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Knurri
Knurri saß schon über eine Stunde im Wartezimmer, ehe er auf dem Tisch eine Zeitschrift erblickte, die ihn ansatzweise interessieren könnte. Er sah nur die Hälfte der Überschrift, weil ein Duzend andere Zeitschriften über dem Heft lagen, welches er sich anschauen wollte. Sein Spieltrieb verhinderte es, dass er einfach die darüber liegenden Hefte woanders hinlegte. Er musste sein Heft anfassen. Vorsichtig zog er. Der ganze Stapel bewegte sich langsam zur Tischkante. Er stoppte und schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete. Alle wartenden Patienten blickten auf ihr Handy, oder lasen in einer Zeitschrift – niemand beachtete ihn. Er fasste sein Heft fester an und bereitete sich auf den großen Ruck vor, der sein Heft unter den anderen herausziehen sollte. Die Muskeln spannten sich und dann bekamen sie den Befehl das Heft herauszuziehen. Genau in diesem Moment sah Knurri in den Augenwinkeln, wie eine hübsche Krankenschwester auf dem Weg ins Behandlungszimmer zu ihm rüber blickte. Sofort feuerten seine Neuronen die Stornierung des Ruckbefehls, aber der Arm hatte mit der Ausführung bereits begonnen. Die Rückrufaktion machte aus dem geplanten beherzten Ruck ein halbherziges Herausziehen des Heftes. Er hatte sein Heft in der Hand, doch der Stapel Zeitschriften hatte genug Schwung mitbekommen, um nun von der Tischkante zu kippen. Mit der anderen Hand versuchte er den fallenden Stapel aufzufangen. Doch diese war auf die plötzliche Rettungsmission nicht vorbereitet und traf die Zeitschriften in einem ungünstigen Winkel, so dass sie, wie bei einem Feuerwerk, in die Luft flogen. Eine Zeitschrift traf die neben ihm sitzende alte Dame am Kopf, die anderen Zeitschriften verteilten sich großflächig auf dem Fußboden.
Die Krankenschwester verschwand kichernd hinter der Tür.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals“, murmelte er reumütig der alten Dame zu. Dann fing er an die Zeitschriften wieder einzusammeln. Als er wieder saß, hatte das auserwählte Heft seinen Reiz verloren. Er legte es wieder zu den anderen und wartete einfach weiter.
„Herr Knust bitte!“, rief die Schwester am Empfang.
Knurri stand auf. „Das bin ich.“
„Hier entlang. Wir machen heute ein MRT?“
„Ja, genau.“
„Das Kniegelenk. Dann gehen Sie bitte links in die Kabine und machen das Knie frei.“
Er ging in die Kabine, zog seine Hose aus und wusste nicht genau, was er nun machen sollte. Warten, oder rausgehen? Er entschied sich für das Rausgehen und stand kurz darauf in Unterhosen vor der Kabine im Flur.
Die hübsche Krankenschwester kam aus dem Wartezimmer, musterte ihn im Vorbeigehen von oben bis unten und verschwand wieder kichernd hinter einer Tür.
Knurri ging zurück, setzte sich auf den Hocker in der Umkleidekabine und wartete.
„Herr Knust, hier entlang bitte“, klang es von irgendwoher.
Er ging in den Flur, öffnete die Tür auf der groß „M R T“ stand und trat ein. „Hierher?“ fragte er.
„Ja. Hier auf die Pritsche.“, entgegnete die hübsche Krankenschwester und zeigte auf die Liegefläche des MRT-Geräts. „Waren Sie schon mal beim MRT?“
„Ja.“
„Dann wissen Sie ja, dass Sie sich circa zehn Minuten nicht bewegen sollen. Legen Sie sich schon mal hin.“
„So?“ fragte Knurri, nachdem er sich hingelegt hatte.
„Ein bisschen mehr nach oben.“
Knurri wälzte sich wie ein Walross auf dem Rücken ein paar Zentimeter hoch.
„Okay, gut so.“ Sie gab ihm einen Knopf, der an einem langen Kabel hing. „Das ist der Notfallknopf“, erklärte sie. „Bitte Drücken Sie ihn, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist, wenn ihnen zum Beispiel übel wird.“
Er nahm den Knopf und nickt ihr zu: „Ist gut.“
„Fein. Dann geht’s in einem Moment los.“
Knurri konnte sehen, wie sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete, bevor sie ging. Hatte er einen Popel an der Nase, oder erinnerte sie sich nur an den Zwischenfall im Warteraum? Hoffentlich lugte kein Ei aus seiner Unterhose. Das war ihm früher mal beim Schulsport passiert, als er einhundert Meter lief. Damals rutsche immer das linke Ei aus der Sporthose, wenn er mit dem rechten Bein nach vorn rannte. Er verlor sich in seinen Gedanken und merkte dabei nicht, wie er den Notfallknopf am Kabel etwas herunter ließ und ihn wie ein Pendel zu schwingen begann.
Es ertönte ein kurzes Warnsignal und die Pritsche fuhr langsam in die Röhre des MRT ein. Jetzt bemerkte er, dass er mit dem Notfallknopf rumspielte und zog seinen Arm schreckhaft ein. Dabei bekam der Knopf so viel Schwung, dass er quer über seinen Körper hinweg auf die andere Seite der Pritsche fiel. Der Knopf verfing sich in der Unterkante der Pritsche, das Kabel legte sich um seinen Hals und zog sich langsam zu. „Vom Notfallknopf erwürgt“, dachte er noch, bevor er mit der anderen Hand den Knopf befreien konnte. Schnell nahm er - wie es sich gehört - den Notfallknopf in die Hand und presste sich auf die Pritsche. Die folgenden Minuten lag er verkrampft im MRT.
Mit einem freudigen „Alles in Ordnung?“ kam die Krankenschwester wieder herein und stutzte leicht, als sie sah, dass Knurri sich den Oberschenkel rieb.
„Ja, ja. Ich habe nur einen kleinen Krampf. Das ist alles“, erwiderte er.
„Soll ich Ihnen etwas geben?“
„Nein, das geht schon. Ist ja schon besser.“ Er stand auf und ging zur Tür. Das Zerren im Oberschenkel war wirklich erträglich. Er drehte sich noch einmal zu ihr um und sagte: „Danke.“
„Dafür sind wir ja da“, lächelte sie zurück.
Er verfehlte beim Türöffnen knapp den Papierkorb. Triumphierend hob er den Zeigefinger und murmelte: “Diesmal nicht!“ Trotzdem hörte er beim Türschließen ihr Kichern.
***
„Der Knopf bekam Schwung? Versteh ich irgendwie nicht“, murmelte Wotzki.
„Was verstehst Du daran denn nicht? Ich wollte das nicht zu technisch beschreiben. Ich hab den Knopf gependelt“, grummelte Knurri. Das Erlebnis mit dem Notfallknopf hatte er beiläufig erzählt, als er von der hübschen Krankenschwester berichtete. „Dann hab ich den Arm eingezogen, der Knopf hatte durch das Pendeln gerade Fahrt aufgenommen und bekam durch meine Armbewegung mehr Schwung, so dass er über die Pritsche auf die andere Seite fiel.“
„Ach so. Ich hatte gedacht das Kabel schwingt unter der Pritsche durch und wirst dann gewürgt. So hast Du es ja erzählt.“
„Ich hab das doch erlebt. Das Kabel flogt oben einmal rüber, verhakte sich auf der anderen Seite, und da die Pritsche sich bewegte, wurde es enger.“
„Und sie hat Deine Eier gesehen?“
„Was? Quatsch.“
„Aber …“
„Ach verpiss Dich doch. Dir erzähl ich noch mal was.“ Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier, stand auf und ging zur Toilette. Als er die Tür zuzog hörte er ein Kichern.