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Kokain
Das Kokain brannte in der Nase. Ich wusste nicht, die wievielte Line ich bereits vom Display des Handys, das mir angereicht wurde, gezogen hatte, doch die Droge lief mir bereits von den Nasenschleimhäuten aus die Kehle herunter und ich schmeckte das Bittere. In Abständen überkam mich die Euphorie und ein unnatürliches Selbstbewusstsein, das den Panzer durchbrach, den ich über Monate um mich herum errichtet hatte. Schon in diesem Augenblick war mir bewusst, dass ich nichts Reales erlebte, dass diese Schübe nichts mit meinem Leben gemein hatten, dass ich mich in eine Illusion versetzte, die nur für wenige Minuten andauern würde, bis mir die Kläglichkeit meines Tuns bewusstwerden würde. Der nächste Morgen würde sich als Grausamkeit entpuppen. Zwar meinte ich zu bemerken, dass es sich hier um gutes Kokain handelte, dass nicht mit anderen aufputschenden Drogen gestreckt worden war und deshalb den Schlaf nicht unmöglich machen würde, aber dennoch würde das Gefühl in Nase und Hals nachwirken, würde mich daran erinnern, mit welch harten Bandagen ich mittlerweile mein Inneres bekämpfte, was mich in die Dunkelheit stürzen würde. Jedes Experiment, das man durch Alkohol initiiert an der eigenen Gesundheit durchführte, rächte sich am Folgetag mit einer um Längen größeren Kraft, als die Droge im Jetzt auch nur ansatzweise in der Lage war, zu entwickeln. Andererseits hielt mich der weiße Staub noch in seinen Krallen, bestimmte, wie ich mich gab, ließ Worte über meine Lippen gehen, die ich nüchtern niemals so ausgesprochen hätte, versetzte meinen Körper in Bewegung und begründete eine Rastlosigkeit und eine Gier, die nur durch weitere Betäubung zu stillen war. Neben mir auf der Bettkante saß eine junge Frau. Ihre Augen waren glasig, sie erzählte mir eine unzusammenhängende Geschichte von einer Abtreibung, die entweder sie oder eine Freundin vor Kurzem hatte durchstehen müssen, ich konnte nicht folgen. Ich nahm lediglich auf, dass die Person, von der sie sprach, nach Holland hatte fahren müssen, um dort die Abtreibung durchführen zu können, da dies in Deutschland von Gesetzes wegen nicht mehr möglich war. Es war unbeschreiblich, wie abgestumpft ich reagierte. Nichts von der Erzählung drang zu mir hindurch, der Schutzwall der Droge ermöglichte es mir nur, zu nicken und kurz mein Mitleid zu bekunden, darauf zog ich die Frau an mich heran, küsste sie, vergaß im selben Augenblick. Wir befanden uns im Zimmer des Gastgebers der Hausparty. Ich kannte weder seinen Namen noch den Anlass der Party, ich existierte nur, gab mich einer Charakterveränderung hin und genoss es, mit den im Zimmer Anwesenden das Geheimnis des Drogenkonsums zu teilen. Der Dealer, der mir gegenüber in einem Schreibtischstuhl saß und unentwegt die Musik änderte, schloss die Tür ab, wenn er in seiner Hosentasche nach Kokain suchte. Auch er genoss es, derjenige zu sein, der diese Party am Leben erhielt, der in der Lage war, fünf Personen vom restlichen Treiben abgeschottet zu halten, allein deswegen, weil er harte Drogen bei sich hatte, die ihm womöglich noch Sex mit einer der Frauen bescherten, die ekstatisch in der Mitte des Raumes tanzten. Als kurzzeitig die Frauen das Zimmer verließen, weil sie im Keller, in dem harter Techno lief, tanzen wollten und die übrigen Männer ihnen blindlings folgten, ich mich aber nicht von der Stelle bewegte, belohnte der Dealer mich mit einer weiteren Line Koks und den Worten: „Dann ziehen wir uns noch eine, weil du der einzige bist, der denen nicht nachläuft.“
Oft hatte ich dieses Spiel schon gespielt. Ein Abend begann mit Bier und Schnaps, die Musik wurde lauter und aggressiver, der Körper lechzte nach Erholung oder Drogen, um dem Pegel, den ich mir angetrunken hatte, standzuhalten. Die Suche begann. Ob im Club oder während einer Hausparty, ich scannte die Umgebung mit geschultem Auge, um die Person ausfindig zu machen, die von einem unbändigen Kauen geplagt wurde, die schnell und gehetzt sprach und nie lange an einem Ort verweilte. Manchmal hatte ich Glück und ich traf auf jemanden, der es nicht erwarten konnte, einen Mitwisser zu rekrutieren, mit dem man sich auf die Toilette, in ein Badezimmer oder in eine dunkle Ecke eines Clubs oder einer Wohnung zurückziehen konnte, um dort gemeinsam die Schritte auszuführen, die schon Generationen drogensüchtiger Personen ausgeführt hatten. Die Wortwahl kennzeichnete die Art der Droge. Die Stimmen passten sich den Betäubungsmitteln an. Schon zu Schulzeiten konnte ich beobachten, dass die ersten Erfahrungen mit Alkohol auch immer davon begleitet wurden, dass man sich eine bestimmte Sprechweise aneignete, sich anders artikulierte und dass man versuchte, gegenüber Personen, die nicht mit einem zusammen diesen Zustand erreicht hatten, anders zu geben, als gegenüber denen, mit denen man Schnaps und Bier an verschiedenen Kiosks erstanden hatte. Genauso war es mit Gras und schnellen Drogen. Doch die Feierlichkeit, die einen umgab, wenn man weißes Pulver mit einer Kreditkarte auf einem Handy zermalmte, einen Schein zu einem Röhrchen drehte, ein Nasenloch zuhielt und die Substanz die Nase hochzog, war unerreicht.
Stunden später stolperte ich durch die verlassenen Straßen von Sülz. Es war ein Mittwoch, ein Feiertag. Niemand begegnete mir, als mich meine Beine wie ferngesteuert in Richtung meiner Wohnung trugen. Der ätzende Geschmack des Kokains hing immer noch in Nase und Mundraum fest, doch ich lächelte. Diese Art der Selbstzerstörung mochte ich. Ich konnte mich von oben sehen. Die Beine waren so müde und die Wirbelsäule so verspannt, dass nur die Bewegung nach vorne verhinderte, dass ich in die Knie sank und einfach an einer Straßenecke liegen blieb. Meine Haare überdeckten meine Augen, mein Hemd war zerknittert und die Augen hetzten unaufhörlich in den Höhlen hin und her. Dennoch kam es mir vor, als hätte ich etwas erreicht. Ein Krankenwagen, der mit lauter Sirene in Richtung der nahegelegenen Universitätsklinik raste, ließ mich an die jungen Rettungssanitäter denken. Sie hatten in dieser Nacht eine Aufgabe gehabt. Sie wurden gerufen, wenn jemand in einer Notlage war. Größer konnte die Bedeutung eines Menschen nicht werden. Doch, wie ich dem blauen Licht hinterher sah, mich Selbst verlierend und durch Drogen geschwächt gefiel ich mir als derjenige, der keine Bedeutung benötigte. Ein völlig wahnsinniger Gedanke, der aus den Untiefen meines Bewusstseins zu mir hervorstieg. Beinahe wie ein Herzinfarkt packte mich eine Erinnerung. Nicht lange zurückliegend war ich hier mit „der Frau“ entlanggegangen, eng umschlungen, Hand in Hand. Wir hatten an den unterschiedlichsten Stellen Halt gemacht, ich hatte sie an den Zaun eines Grundstücks gedrückt, hatte sie überall berühren wollen, hatte sie in den Nacken geküsst, während sich meine Hand in ihre Hose schob. Die Erregung eines Menschen zu erfühlen, konnte nicht beschrieben werden. Es war Ausdruck des Lebens schlechthin, wie ich meine Finger tun ließ, ohne dass ich irgendeinen Gedanken dabei fasste, ohne dass ich daran dachte, für Erregung zu sorgen, sondern nur wollte, ich wollte diese Frau. In dieser Umarmung versunken fuhren auf eben jener Straße mehrere Krankenwagen, gefolgt von einem Feuerwehrzug vorbei und wir lachten auf, weil wir so öffentlich übereinander herfielen.
Ich betrat ein Kiosk, das selbst an Feiertagen vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte, griff eine Limo aus dem Kühlregal und bezahlte, wobei es mir kaum gelang, verständliche Worte herauszubringen. Am liebsten hätte ich mir ein alkoholisches Getränk geholt, um die vorherige Erinnerung zu beerdigen, doch wusste ich, dass dies aussichtslos war, wenn selbst die Wirkung des Kokains zu schwach war, um den Nachhauseweg als solchen wahrzunehmen und nicht Gedanken daran zuzulassen, was ich einmal erlebt hatte auf dieser Straße, was ich einst für ein Mensch gewesen war. Ich fiel mit der Limo in der Hand in mein Bett, zog mich nicht aus, rastete nur. Der Aschenbecher sicher auf der Fensterbank in der Küche.