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Knalleffekte
Kawumm! Die Explosion traf mich völlig unvorbereitet. Blitzschnell warf ich mich nach Deckung suchend unter einen der Biertische. Meine Hand landete dabei direkt in einer angebissenen Bratwurst mit Senf. Angeekelt wischte ich den Senf am braunen niedergetrampelten Rasen ab und sah mich um. Ich musste feststellen, dass ich der Einzige war, der sich in Bodenlage befand. Niemand war in Panik geraten. Ganz im Gegenteil, ich vernahm ein belustigtes Gemurmel, das sich um mich herum auszubreiten schien. Und jetzt spürte ich sie auch, die zahlreichen Augenpaare, die auf mich gerichtet waren. Was war hier los? Geistesgegenwärtig tat ich so, als würde ich nach etwas suchen. Nach einer Weile gaukelte ich den Schaulustigen vor, ich hätte es gefunden und kroch aus meinem Versteck. Ich setzte mich auf eine Bierbank und versuchte mich etwas zu beruhigen. Dabei schickte ich meine Augen auf die Suche nach der Quelle für den Krach.
Mein Blick blieb an einem grinsenden, grauen, beinahe zahnlosen Gesicht hängen. Dieses gehörte zu einem in Tarnfleck gekleideten Mann, der vor dem offenen Festzelt stand. Beim näheren Hinsehen fiel mir auf, dass dieser etwas in der Hand hielt. Es war eine Schnur, die bis zu einer kleinen Kanone führte, die sich in etwa fünf Metern Entfernung von ihm befand.
Ein in Tracht gekleideter Einheimischer, der ganz entspannt neben mir auf der Bierbank saß, erklärte mir, dass es sich um einen Standböller handelt. „Ich bin der Enno.“, sagte er. „Bin hier der Vorsitzende des Schützenvereins.“ Dabei hielt er mir sein Bier entgegen. „Ich bin Alexander.“, sagte ich. „ Alexander der Große!“, fügte ich mit einem Lächeln hinzu. Zum Beweis erhob ich mich und blickte aus zwei Metern Höhe auf ihn herab. Dann nahm ich mein Glas, stieß mit ihm an und leerte es in einem Zug. Ich verabschiedete mich kurz von meinem dickbäuchigen neuen Freund und machte mich auf den Weg zum Tresen, um mir Nachschub zu holen.
Ein tätowierter Glatzkopf im Metallica-T-Shirt, der heute der Herr über den Zapfhahn zu sein schien, erwartete mich bereits mit einem neuen Bier. Ich zahlte und setzte das Glas an meine Lippen. Im selben Moment ließ das Ein-Mann-Sprengkommando vor dem Zelt seinen Böller erneut erklingen. Der Schreck fuhr mir so sehr in die Glieder, dass ich mir die Hälfte meines eben erworbenen Getränks über mein T-Shirt schüttete. Ich schaute zum Metallica-Fan rüber, leerte mein halbvolles Glas und bestellte gleich das nächste. „Ist ja wie im Krieg hier bei euch.“, rief ich ihm entgegen. Er machte jedoch sein düsterstes James-Hetfield-Gesicht und meinte nur, „Macht zwei fuffzig!“
Da ich kein Kleingeld mehr besaß, reichte ich ihm einen Hunderter über die Theke, woraufhin er ohne ein Wort zu sagen durch die Zeltwand verschwand. Die Minuten vergingen, doch von James, wie ich ihn bereits getauft hatte, war keine Spur. Langsam wurde ich unruhig. Gerade in dem Moment, als ich beschlossen hatte, die gelangweilt in der Ecke stehenden, muskelbepackten Jungs von der Security einzuschalten, wurde die Zeltplane umgeschlagen und James erschien wieder hinter der Theke. Wortlos schob er mir drei Münzrollen über den Tisch sowie ein weiteres 2-Euro-Stück und ein 50-Cent-Stück. „Siebenundneunzig Fuffzig!“, sagte er und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Völlig verdutzt sah ich auf die gerollten Münzen vor mir. Es lag je eine Rolle mit 2-Euro, 1-Euro und 50-Cent Münzen in einer Bierlache auf der Theke. Dazu noch die Zwei fünfzig. Das machte tatsächlich insgesamt Siebenundneunzig Euro und fünfzig Cent. Ich funkelte James wütend an, „Hey, du Witzbold! Haste auch noch einen Geldsack für mich, damit ich die ganzen Gold- und Silbermünzen in meinen Geldspeicher bringen kann?“
Er ignorierte mich einfach und ich beschloss, das Geld zu nehmen und mir von James nicht den Abend verderben zu lassen. Ich stopfte es in meine Hosentasche und war froh, dass ich mich am frühen Abend dazu entschlossen hatte, einen Gürtel zu tragen. Denn ich stellte fest, dass dieser das zusätzliche Gewicht des Geldschatzes problemlos auffing. Anschließend machte ich mich auf den Weg zurück zu meinem Tisch. Dabei sah ich mich im Zelt um, denn ich hatte beschlossen, den zahnlosen Knallfrosch den restlichen Abend nicht mehr aus den Augen zu lassen. Bei der nächsten Explosion würde ich vorbereitet sein.
Als ich an meinem Platz angekommen war, musste ich feststellen, dass sich mein feister Schützenbruder in eine gutaussehende Blondine im blauweißen prall gefüllten Dirndl verwandelt hatte. Der Abend schien sich nun doch noch zum Guten zu wandeln, dachte ich so bei mir, und nahm neben ihr Platz. Sogleich entwickelten meine Augen ein sonderbares Eigenleben indem sie erstmal einen prüfenden Blick auf das üppige Dekolleté zu meiner Rechten warfen. 80D! Schoss es mir durch den Kopf, obwohl ich beim Einschätzen weiblicher Oberweiten nun wahrlich kein Experte war. Ich hatte wohl den Moment verpasst, in dem aus einem prüfenden Blick zur allgemeinen Einschätzung der Lage ein erbärmliches Gaffen wurde. „Willste vielleicht noch ein Foto von den Beiden machen?“ Erschrocken lösten sich meine Augen von den drallen Rundungen und sahen etwas weiter oben in das wütende Gesicht meiner Banknachbarin. „Wenn es dir keine Umstände macht?“, konterte ich mit einem Grinsen. Entrüstet drehte sie sich um und zeigte mir die kalte Schulter. Natürlich achtete sie darauf, dass mir der gute Ausblick verwehrt blieb.
Versteh einer die Frauen, dachte ich so bei mir. Erst schnüren sie sich ein um ihre Reize in besonderer Weise hervorzuheben, und wenn man dann einen gut gemeinten Blick, voller Wertschätzung für die Mühe die sie sich gemacht haben, auf ihre körperlichen Vorzüge wirft, sind sie beleidigt.
Ich nahm einen kräftigen Schluck aus meinem Glas und versuchte mich neu zu orientieren. Auf der Bühne, im vorderen Bereich des Festzelts, hatte jetzt die Bürgermeisterin das Wort übernommen. Neben ihr war ein Holzfass aufgebaut und man konnte erahnen, dass gleich der Höhepunkt des Abends, der feierliche Bieranstich, folgen würde. Sie bedankte sich bei den vielen Helfern, die das Fest erst möglich machten. Anschließend begrüßte Sie die örtliche Prominenz. Das übliche nerv tötende Prozedere. „Und ganz besonders freue ich mich, dass heute Abend unsere Landtagsabgeordnete Gundula Krause erschienen ist. Liebste Gundula, darf ich dich bitten, mir beim Bieranstich behilflich zu sein?“ Bei diesen Worten kam Bewegung in das beleidigte Busenwunder neben mir. Unter dem Applaus der hauptsächlich männlichen Gäste suchte sie zielstrebig ihren Weg auf die Bühne. Fassungslos schaute ich ihr nach. Eine Politikerin, moralisches Vorbild für uns Alle, ging mit Bier und Busen auf Stimmenfang. Sie appellierte einfach an die niederen Instinkte des Mannes. Und ich war mir sicher, es wird funktionieren. Diese Frau wird wiedergewählt.
Angewidert stand ich auf und wandte mich von dem Schauspiel auf der Bühne ab. Ich verließ das Zelt und trat aus dem Bierdunst hinaus in die warme Abendluft. Nur wenige Meter vor mir wurde bereits das nächste Knallbonbon des Abends vom Sprengmeister vorbereitet. Dahinter begann ein kleiner Rummel mit einer Handvoll Fahrgeschäften, einer Losbude und zahlreichen Ständen, an denen kulinarische Leckerbissen angeboten wurden. Es herrschte das übliche Durcheinander an bunten Lichtern. Das Sirenengeheul des Autoskooters und die unterschiedlichen Klänge der Karussells sorgten für einen Geräuschpegel, der mir Kopfschmerzen bereitete.
Doch plötzlich war da diese Melodie. Zwischen all dem Lärm hindurch fand sie den Weg in meinen Kopf und umschmeichelte meine Sinne. Woher kamen diese lieblichen Klänge, die so gar nicht zur übrigen Geräuschkulisse passten. Ich musste es herausfinden. Und so lief ich los. Vorbei an den blinkenden Karussells, dem ohrenbetäubenden Autoskooter und den nach Frittierfett stinkenden Fressbuden. Ich ließ sie alle hinter mir und trat in die Dunkelheit der restlichen Welt. Da waren keine bunten Lichter mehr, die mich blendeten. Der Lärm war auf ein Wispern zusammengeschrumpft. Da waren nur noch ich und diese Melodie. Sie schien von einem abseits stehenden, kleinen Verkaufsstand zu kommen.
Langsam näherte ich mich der in sämtlichen Regenbogenfarben erstrahlenden Hütte. Auf dem Dach erkannte ich eine üppige Blumenpracht die gen Himmel wuchs. Es war ein Anblick der mein Herz berührte. Und dann sah ich sie. Sie saß im Schaukelstuhl und ihr offenes dunkelbraunes Haar lag auf ihren Schultern. Ihre vollen Lippen umschlossen das Mundstück und geradezu grazil tanzten ihre Finger über die Flöte. Die Augen waren geschlossen. Sie schien tief versunken in der Welt ihrer Töne. Für einige Sekunden war ich gefangen von der Schönheit, die sich mir darbot. Dann verstummte die Flöte und sie blickte mich aus strahlenden Augen an.
„Hallo, ich habe dich gar nicht bemerkt.“, sagte sie lächelnd zu mir. Sie besaß eines dieser Lächeln, das einen innerhalb eines Augenblicks verliebt machen konnte. Bei dem man nicht mehr sicher war, ist das jetzt Traum oder Wirklichkeit.
„Tritt ruhig näher, ich beiße nicht!“, sagte sie freundlich. Etwas verlegen trat ich die zwei Schritte nach vorn an den Verkaufstisch. „Du scheinst nicht viel zu reden. Möchtest du etwas kaufen?“, hielt sie das Gespräch am Leben. „Ähh, ich weiß nicht.“, erwiderte ich unsicher. „Wieso weißt du das nicht? Du gehst den ganzen weiten Weg bis zu meinem kleinen Stand und weißt nicht warum?“, fragte sie belustigt.
„Es war deine Musik, die mich hierher geführt hat. Ich musste einfach wissen, woher diese Klänge kamen, die so sehr mein Herz berührt haben.“
Hatte ich das wirklich gesagt? Ich, der eigentlich nie über seine Gefühle sprach. Ich merkte, wie das Blut in meinen Schläfen pochte und Panik in mir aufstieg. Mein Kopf musste aussehen, wie eine hochreife Tomate. Doch sie lächelte mich noch immer freundlich an. „Was ist deine Lieblingsblume?“
Erstaunt antwortete ich, dass ich Sonnenblumen sehr gern mochte, da sie Helligkeit und Freundlichkeit ausstrahlten.
„Kommt sofort“, sagte sie, drehte sich um und begann. Ja, womit begann sie eigentlich? Ich konnte es nicht erkennen, ihr Körper verdeckte mir die Sicht. Nach wenigen Minuten, in denen wir kein Wort sprachen, in denen sie vollkommen konzentriert schien, wandte sie sich mir wieder zu und überreichte mir mit strahlenden Augen eine Sonnenblume.
„Danke! Die ist wirklich wunderschön.“, sagte ich.
„Und das Beste ist, sie schmeckt auch hervorragend! Probier mal.“
Vorsichtig nahm ich einen Bissen von den gelben Blütenblättern. Ein intensiver Vanillegeschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. „Mmh, lecker. Was ist das?“, fragte ich.
„Eine Sonnenblume aus Zuckerwatte mit feinster Bourbon Vanille.“ Aus ihren Worten hörte man den Stolz auf ihr Produkt heraus. „Wie kann man aus Zuckerwatte ein so detailgetreues Kunstwerk erschaffen?“, fragte ich neugierig. „Du musst mir nachsehen, dass ich dir das nicht verraten kann. Das bleibt mein Geschäftsgeheimnis.“
Diese Antwort hatte ich erwartet. „Aber wieso machst du das?“, ließ ich nicht locker.
„Das ist ganz einfach.“, antwortete Sie, „Es macht mich glücklich. Es ist meine Art mich auszudrücken, der Welt zu zeigen, wer ich bin. Die Menschen kommen zu mir aus ihren fantasielosen und festgezurrten Leben, und beim Genuss meiner Blumen breitet sich zumeist ein Lächeln auf ihren Gesichtern aus, das mir verrät, sie erinnern sich. An eine Zeit in der sie noch frei und voll verrückter Ideen und Träume waren. Es macht mich glücklich diesen kurzen Moment der Freude in ihren Gesichtern zu beobachten.“ Was für eine wundervolle Antwort, dachte ich.
„Das finde ich wirklich bewundernswert. Es gibt zwar Viele, die eine Ahnung davon haben, was sie glücklich machen könnte, aber die Wenigsten trauen sich, dieser auch nachzugehen. Danach zu leben. Und irgendwann resignieren sie, haben sich abgefunden mit einem Leben voller Zwänge, Eintönigkeit und ständiger Wiederholung und vergessen wovon sie einstmals träumten.“
„Was ist mit dir?“, fragte sie neugierig.
„Was soll mit mir sein?“, reagierte ich etwas mürrisch, denn ich redete zurzeit ungern über mich.
“Worin findest du Erfüllung? Was treibt dich an?“
Etwas ausweichend antwortete ich, „Mein Herz treibt mich an, so wie jeden Menschen. Ich hatte nur zwischenzeitlich versäumt auf es zu hören.“
Sie schien zu spüren, dass ich noch nicht bereit war mehr von mir preiszugeben und wechselte das Thema. „Du bist nicht von hier, oder?“, fragte sie.
„Nein ich bin nur auf der Durchreise. Morgen früh packe ich meine Sachen zusammen und ziehe weiter.“
„Und wohin geht die Reise?“
„Ich habe es aufgegeben Pläne zu machen und lass mich einfach mal eine Weile treiben.“
„Ich muss morgen auch schon wieder weiter. Das nächste Fest wartete auf mich.“, sagte sie. „Hast du nicht Lust, dich mir anzuschließen?“, fragte sie klar und ohne Zögern in der Stimme. „Ich komme viel rum. Bin jede Woche an einem anderen Ort. Und ich mag deine Gesellschaft.“, sagte sie lächelnd. „Außerdem könntest du mir beim Auf- und Abbau meiner Hütte behilflich sein.“, schmeichelt sie nun auch noch meinem männlichen Helferinstinkt.
Aber das war gar nicht mehr nötig. Ich hatte mich bereits entschieden. Sie war etwas Besonderes. Und ich spürte, dass mir ihre Nähe gut tun würde. Also willigte ich ein. Sie freute sich augenscheinlich genauso sehr darüber wie ich.
„Dann sind wir jetzt sozusagen Weggefährten.“, stellte ich fest. „Wann beginnt denn unsere gemeinsame Reise?“
„Wir haben keine Eile. Komm morgen, wenn du ausgeschlafen hast, hierher. Dann packen wir in Ruhe zusammen und machen uns auf den Weg. In vier Tagen müssen wir am Meer sein um dort wieder ein paar Menschen glücklich zu machen.“, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.
Für heute verabschiedeten wir uns und wünschten uns gegenseitig eine gute Nacht. Anschließend ging ich gedankenversunken und mit einem Lächeln auf den Lippen zurück zum Zeltplatz. Ich freute mich auf das Rauschen des Meeres und vor allem auf die gemeinsame Zeit mit ihr. Dabei fiel mir ein, dass ich noch nicht mal ihren Namen kannte.
Als ich bereits in meinem Schlafsack lag und zufrieden vor mich hin dämmerte, hörte ich ihn noch einmal. Ganz leise nur. Irgendwo in der Ferne hatte er noch einmal seinen Böller erklingen lassen. Und ich wusste nun, es war das, was ihn glücklich machte.