geld.
Die Nase ließ erst gegen Mittags nach, als Megan und Tom schon längst im Nebenzimmer verschwunden waren. Ich versuchte es nochmal mit dem Lauschen und ich schlief direkt ein. Es war schon halb vier als mich der Straßenlärm weckte.
Mit dem Ende der Wirkung, setzte auch wieder die Ernüchterung ein und ich musste all meine Motivation zusammen nehmen, um mich aus dem Sofa zu erheben. Ich realisierte, dass ich am nächsten Tag wieder zur Arbeit musste. Ich schleppte mich nach Hause.
Der abendliche Verkehr und der Abstieg der Sonne waren im vollen Gange und ich war froh, dass es langsam wieder Frühling wurde.
Ich genoss das warme Sonnenlicht und richtete mein Gesicht aus wie eine Sonnenblume. Im Café unter meiner Wohnung saßen schon vereinzelt dick eingepackte Kaffeetrinker. Der Geruch von Kaffee, Zigaretten und frisch gebackenen Brötchen hatte sich in meinem Schlafzimmer eingenistet.
Ich schlief wieder sofort ein, nachdem ich mich mit voller Montur in ins Bett fallengelassen hatte.
Beim Aufwachen am nächsten Morgen merkte ich schon, dass die Farbe der Umwelt nachgelassen hatte. Die Wirkung war weg.
Ich lag noch einige Minuten auf dem Rücken und betrachtete die Zimmerdecke, die sich, wie gewohnt, in all seiner rissigen Pracht darbot.
Zufällig fiel mein Blick auf den alten Schuhkarton auf meinem Schlafzimmerschrank. Er war von außen schon ziemlich abgenutzt und ich musste kurz überlegen, bis ich mich wieder erinnerte. Im Karton lag meine dörfliche Kindheit; all die Bilder und Fotos von früher.
Ich dachte daran, und das nicht zum ersten Mal, ihn bald zu entsorgen. Ich wollte nicht mehr an früher denken. Ich wollte mich nicht erinnern mit was für einer Motivation ich damals von meinen Eltern weg bin. Rein in diese Bruchbude, rein in dieses Moloch, rein in dieses scheiß Leben.
Selbst wenn mich die Fotos an schöne Momente erinnern würden, würden sie mich noch depressiver machen. Und die Depression der letzten Jahre war gerade noch so mit Toms Mitteln zu auszuhalten.
Der Weg zur Arbeit schien nicht mehr so hell und sonnig. Vielleicht war es, und ich nahm es nicht mehr wahr. Der Schlaf hatte keine Erholung gebracht, und die Müdigkeit begleitete mich zu meinem Schreibtisch.
Sie war kaum noch auszuhalten, als ich mich wieder auf dem Heimweg befand.
In der Bahn nickte ich ein. Nur das Rütteln des Wagens lies mich immer wieder aufblicken.
Der genaue Grund, wieso ich wieder zu Tom ging, fällt mir bis heute nicht ein.
Doch diese Entscheidung veränderte mein Leben.
Wahrscheinlich hatte ich Angst in der Bahn einzuschlafen. Ich stieg also schon drei Stationen vorher aus.
Auch die kühle Abendluft weckte mich nicht aus meinem Halbschlaf und so stand ich diesmal, knapp 30 Stunden später, müde und kraftlos in Toms Innenhof.
Diesmal schallte keine Musik in den Hof. Auch reagierte Tom nicht auf die Türklingel.
Er war nicht da.
Ich fühlte mich zu kraftlos, um ihn wieder quer durch die Stadt zu suchen-er hatte zu viele Orte wo er sein konnte-, und ich hockte mich neben seine Wohnungstür auf den Flurboden.
Ich machte die Augen zu. Die Welt um mich herum versank und ich schlief wieder ein. Aber diesmal richtig.
Ich spürte wie etwas unsanft auf meine Beine viel, die während des Schlafes quer über den Flurboden gerutscht waren. Die Gestalt über mir fing an auf mich einzureden. Ich bekam nur die Hälfte mit von dem was sie sagte.
Der gesamte Inhalt ihrer Einkaufstüte lag auf meinen Oberschenkeln.
Ich erwachte langsam und versuchte mich zu entschuldigen, während ich ihr die Joghurtbecher und das Gemüse in die Hand drückte.
Als ich aufstand, hustete ich laut, um die Übelkeit zu vertreiben. Zum ersten Mal sah ich das Gesicht zu der Gestalt.
Sie hatte kein Mädchengesicht mehr und schon die etwas schärferen Gesichtszüge einer Frau. Ich schätzte sie auf 28, also genau mein Alter.
Zunächst wollte ich nur noch weg, weil ich mich schämte. Ich lag wie ein Penner in einem fremden Flur rum und stank nach Suff.
Ich hoffte, dass Tom bald da sein würde um mich in seine Wohnung zu lassen.
Sie war schon wortlos und hektisch hinter ihrer Wohnungstür verschwunden, als Tom endlich auftauchte. Er schaute mich schräg an und wusste aber sofort was ich brauchte.
Was zu rauchen und den Balkon.
In der Wohnung merkte ich, dass es schon Abend geworden war.
Wir saßen lange zusammen auf dem Balkon und rauchten. Niemand sagte einen Ton.
Es war knapp halb 10, als ich wieder im Flur stand. Das Gras hatte zwar nicht die Wirkung wie das Koks, trotzdem ertrug ich die graue Tristesse besser.
Ich überredete mich dazu bei seiner Nachbarin zu klingeln um mich zu entschuldigen. Und da war es wieder, das Schamgefühl.
Es dauerte eine Weile, bis ich Schritte hinter der Tür hörte. Das Gefühl wurde stärker, als die Schritte näher kamen.
Sie hielt in der einen Hand einen Topflappen, als sie mir Gegenüber im Türrahmen stand.
Ich war wie erstarrt, und bekam kein Wort raus.
Sie schaute mich verwundert an und sagte mir, dass sie was auf dem Herd stehen habe.
Mit der größten Mühe brachte ich die Entschuldigung über meine Lippen. Ich sagt ihr, dass ich sowas eigentlich nicht tue, was gelogen war, und das ich ein guter Freund von Tom war, war streng genommen auch gelogen war.
Sie lachte kurz auf und sagte mir dann, dass ich nicht der erste Flurschläfer aus Toms Freundeskreis sei, über den sie gestolpert war. Ihr machte das mittlerweile nicht mehr viel aus, solange diejenigen nicht den Flur voll kotzten. Ihre Gelassenheit überraschte mich und wieder dachte ich daran wie ich reagiert hätte. Ich merkte, dass sie genau wusste welcher Typ Mensch ich war. Der armselige Junky, der auf Böden pennt und auf Toms Stoff wartet. Gleichzeitig, schien sie nicht sauer oder angeekelt zu sein.
Das bedrückende Gefühl lies langsam nach und ich kam ins Gespräch.
Sie fing an, mich anzulächeln und sie fragte mich, ob ich ihr beim Essen Gesellschaft leisten wolle. Trotz ihrer Erklärungen, verstand ich anfangs nicht, wieso sie einen Idioten wie mich, der in Fluren seinen Rausch ausschläft, um Gesellschaft bat. Vielleicht war sie genauso Einsam wie ich, dachte ich.
Und wir verstanden uns, als wenn wir uns schon kennen würden.
Sie erzählte mir, dass sie sich noch ständig verlaufen würde, da sie neu eigezogen war. Deshalb hatte sie mich bei unserer ersten Begegnung übersehen. Sie hatte wohl nach der richtigen Hausnummer gesucht.
Dafür, dass sie hier neu war, war die Wohnung extrem gut aufgeräumt und sortiert. Ich dachte an meine noch vollen Umzugskantons, die seit 10 Jahren jedes einzelne Zimmer meiner Wohnung verstopften.
Wir saßen an ihrem kleinen Küchentisch, den man runterklappen konnte. Sie aß ihre Nudeln und ich trank Kaffee, der herrlich schmeckte. Im Laufe der Unterhaltung erfuhr ich, dass sie aus demselben Ort stammte wie ich. Sogar aus derselben Straße.
Mir viel es plötzlich wie Schuppen von den Augen.
Ich kannte sie; sie war die schöne Caro von der Ecke.
Jeder aus unserem Jahrgang war hinter ihr her.
Und jeder, der sich traute sie anzusprechen bekam auch eine Chance, die jedoch keiner damals wahrnehmen konnte.
So war sie, die schöne Caro. Sie wusste genau was sie wollte. Ein Sommer lang hatte ich versucht meine Chance umzusetzen und wir verstanden uns super, aber sie wollte mehr und ich glaube das lag nicht an mir. Das sagte sie mir jetzt.
Vielmehr wäre es ihre Einstellung gewesen.
Sie wollte immer weg. Weg von ihren Eltern, weg aus diesem Kaff, weg von Allem und Jedem.
Wir unterhielten uns lange an ihrem Klapptisch. Und wir unterhielten uns nur über unsere gemeinsamen Erinnerungen und lachten uns mehr als einmal halb schlapp.
Was in den letzten Jahren bei uns passiert war, blieb hinter einem grauen Schleier. Aber es war gut so. Wen interessiert das schon. Wahrscheinlich hatte sie, wie ich, ein paarmal mit einem Studium angefangen um dann irgendwo ihr Lebensunterhalt bei irgendwelchen Knüppeljobs zu erarbeiten. Das Übliche eben, was mit den Leuten passiert, die als Jugendliche aus ihrem Heimatdorf in die Welt hinaus ziehen und meinen was bewegen zu müssen.
Die alten Gefühle und die alte Chemie zwischen uns beiden, leiteten den Abend.
Als wenn es die Zeit zwischen Früher und Jetzt nie gegeben hätte. Ich fühlte mich wieder wie 15. Ich war plötzlich voller Energie und wie näherten uns immer weiter an. Wie Teenager im Kino.
Der erste Kuss, der von ihrer Seite ausging, war da nur die logische Konsequenz. Sie schaute mich schüchtern an und ich war wie erstarrt. So hatte ich mir den Abend nicht vorgestellt. Ich hatte immer noch im Hinterkopf, warum ich eigentlich hier war. Was für ein Penner ich in ihren Augen eigentlich sein müsste.
Das war die letzte Hürde. Doch als die sich auflöste, gab ich mich ihr voll und ganz hin und es entwickelte sich die schönste Nacht der letzten Jahre.
Da lagen nicht zwei Menschen in einem Bett irgendwo im 4.Stock und hatten Spaß.
Es fühlte sich nach mehr an. Ihr Zimmer, der Ausblick aus ihrem Fenster, selbst diese eigentlich trostlose Küche, bestand, trotz der nächtlichen Dunkelheit, aus Farbe. Und wie. Satt wie in einem Kinderbuch. Wir blieben die ganze Nacht wach. Es fühlte sich unwirklich an, da meine Stimmung im Vergleich zu sonst so anders war.
Die Person, die noch voller Müdigkeit und Trostlosigkeit war, und die mit einer ordentlichen Portion Scham an ihre Tür geklingelt hatte, war in eine so weite Ferne gerückt, dass ich kaum glauben konnte jemals so gelebt zu haben.
Am nächsten Morgen ging ich mit ihr zur Arbeit. Geschlafen hatten wir eigentlich nicht. Trotzdem spürte ich keine Müdigkeit, ganz anders in den Tagen und Monaten zuvor.
Sie hatte Frühschicht im Krankenhaus. Ok, hier arbeitet sie also.
Obwohl wir über viele Dinge geredet hatten, blieben diese Themen auch weiterhin im Hintergrund. Ehrlich gesagt vergas ich auch zu fragen. Während ich mit ihr zusammen war standen diese Themen für mich so abseits, sie hätten auch aus einer anderen Dimension stammen können. Erst im Nachhinein merkte ich, dass ich ja eigentlich nichts, außer ihren Wohnort, über sie wusste.
Wir verabschiedeten uns im Foyer des Krankenhauses.
Ich kam gar nicht dazu sie zu küssen. Ich war so überwältigt von meinen Gefühlen, sie drückten mich wie Herkules an eine Wand.
Es überkam mich einfach. Die Farben fraßen mich.
Diese kraftvolle Farbgebung der Umwelt hielt den ganzen Tag an. Auch nachdem ich wieder in meiner Wohnung war, erschien diese mir gar nicht mehr so trostlos wie noch in den Wochen zuvor. Die gestapelten Kartons wirkten jetzt eher gemütlich auf die Atmosphäre, nicht chaotisch.
Eigentlich wollte ich wieder direkt Tom. Oder besser gesagt zu Toms Etage.
Eigentlich wollte ich zu Caro.
Wieder vor der Tür sitzen und sie überraschen, und das klang nach einem Plan.
In dem Moment wusste ich gar nicht, ob ich überhaupt arbeiten musste. Ob ich mich für den Tag überhaupt eingetragen hatte.
Ich duschte mich und ging mit dem alten Schuhkarton voller alten Fotos aus der Jugend unterm Arm, den ich noch gestern Morgen auf dem Schrank erblickt hatte, zusammen mit allen anderen normal zur Arbeit. Nur ging ich nicht zu meiner.
Schließlich stand ich wieder vor ihrer Tür und wartete. Ich hatte mich wieder auf den Flurboden gesetzt und stöberte in den Erinnerungen, die mittlerweile bestimmt schon 12 Jahre alt waren.
Ich sah mich, mit meiner alten Clique, ich sah schlecht belichtete und verwackelte Naturaufnahmen von unserem Badesee und meine ersten Freundinnen.
Ich brauchte eine Weile bis ich Caro auf einem der Bilder entdeckte. Sie stand allein vor dem See und schaute auf die gegenüberliegende Bundesstraße. Man sah ganz weit im Hintergrund einige kleine Autoschatten.
Ich erinnerte mich nicht mehr an diese Aufnahme. War sie mal mit meinen Leuten am Badesee? Auch die darauf folgenden Bilder sagten mir nichts.
Immer wieder Caro, wie sie über den See schaute.
In einer Aufnahme hatte sie schließlich bemerkt, dass sie aufgenommen wurde und versuchte ihr Gesicht zu verdecken. Sie sah sauer aus und schien sich direkt aus dem Bild rauszubewegen.
Das nächste Bild schlug mir in die Magengrube.
Inmitten der wilden Gebüsche, die rings um den Badesee wuchsen, stand ein Krankenwagen. Eines der Blaulichter blitzte im Moment der Aufnahme hell auf, sodass ein blauer Lichtkegel quer über das Bild schien. Das nächste Bild zeigte mich. Völlig aufgelöst stand ich da und schaute ins Leere. Wieso konnte ich mich nicht mehr daran erinnern? Was war mit mir los? Mir wurde übel und schwindelig. Das letzte Bild was ich noch wahrnahm, war ein Portrait von Caro. Die schöne Caro, in schwarz weiß.
Auf der Rückseite erkannte ich meine Handschrift und las Caros Todestag. Mir wurde schwarz vor Augen.
Tom hatte mich geweckt.
Ich war völlig übermannt. Mein Kopf fuhr Achterbahn. Er half mir auf und schleppte mich in seine Wohnung auf das Sofa.
Der Schuhkarton war weg. Die Bilder waren weg. Nur der Flur auf Toms Etage war noch da.
Der Traum hatte meine Gefühlswelt einmal auf links gestülpt. Ich brauchte einen Moment um wieder einigermaßen klar zu kommen.
Caro Laifert. Die schöne Caro. Die schöne Caro war schon zehn Jahre tot.
Auf Toms Sofa setzten sich die Erinnerungsfetzen quälend langsam zu einem Bild zusammen. Einem Bild, welches ich in den letzten Jahren aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte.
Der Baggerseeunfall war damals das Thema in den regionalen Nachrichten. Mich brach er seelisch in zwei Hälften.
Es war nur ein Schubs und sie war weg. Für immer. Die längsten Sekunden meines Lebens hatte ich gewartet, bis ich ihr hinterhersprang. Doch es war zu spät.
Ihre Leiche wurde von den Feuerwehrtauchern hochgeholt.
Ich wusste nicht mehr warum wir uns eigentlich kurz zuvor gestritten hatten. Aber seit dem Unfall machte ich mir Vorwürfe. Seither verlief nichts mehr in geregelten Bahnen.
Ich versackte in dieser Stadt und das schon seit 8 Jahren. Meine Eltern und mein Heimatdorf hatten mich seit Jahren nicht gesehen.
Die Therapie hatte ich durch Toms Wundermittel ersetzt.
Der Traum machte mir wieder schmerzlich bewusst, dass ich nicht wusste, wie sie ihr Leben gelebt hätte. Was wäre aus uns geworden?
Ich beschloss den Zug um 16:45 Uhr zu nehmen. Meinen Job kündigte ich auf dem Weg zum Bahnhof.
Diesmal entbrannte in mir nicht das Verlangen die schmerzlichen Gefühle und Gedanken zu betäuben. In mir drin merkte ich, dass dieses Gefühl der vollkommenden und satten Farbenwelt nicht nur ein Traum war. Ich musste mich stellen.
Der Grauheit und der Trostlosigkeit musste begegnet werden. Dazu muss ich zurück. Zurück zum Ursprung der letzten 8 Jahre. Zurück auf Los. Endlich war mein Leben kollabiert.
Es war ein strahlend blauer Himmel. Die Sonne erhitze die Luft und der Smog drücke sich über die Stadtgrenze hinaus, wie eine waberne große Seifen-Blase.
Ich stand am Rand des Baggersees. Man hörte wie ein Mädchen irgendwo kreischend ins Wasser fiel und um mich herum lagen Leute auf Handtüchern oder standen an ihren Einweggrills.
Ich nahm mir eine Cola aus der Kühltasche. Während ich trank schaute ich auf den See.
Ich legte mir mein Handtuch um den Hals und langsam verschwand der Wasserfilm auf meiner Haut und ich spürte wieder wie heiß es doch war.
Das letzte Jahr war für mich ein der Ruhe. Ich war wieder zu mir gekommen und hatte den Tod Caros endgültig realisiert und akzeptiert.
Die schier endlos großen Schuldgefühle, die mein Geist über Jahre hinweg bewusst oder unbewusst verdrängt hatte und mich in einen Junkie verwandelt hatten, hatte ich zwar noch weiterhin und ganz würde ich mich wahrscheinlich nie von jenem Nachmittag ganz erholen, trotzdem hatte ich es geschafft mit ihnen zu leben. Der Kontakt mit Caros Eltern und das gemeinsame Trauern half dabei enorm und mittlerweile traf ich mich fast jeden Monat mit Ihnen am Grab.
Um mich herum war wieder die Farbe zurückgekehrt und ich konnte in diesem Sommer wieder endlich dessen Gerüche genießen, die ich seit meiner Kindheit fast vergessen hatte.
Ich ließ mich auf mein Handtuch fallen und stellte die kalte Kola in den Sand. Alles um mich herum sog ich auf. Den Holzkohlegeruch, Gefolgt von dem süßlichen scharfen Geruch mariniertem Fleisches. Ich roch Sonnencreme und Bier. Aus einem Wasserloch miefte es.
Ich war seit einem Jahr clean.
Die grauen Jahre die hinter mir lagen, wurden schon einzig und allein von diesem Tag aufgesogen. Wie ein Schwamm. Und ganz unbewusst verdrängte ich alles. Ganz ohne Mittel.
Es war hier so wie früher. Sie waren alle noch da. Die Geschichten von früher und die neuen Geschichten.
Es hatte sich seit damals eigentlich nichts verändert. Vielleicht kam mir früher dieser See mit seinen seelenlosen Industrierelikten unheimlicher vor. Früher waren hier auch deutlich weniger Menschen. Früher waren die Kräne noch nicht so braun. Früher war der See mehr zugewachsen.
Und Caro war natürlich noch dagewesen.