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Knoten
Halb Sieben. Morgens. Ein Wochentag. Knoten rührt sich. Wie immer zieht er es vor, die Entscheidung nicht mittels der Snooze-Taste auf die lange Bank zu schieben, sondern schwingt behände die Bettdecke über den Kopf, wobei er äußerst effizient den tösenden Wecker zu Fall bringt, dessen Batterie im weiteren Verlauf im Nirwana zwischen Bett und Wand verschwindet.
Ruhe.
Das ist es, was Knoten braucht.
Ein Meer der Stille.
Der selbe Raum, das selbe Bett, immer noch Knoten und immer noch Tag. Immerhin, denkt er, bevor Knoten der Absicht, das Bett zu verlassen, nun endlich Taten folgen lässt. Auf seiner Grauskala für Tagesformen scheint dieser einer zu sein, dessen Dunkelheit nicht ausreicht, ihn ans Bett zu fesseln.
Ganz im Gegenteil – ist das etwa Hunger, was er da spürt? Oder Durst? Diese beiden konnte er noch nie, weder in Drang noch in Lästigkeit, unterscheiden. War auch egal. Er würde wie immer etwas trinken, denn der Kühlschrank war leer, der Wasserhahn allerdings nicht.
Kaum aufgestanden übermannt ihn eine Müdigkeit, die ihn fast in die Knie zwingt. Vierzehn Schritte bis zum Wasserhahn. Heben, tragen, stellen. Schritt für Schritt.
Auf halber Strecke – Knoten hat schon fast vergessen, warum er überhaupt aufgestanden ist – klingelt das Telefon. So ein Mist. Niemand kann gehen und telefonieren gleichzeitig, denkt er sich und beschließt, seinen Weg in die Küche fortzusetzen, während der Anrufbeantworter der Welt vorgaukelt, er habe seine Wohnung verlassen.
Nachrichten nach dem Signal. Piep.
Knuti. Ich bin es, deine Mutter...
Knuti – wenn er einen Namen noch mehr hasst, als Knoten, dann ist es Knuti. Andererseits konnte man schon mit Knut, seinem eigentlichen Namen, keinen Preis gewinnen und so hatte er vor langer Zeit beschlossen, sich nicht mehr darüber aufzuregen, wie die Leute ihn riefen. Sollten sie doch alle zur Hölle fahren.
Trotz professioneller Gleichgültigkeit kommt er nicht umhin, zu hören, wie seine Mutter ihm mitteilt, dass Opas achtzigster Geburtstag bevorsteht und man fest mit seiner Anwesenheit rechne.
Knoten muss sich an der Garderobe abstützen, als all die Aktivitäten, die dieser Termin mit sich bringen wird, vor seinem geistigen Auge erscheinen.
Schnell versucht er sich an das letzte Treffen mit seinem Großvater zu erinnern und ob da nicht irgendwelche Lungengeräusche oder zumindest Flecken auf der Haut waren, irgendwas, dass seine Hoffnung, der Geburtstag könne doch noch ausfallen nähren könnte, nur um direkt darauf die Erkenntnis zu erlangen, dass sein Opa ihn sehr wahrscheinlich überleben könnte. Verdammte Kriegsgeneration. Zähe Hunde.
Kurz überlegt er, ob man sich an einem Wasserhahn ertränken kann, bevor er beginnt, eine lange Liste mit Vorbereitungen zu erstellen.
Aufstehen, Anziehen, vorher Duschen, Frisör, Geschenk, Bahnticket, Wäsche waschen… - es würde zwei Leben brauchen, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Was zuerst?
Bisschen früher oder später, wen interessiert es, nur ein paar Kilometer weiter.
Clara steckt gerade mitten in den Vorbereitungen ihrer Demonstration gegen irgendetwas Gefährdendes.
Irgendwann zwischen dem enttäuschten Abbruch ihres Studiums der Wirtschaftssoziologie und ihrer dreimonatigen Auszeit in einem kleinen Ashram in Indien hatte Clara den Tatsachen ins Auge geblickt und ihr Schicksal angenommen, die Welt zu retten.
Oh ja, Clara ist ein Gefühlsmensch. Seit sie sich ihres Zieles bewusst ist, nutzt sie ihr kaum vorhandenes künstlerisches Talent für die leidenschaftliche Gestaltung ihrer Handzettel mit denen sie ehedem ein besseres Morgen propagiert. Die Sonnenstrahlen kitzeln auf ihrer Hand, als sie den finalen Entwurf für die kommende Kundgebung andächtig an die Pinnwand heftet.
Keine Macht den Mächtigen steht da in handschriftlichem Comic Sans MS über einer vermeintlich detailreichen Darstellung des ewigen Kampfes zwischen Wir und Ich.
Noch während des ersten Klingelns greift Clara nach dem Telefon und trällert ihr gewohnt offenherziges Hallo in den Hörer. Kurz huscht ein Hauch von Enttäuschung über ihr Gesicht, als sie Herrn Bellgart, Redakteur der Westdeutschen Rundschau, seine Einladung für Donnerstag absagen hört.
Immerhin ist er so nett, Bescheid zu sagen denkt sie sich, während ein wirklich nicht völlig gespieltes Lächeln das kaum hörbare Knirschen ihrer Backenzähne verstummen lässt.
Erstmal hinsetzen entscheidet Knoten. Wie er diese Position liebte. Völlig frei von der Lethargie des Liegens und dem übertriebenen Eifer des sich Bewegens konnte man unbegrenzte Zeit sitzend verbringen, ohne auch nur den geringsten Zweifel zu erwecken, man wäre nicht gerade dabei, sein Leben zu leben.
Nach langer Überlegung ist er sich ziemlich sicher, dass besagter Geburtstag bereits Donnerstag stattfinden wird. Ihm bleiben also nur fünf, maximal sechs Tage. Ein Wimpernschlag. Trottel, entfährt es ihm, als er nach seinem Tablet greift, das ihm selbst im Ruhezustand Tag und Uhrzeit entgegen brüllt und ihm so die kostbaren Minuten vor Augen führt, die er für die ungefähre Eingrenzung des Datums verschwendet hat. Fünf Tage. Er hasst Stress.
Flugs gönnt er sich ein Erste Klasse Ticket für Mittwoch Abend – wenn schon bewegen, dann gemütlich. Das hätte er schon mal. Nächster Punkt, Geschenk – hier ruht seine ganze Hoffnung auf Superelli, seiner Schwester Elisabeth. Der eine Mensch, dessen Gegenwart ihm schon immer eher Freude als Kopfschmerzen bereitet. Elli, die in ihrer scheinbar unbegrenzten Güte selbst auf dem größten Arsch das kleine Rosentattoo zu finden vermochte. Sie würde sicherlich schon längst ein passendes und sogar, wie sagte man noch, liebevolles Geschenk besorgt haben, an dem er sich wie immer auf den letzten Drücker würde beteiligen können. Wenn es um Elli geht, fällt es ihm nicht einmal schwer, zum verhassten Hörer zu greifen was er nun tut und die einzige Kurzwahltaste, die er je programmiert hat, drückt.
„Bruderherz, schön dass du anrufst. Pass auf, ich hab für den Alten so eine Nachbildung des Feuerwehrautos besorgt, auf dem er die letzten 20 Jahre gefahren ist. Das konnte man sogar mit Freiwillige Feuerwehr Heimbach beschriften lassen und auf dem Nummernschild steht O - PA 80. Da freut er sich bestimmt drüber. War nicht ganz billig aber mit dreißig Euro bist du dabei.
Wenn du magst, komm gerne schon Mittwoch, dann kannst du bei uns übernachten, und wir können uns seelisch auf den großen Tag vorbereiten. Sonst noch was?“
„...nein.Danke, Schwesterherz. Ich...“
„Ach, weiß ich doch. Ich dich auch. Bis Mittwoch also.“
Und das war schon alles. Wenn er könnte, würde er lächeln.
Irgendwie bewegt er sich jedes Mal etwas schneller, wenn er mit seiner Schwester telefoniert hat und so vergeht deutlich weniger Zeit als sonst, bis er sich im Schlafzimmer erwischt, wie er die wenigen noch gewaschenen Klamotten auf Seniorengeburtstagstauglichkeit überprüft. Glücklicherweise bleiben die in Frage kommenden Stücke unter normalen Umständen besonders lange im Schrank und so stellt er erleichtert fest, dass er sich bei sparsamen Gebrauch von Socken und Unterwäsche sogar ohne zu Waschen bis nach dem Geburtstag würde durchschlagen können. Offensichtlich hat er einen Lauf.
Dann eben wieder ohne Presse, denkt Clara. Man muss auch Rückschläge verkraften. Sie wird einfach versuchen, die mangelnde mediale Präsenz durch um so eifrigere Berichterstattung über die ihr zur Verfügung stehenden sozialen Netzwerke bestmöglich zu kompensieren. Schnell geht sie noch einmal die Liste der garantierten Zusagen durch. Dreiundsechzig. Das könnte sie durch geschickte Aufnahmen leicht wie das doppelte aussehen lassen. Sie merkt, wie ihr Antrieb zurück kommt. Seit einem Jahr ist sie aktiv, lässt ihren Theorien so gut sie kann auch Praxis folgen und da kann man schon stolz drauf sein. Erst recht, wenn man noch dreiundsechzig andere Menschen dazu bewegen kann, seine Überzeugung zu teilen. Wie klein ist noch klein und ab wann wird klein groß? Egal, sie ist entschlossen und das ist alles, was zählt. Ihre Handyerinnerung lässt sie wissen, dass nun die Sparpreise der Bahn für den gewünschten Tag aktiviert sein sollten und so setzt sie sich an ihren alten Desktop-PC, dessen alter Röhrenmonitor das untere Drittel der Homepage gewohnt verzerrt darstellt.
Da sie sich sehr sicher ist, dass die Bahn immer noch weder Champagner noch Kaviar während der Fahrten reicht, kann sie über die ihr angebotenen „Sparpreise“ nur ungläubig den Kopf schütteln. Sie würde am Mittwoch Abend fahren müssen, wenn sie nicht ihr restliches Wochenbudget für die Anreise ausgeben wollte.
Na gut, das würde wieder mal eine schlaflose Nacht in einer fremden Stadt bedeuten, bevor der große Tag los ginge. Doch nach schlafen ist ihr vor solchen Tagen eh nie zu Mute, dafür elektrisiert sie so ein Ereignis viel zu sehr. Sie nennt das Clara-Moment. Die Zeit, wo sie sich sicher ist, alles notwendige bedacht zu haben, das richtige Ziel ausgewählt zu haben, alle Formalitäten erledigt, alle Leute eingeladen, alle Plakate vorbereitet zu haben. Der Moment, wo sie ganz kurz davor steht, das Reich der Fantasie zu verlassen ist es, wo ihre Idee am allerschönsten glänzt und Clara mit einer Wärme erfüllt, die sie jede noch so große Enttäuschung die ihr nach der Transformation von Theorie zu Praxis beschert werden wird verkraften lässt. Immer wieder.
Mittwoch. An sich nicht so schlimm, wenn da nur diese Reise nicht wäre.
Knoten zieht ein weiteres mal an der Tüte und fühlt in sich hinein, ob er nun ein ausreichendes Maß an Dumpfheit verspürt, um es mit der Welt da draußen aufnehmen zu können. Einen noch zur Sicherheit, dann kann es los gehen. Eigentlich raucht er das Zeug nicht mehr, doch in Ausnahmesituationen wie dieser ist es für ihn unerlässlich, sich in eine möglichst dicke Schicht Watte zu packen – er muss raus. Kurzer Blick in den Spiegel, schneller Griff zur Sonnenbrille und weg ist er. Wie immer fragt er sich, warum er noch in der City wohnt, als der quietschende Puls der Stadt auf seine Watteschicht einhämmert. Wieso ist denn nie ein Taxi da, wenn man eins braucht? Er wird die Bahn nehmen müssen, um zum Zug zu gelangen. Was für eine durchbeschleunigte Absurdität das Leben doch ist.
Er zwängt sich durch den Mief geschäftigen Treibens in die hinterste Ecke des Abteils, wo er einen Sitzplatz ergattert und, nicht wissend, in welche Richtung er wegschauen soll, die Augen schließt. Auf einer der nächsten Evolutionsstufen, da ist sich Knoten sicher, wird der Menschliche Organismus Mechanismen entwickeln, sämtliche Sinnesorgane bei Bedarf zu verschließen. Der Homo transportus publicus.
Auf Grund mangelnder Ausrüstung und immer noch vorherrschendem Konsens, dass man so etwas nicht tut, schießt sich Knoten den Weg durch den Moloch Bahnhof nicht einfach frei sondern plustert seine an sich so eingesackten einhundertneunzig Zentimeter Körpergröße bis zum Bersten auf und marschiert schnurstracks und mit verdächtig finsterer Miene durch die wabernde Masse Nutzvieh Richtung Bahngleis. Ihm ist schwindelig.
Der Zug. Endlich. Natürlich sind die Waggons der ersten Klasse ganz am anderen Ende des Bahnsteigs. It´s a long way to the top...
Mit letzter Kraft erreicht er seinen Sitzplatz. Es scheint ihm eine Ewigkeit, bis Puls, Pupillenflackern und Anspannung sich auf ein erträgliches Maß eingependelt haben. Er schaut aus dem Fenster und kann jetzt fast über das geräuschfreie und geruchsbefreite Ballett schmunzeln, das ihn eben noch an die Grenzen des Machbaren gebracht hatte.
Geschafft.
Ein junger Typ, der Frisur nach Pofifussballer, drängt sich in der Miniaturausgabe einer Hose dicht an Knoten vorbei. Kopfhörer, groß wie Salatschüsseln komplettieren die metronomartige Erscheinung seines neuen Sitznachbarn. Taktgefühl jedoch braucht man hier nicht zu erwarten und so schaudert es Knoten, als sein Gegenüber die dürren Spinnenbeinchen links und rechts von ihm platziert, während die wahrscheinlich im Takt wippenden Füße Knoten die Gänsehaut von den Waden zu raspeln versuchen. Er muss hier weg. Schnell.
Impulsiver als geplant, will er gerade die Flucht ergreifen, als er das überladene Hippiemädchen ins Abteil stolpern sieht. Vollgepackt mit Transparenten auf denen über einer Art Zeichnung oder sowas „Keine Macht den Mächtigen“ steht, poltert und kracht sie verloren über den Mittelgang.
Er hat eine Idee.
Im Nachhinein nicht ganz nachvollziehbar, geht er auf die Durchgeknallte zu, während er sie überschwänglich grüßt.
„Kannst du dich bitte zu uns setzen? Ich drehe sonst durch“, ist alles was er dann hervorbringt obwohl er das so bestimmt nicht hatte sagen wollen.
In diesem Moment ist er sich noch nicht bewusst, was für weitreichende Folgen sein Tun haben wird. In diesem Moment genießt er nur den Augenblick, als er den Salatschüsseltypen ob der nahenden Zuladung fluchtartig Reißaus nehmen sieht. Dem hatte er es gezeigt.
„Ich bin Clara“ sagt sie, während sie ihre Fracht auf den verbleibenden zwei freien Plätzen neben ihnen verteilt und somit jede Gefahr weiterer Katastrophen zunichte macht.
„Knoten“, brummelt er und schließt zufrieden die Augen.