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Kolibri
Als er die Augen öffnete, blickte er in den makellosen Himmel, der sich in scheinbar endloser Höhe über seinem liegenden Körper erstreckte. Keinerlei Wolken trübten das idyllische Bild eines perfekten Sommertages. Doch etwas bereitete ihm Unbehagen. Er spürte das dringende Verlangen sich aufzusetzen. Eine Ebene erstreckte sich so weit sein Auge reichte, wie ein Meer aus Erde. Keine Erhebung war am Horizont zu erkennen, gleich in welche Himmelsrichtung er sich wandte. Der Boden auf dem er saß, war sehr trocken und staubig, ausgedörrt von der Sonne. Sonne ?
Es stand keine Sonne am Himmel, keine Sonnenstrahlen wärmten seine Haut und er warf auch keinen Schatten auf den trostlosen Boden. Wie viele Jahre wohl schon vergangen sein mussten, seit das letzte Mal Regentropfen die staubige Erde benetzt hatten? Er vermochte es nicht zu sagen.
Ein seltsamer Ort, dachte er, nicht wissend, wo er sich eigentlich befand und vor allem wann und wie er in diese Ödnis gelangt war. Es war wie in einem Traum, in dem man unmittelbar in die Handlung einsteigt, ohne die Vorgeschichte zu kennen. Doch er wusste, dass er hier nicht so einfach aufwachen und die Sache nach zwei Tassen Kaffee am Frühstückstisch vergessen haben würde. Dies war etwas gänzlich anderes.
Er bemerkte eine schwarze Wolkenfront am Horizont, weit entfernt und doch die Reinheit des tiefblauen Himmels trübend. Während er sich fragte warum er sie erst jetzt bemerkte, schossen Blitze aus den schwarzen Gewitterwolken.
Er schloss die Augen und versuchte dem Donner zu lauschen, doch das Geräusch ertönte nicht. Es gab auch keinen Wind, der über die Ebene fegen und das Gewitter zu ihm tragen könnte. Es war totenstill. Einen kurzen Augenblick fragte er sich, ob er taub geworden war.
„Hallo, jemand zuhause?“
Der Klang seiner Stimme durchbrach die schneidende Stille, klang verhältnismäßig wie ein Feuerwerk und zerschlug seine Befürchtung. Einsam und verlassen stand er da, von Erde und dem blauen Himmel umringt, als er sich zu fragen begann, wie lang er eigentlich schon hier war. Eine Stunde, eine Woche, zehn Jahre? Er wusste es nicht. Er hatte das Gefühl gar nichts zu wissen, nicht einmal seinen eigenen Namen.
Plötzlich bemerkte er noch ein weiteres Objekt, welches sich von dem blauen Himmel abhob, eines, das wesentlich näher und kleiner war. Es bewegte sich auf ihn zu, langsam doch stetig. Geräuschlos in dem Vakuum des scheinbaren Nichts.
Ungläubig realisierte er, dass ein winziger Kolibri in seine Richtung flog. Die Flügel sirrten unermüdlich doch tonlos durch die Luft und das grünliche Gefieder glänzte im Licht der abwesenden Sonne. Wie kann so ein zierliches Tier in dieser Einöde überleben? Schließlich gab es hier keine Blumen von denen es Nektar hätte trinken können.
Der Vogel flog genau auf ihn zu und kurz bevor er dachte, er würde ihm ungebremst in das Gesicht fliegen, verharrte der Kolibri direkt vor seiner Nase in einer Schwebeposition, die Flügel unaufhaltsam bewegend.
„Wo kommst du denn her, mein kleiner gefiederter Freund?“
Keine Antwort.
Natürlich antwortet er nicht, er ist ein verdammter Vogel.
Er verspürte plötzlich ein leichtes Ziehen in der Magengegend, ein flaues Gefühl, welches ihm sagte, dass ihm etwas Schlimmes widerfahren würde. Oder war ihm bereits etwas Schlimmes widerfahren? Er wusste auch das nicht.
Wie der Vogel da so schwebte, fühlte er sich beobachtet, nicht nur von dem Vogel, der ihn unentwegt anstarrte, sondern von einer Vielzahl anderer Augen, die er nicht sehen und identifizieren konnte. Das gefällt mir nicht.
Er fragte sich ob der Vogel in seine Seele blickte. Wie Boxer standen sie da und starrten sich gegenseitig an, als ein dumpfes zischendes Geräusch die allgegenwärtige Stille durchbrach, ein Geräusch, wie ein Blasebalg in einer mittelalterlichen Schmiede. Als das Geräusch wieder verklang, verspürte er einen leichten Luftzug, der seine Kleidung kräuseln ließ.
Da sauste der Vogel abrupt an seinem rechten Ohr vorbei, ohne dass er ein Flattern vernommen hätte.
„Na wo willst du denn so plötzlich hin?“
Als er sich nach dem Vogel umdrehte, stockte ihm der Atem und er fiel vor Schreck fast zu Boden.
Eine schwarze Gestalt stand hinter ihm, so schwarz, als würde man in einen sternlosen Nachthimmel blicken. Es war die Silhouette einer Frau.
„Wie geht es dir heute, Steve?“
Der Kolibri schwebte nun knapp über der rechten Schulter der Frau.
„Es schmerzt mich dich so zu sehen.“
Die Stimme schien nah und doch so fern, als hätte jemand eine Glaskuppel über ihn gestülpt. Er wusste nicht ob er antworten sollte, ihm fehlten ohnehin die Worte.
Dafür sprachen die Augen des Kolibris.
Ein schöner Herbstnachmittag. Oktober. Ein Kind spielt in einem kleinen Garten hinter dem Haus. Er steht am Fenster, beobachtend. Eine Frau steht hinter ihm. Seine Frau.
„SCHON WIEDER ÜBERSTUNDEN?“
„Es tut mir Leid.“
„NIE BIST DU FÜR UNS DA!“
„Ich kann nichts dafür. Du weißt ganz genau, dass ich dem Unternehmen gegenüber Verpflichtungen habe.“
„HAST DU NICHT AUCH VERPFLICHTUNGEN MIR UND DEINER TOCHTER GEGENÜBER ?!?“
„Es tut mir Leid.“
„DU ARBEITEST WIE BESESSEN! UND WOFÜR? BEFÖRDERUNGEN UND GEHALTSERHÖHUNGEN! DABEI HABEN WIR BEREITS MEHR ALS GENUG GELD.
WO IST NUR DER FÜRSORGLICHE MANN GEBLIEBEN, DEN ICH GEHEIRATET HABE ?“
Keine Emotionen regten sich, nur Gedanken an die nächsten Quartalszahlen.
Abend, Schnee vor dem Fenster. Anruf vom Chef. Präsentation muss morgen fertig sein. Es ist der 2. Weihnachtsfeiertag. Seine Frau ist wütend, wieder mal.
„DU LEBST NUR NOCH FÜR DIE FIRMA.“
„Es tut mir Leid.“
„IMMER DAS GLEICHE MIT DIR, WANN HABEN WIR DAS LETZTE MAL MITEINANDER GESCHLAFEN?“
Keine Antwort.
„STEVE, ICH HAB DICH BETROGEN... DU GIBST MIR NICHT MEHR DAS GEFÜHL BEGEHRENSWERT ZU SEIN.“
Keine Emotionen. Nur Gedanken an die nächsten Quartalszahlen.
War er wirklich so gefühlskalt gewesen? Er hielt sich immer für einen liebevollen Familienvater, hatte er sich schließlich nur für seine Familie in die Arbeit hineingesteigert. Er erkannte nicht, dass das Fremdgehen seiner Frau eine Hilfeschrei war, seine Tochter mit und doch ohne Vater aufwuchs und dass er sich von seiner Familie entfremdet hatte.
Reue stieg in ihm auf.
Er bemerkte nicht, dass die schwarze Gewitterfront langsam in seine Richtung zog.
Wieder das blasebalgartige Zischen, wieder ein Windzug und der Kolibri schwebte, in der Luft verharrend als würde ein Puppenspieler mit unsichtbaren Strippen den Kolibri kontrollieren.
Erst jetzt bemerkte er eine kleinere Silhouette neben der seiner Frau. War sie gerade erst erschienen oder schon immer da gewesen? Es war die Silhouette eines kleinen Mädchens, kaum älter als zehn. Unter ihrem rechten Auge zeichnete sich ein dunkelblauer, fast violetter Fleck ab. Die Augen des Kolibris bohrten sich erneut in sein Gehirn und riefen Erinnerungen wach.
Hektik, Nervosität und zitternde Hände. Morgen große Präsentation. Der ganze Vorstand wird da sein und seinen Ausführungen lauschen. Das wird sein großer Tag. Er hatte alles ausführlich recherchiert. Die Zahlen, Tabellen und Diagramme würden ihm sicherlich eine Beförderung einbringen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Der letzte Feinschliff fehlt aber noch. Erstmal einen Kaffee. Er geht in die Küche, seine Tochter in sein Arbeitszimmer. Was ist so wichtig, dass Papi den ganzen Tag in den leuchtenden Bildschirm guckt und nicht mit Mami und mir spielt? Zahlen und Buchstaben. Enttäuschte Kinderaugen. Der Becher mit dem leckeren Tee, den die Mutter immer macht rutscht ihr aus den Fingern und landet auf dem Laptop. Knistern, Piepen, schwarzer Bildschirm. Ihr Vater kehrt zurück, sieht den Schaden und Zorn steigt in ihm auf. Das Kind wird noch seine Karriere ruinieren! Was wird nun aus der Beförderung? Er erhebt die Hand, sie saust nieder und trifft das Kind unter dem rechten Auge. Ein Knall, ein Schrei, Tränen. Die Stimme seiner Frau.
„DU MONSTER!“
Es war als hätte er den Knall in der weiten Ebene in voller Intensität widerhallen hören. Wie konnte er dies nicht erkannt haben? Warum musste es nur soweit kommen? Tränen begannen seine Augen zu füllen, doch der Kolibri war noch nicht fertig mit ihm. Noch nicht ganz.
Das Gewitter kam näher und das zischende Geräusch kehrte kurzzeitig zurück. Die Silhouette seiner Frau und die des Kindes verschmolzen nun und verwandelten sich zu einem Mann. Zu ihm. Seine rechte Gesichtshälfte hing schlaff herunter und verlieh seinem Gesicht ein verzerrtes, enorm asymmetrisches Aussehen. Das rechte Auge hing glasig in der Augenhöhle. In seinem Gehirn regte sich eine letzte Erinnerung. Der letzte Filmausschnitt über einen Mann, der innerlich schon lange tot war.
Auf der Arbeit, im Büro. Der Chef gibt ihm Bilanzen und Kennzahlen zum Kalkulieren, obwohl er eigentlich schon Feierabend hat.
„Mr. Ryan, sie wollen doch Karriere machen oder nicht? Tun sie wie geheißen oder wir schicken sie nach China, wo sie denen erklären können wie man die Taschenrechner bedient, bevor wir ihre Stelle in billigere Arbeitsmärkte outsourcen.“
Seine Frau ruft an. Es ist ein kurzes und einseitiges Gespräch. Sie will die Scheidung. Während sie weint und schreit und ihm Vorwürfe macht, rechnet er die Bilanzkennzahlen vom Vorjahr aus. Sie legt auf, er bedient ungestört den Taschenrechner, bis er endlich fertig ist und in das Parkhaus geht um nachhause zu fahren. Frau und Kind sind fort, im Arbeitszimmer schaltet er den Laptop an. Er muss schließlich die Aktienkurse im Auge behalten. Plötzlich ein Gewitter, nicht vor dem Fenster, sondern in seinem Kopf. Sein Blick verschwimmt, sein Kopf schmerzt höllisch und er ist wie gelähmt. Dann umfing ihn die Dunkelheit. Als seine Frau die Wohnung betritt um ihre Kleidung mitzunehmen und ihn ein letztes Mal anzuschreien, findet sie ihn auf dem Boden seines Arbeitszimmers vor. Seine Augen sind verdreht und Speichel läuft aus seinem rechten Mundwinkel.
Das Gewitter war nun direkt über ihm und das zischende Geräusch wurde lauter. Blitze zuckten unentwegt inmitten schwerer schwarzer Regenwolken, doch noch immer war kein Donnergrollen zu hören.
Er fiel auf die Knie und Tränen liefen seine Wangen hinab. Es war seine Schuld. Seine Frau hatte ihn verlassen, seine Tochter fürchtete ihn und sein Chef nutzte ihn aus, ohne dass er imstande war es zu erkennen oder etwas daran zu ändern. Alle Reichtümer, die die Welt zu bieten hatte, besaß er bereits, doch er dachte nur an Geld. Ich lebte ohne gelebt zu haben, liebte ohne zu lieben. Gier, die einzige Emotion, die ich kannte. Die gemeinsame Zeit mit seiner Familie verbrachte er allein, vertieft in zusätzliche Arbeit. Jetzt war es zu spät. Er würde für immer allein sein, hier auf dieser endlosen Ebene am Ende der Zeit und dies war seine Schuld.
Er hasste sich selbst.
Da löste sich sein Schatten auf und der Kolibri setzte sich auf seine Schulter, legte die Flügel an und schloss die pechschwarzen Augen. Ein Gedanke, fremd und doch so eigen, keimte in seinem Gehirn. Genieße dein Leben, du weißt nie, wann es zu spät ist.
Das zischende Geräusch war jetzt allgegenwärtig und als er nach oben blickte sah er, wie sich das dunkle Gewitter, das über ihm hing und ihn auf seine Knie zwang, lichtete. Die Wolken brachen auf und die Sonne begann hinter dem Wolkenschleier zu scheinen. Er fühlte sich nie besser.
Die Sonne verwandelte sich in ein verschwommenes Gesicht. Als es sich entfernte, erkannte er geöffnete Fenster im Hintergrund. In der leichten Brise bewegten sich mintgrüne Gardinen. Mit seinem linken Auge erkannte er zwei weibliche Gestalten, die neben ihm saßen und leise weinten. Sein rechtes Auge war erblindet. Er erkannte seine Frau sofort, obwohl sie mittlerweile graue Strähnchen hatte. Die andere Person musste seine Tochter sein. Sie sah so aus wie ihre Mutter, als er sie zum ersten Mal kennen lernte. Damals, als sie noch Ms. Petersen hieß.
Er versuchte zu lächeln.
Das Beatmungsgerät zischte ein letztes Mal, als sich die Decke seines Krankenbettes hob.