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Klinik der Angst
Als Claire die Augen öffnete, brannte ihre Haut wie Feuer. Ihre Glieder juckten, als hätte eine Kolonie roter Ameisen sie gebissen und ihr Gift in die Wunden gespritzt. Sie biss die Zähne zusammen, versuchte, die Qual irgendwie aushalten. Sie trug weiße Kluft und lag in einem Bett, an Schläuchen und Apparaten angeschlossen. Ihre Hände und Beine waren in dicke Verbände eingepackt. Die Fenster des Einzelzimmers waren vergittert, Jalousien schirmten das Sonnenlicht ab. Die Tür war geschlossen. Sie roch Desinfektionsmittel und rümpfte die Nase. Es bestand kein Zweifel. Es stank nach Krankenhaus.
Allmählich kamen ihre Erinnerungen zurück. Die gewaltige Stichflamme. Das Feuer. Der Rauch.
Sie hatte in der Küche von Chick-fil-A gearbeitet, als auf einmal heißes Fett in einer Pfanne Feuer gefangen hatte. Der Löschversuch mit Wasser war gescheitert. Schnell hatten die Flammen um sich gegriffen. Claire hatte noch mitbekommen, dass die Sanitäter sie auf eine Trage gelegt und einen Rettungshubschrauber angefordert hatten. Dann war ihr schwarz vor Augen geworden.
Die Tür wurde geöffnet und das Licht eingeschaltet. Eine etwas in die Jahre gekommene Krankenschwester mit grauem Haar und bleichem Gesicht trat ans Bett. Von ihrer Nase zum Kinn zogen sich tiefe Falten.
»Ah, Sie sind aufgewacht. Guten Morgen, Claire. Ich bin Schwester Judy.«
»Was ist mit mir passiert?«
»Sie haben schwere Verbrennungen erlitten.« Schwester Judy überprüfte die medizinischen Geräte. »Wir mussten Sie in ein künstliches Koma versetzen.«
»Meine Haut ... Sie fühlt sich immer noch an, als würde sie brennen.«
»Sie bekommen nachher Morphium.«
»Seit wann bin ich hier?«
»Seit ein paar Tagen.«
»Wie lange muss ich im Krankenhaus bleiben?«
»Die Frage stellen Sie am besten den Arzt.«
»Bei dem Brand ist doch hoffentlich niemand ums Leben gekommen.«
Schwester Judy schüttelte den Kopf.
»Meine Eltern. Wann kommen sie mich besuchen?«
»Ich fürchte, das ist nicht möglich.«
»Aber ...« Claire war verwirrt. »Wieso nicht?«
»Wir dulden keine Besucher.«
»Wie bitte? Mom und Dad machen sich bestimmt große Sorgen um mich! Ich muss telefonieren! Wo ist mein Handy?«
»Mobiltelefone sind auf den Stationen verboten«, sagte Schwester Judy streng. »Die Strahlung stört die medizinischen Geräte.«
»Das ist doch lächerlich!«, erwiderte Claire. »Als meine Freundin Jessica letztes Jahr im Krankenhaus lag, haben wir ständig SMS geschrieben, ohne dass die Geräte verrückt spielten. Wenn Sie mir den Kontakt zu meinen Eltern verbieten, beschwere ich mich bei der Klinikleitung über Sie!«
Schwester Judy runzelte die Stirn. »In Ihrem Zustand? Sie kommen ja nicht mal allein aus dem Bett!« Sie verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Das Schloss klickte. Claire traute ihren Ohren nicht. Schwester Judy hatte sie eingesperrt.
»Hallo. Ich bin Dr. Stevenson.«
Verschlafen blinzelte Claire ins Halbdunkel. Vor ihr stand ein Arzt in weißem Kittel. Der Typ sieht verdammt jung aus, dachte sie. Er konnte kaum älter als ihre Kommilitoninnen sein. Hoffentlich hat er mich nicht operiert.
»Wie geht es Ihnen, Claire?«
»Fragen Sie das ernsthaft? Sie sehen doch, wie furchtbar entstellt mein Gesicht ist! Wahrscheinlich würde selbst Frankenstein bei meinem Anblick davonlaufen. Gut, dass kein Spiegel hier ist. Außerdem hat man mich eingesperrt. Ansonsten – blendend!«
»Wenigstens haben Sie Ihren Sinn für Humor behalten.«
»Wo bin ich? Das Gebäude sieht nicht aus wie das städtische Krankenhaus.«
»Im GBRC. Dem Georgia Burn Resarch Center. Eine Spezialklinik für Verbrennungsopfer.«
Claire runzelte die Stirn. »Wieso wurde ich nicht ins South Georgia Medical Center gebracht?«
»Die Ärzte dort hätten Ihnen nicht helfen können.« Nach einem kurzen Zögern fügte Dr. Stevenson hinzu: »Ihre OP war eine große Herausforderung. Es kann sein, dass wir Sie noch mal operieren müssen, um Haut zu verpflanzen.«
Claire senkte missmutig den Kopf. So hatte sie sich den Sommer nicht vorgestellt. Den für Juli geplanten Ausflug mit Jessica nach Florida ins Universal Orlando Resort konnte sie knicken. Sie würde ihr Studium wohl um ein Semester verlängern müssen.
»Kopf hoch, Claire. Hauptsache, Sie werden wieder gesund. Sie sind bei uns in besten Händen. Schwester Judy haben Sie ja schon kennengelernt. Sie sorgt für Sie.«
Claire konnte die Alte schon jetzt nicht leiden.
»Wieso darf mich niemand besuchen?«
»So sind nun mal die Vorschriften.«
»Die Vorschriften sind Schwachsinn!«
»Vielleicht. Aber ich kann sie nun mal nicht ändern.«
Der tägliche Verbandswechsel war die Hölle. Allein das qualvolle Abziehen der alten Verbände dauerte Stunden. Claire fühlte sich wie lebendig gehäutet. Obwohl sie tapfer die Zähne zusammenbiss, schossen ihr die Tränen in die Augen. Hinterher war sie völlig erschöpft. Am liebsten wollte sie einschlafen, alles um sich herum vergessen. Doch es fiel ihr schwer. Stundenlang lag sie wach, ohne ein Auge zuzudrücken. Wenn sie Schlaf fand, suchten Albträume sie heim.
Sie war in einem brennenden Haus, umzingelt von Flammen. Beißender Qualm umgab sie. Ein Balken stürzte herab und Claire sprang voller Panik zur Seite. Es gab kein Entrinnen. Ihre Kleidung fing Feuer und sie brüllte vor Schmerzen. Schweißgebadet schoss sie hoch.
Ein Rütteln an der Klinke hatte sie geweckt. Jemand schlug mit der Faust gegen die Tür. Claire erschrak. Sie lauschte, ob jemand ihr etwas zurief. Doch sie hörte keine Stimme. Ans Krankenbett gefesselt, war sie einem Eindringling völlig schutzlos ausgeliefert. Er konnte sie ausrauben, missbrauchen, töten. Sie zitterte am ganzen Leib.
Das Schloss hielt der Gewalt stand. Nach einer Weile hörten die Faustschläge auf. Zum ersten Mal war Claire froh über die verschlossene Tür.
»Jemand hat versucht, in mein Zimmer einzudringen«, sagte Claire bei der nächsten Visite.
Schwester Judy goss Wasser in ein Glas, als sie innehielt. »Sind Sie sicher?«
Claire nickte. »Ich hab mich fast zu Tode erschreckt. Wer war das?«
»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?«
»Kommt das öfters vor? Sperren Sie mich deshalb ein?«
»Es sollte nicht vorkommen. Ich gehe der Sache nach.«
Auf FOX liefen die Simpsons, auf HBO eine Sitcom. Draußen schien die Sonne und Claire wünschte, sie könnte frische Luft atmen und den Sommer genießen. Was hätte sie für Eiscreme gegeben!
Ein Regionalsender berichtete von einem vermissten Achtjährigen, der nach einer Mutprobe in einem stark verrußten Gebäue aufgetaucht war. Sie hörte nur mit halbem Ohr hin. Doch als sie das Chick-fil-A-Restaurant erkannte, in dem sie gearbeitet hatte, galt ihre volle Aufmerksamkeit dem Fernseher.
»Erst vor drei Wochen hat es einen Brand in dem Restaurant gegeben«, berichtete die Sprecherin. »Eine Studentin, Claire Williams, kam dabei ums Leben.«
Der Schock saß tief. Die Nachricht musste Claire erst einmal sacken lassen.
Claire riss die Augen auf. Jemand umklammerte ihre Oberarme. Sie schrie vor Schmerz. Fangzähne näherten sich ihrem Hals. Ihr Herz raste. Sie spürte den langen Atemzug auf ihrer Haut und wartete auf den Biss.
Doch dann wurde die Tür aufgestoßen, drei Männer in Krankenhauskluft stürmten herein, gefolgt von Dr. Stevenson und Schwester Judy. Der Angreifer war einen Moment lang abgelenkt. Er hielt mitten in der Bewegung inne, drehte sich um und ließ Claire los. Mit kräftigen Händen packten die Männer ihn an den Schultern und zogen ihn aus dem Zimmer.
»Wie konnte das nur passieren?« Dr. Stevenson war wütend. Schwester Judy sah bestürzt aus. »Er muss wohl durchs Fenster gekommen sein.« Am Boden lagen Glasscherben.
»Ein Glück, dass wir rechtzeitig gekommen sind!«
Claire öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie brachte keinen Ton heraus.
»Ich schätze, wir sind Ihnen ein paar Erklärungen schuldig.« Während Schwester Judy den Raum verließ, setzte sich Dr. Stevenson auf den Stuhl neben Claire.
»Wer war der Kerl? Wieso wollte er mich umbringen?«
»Ich habe Ihnen nur die halbe Wahrheit gesagt«, gestand Dr. Stevenson. »Wir behandeln nicht nur Verbrennungen, sondern auch Blutgier.«
»Blutgier?«
Er nickte. »Ihnen sind sicher schon gewisse Dinge aufgefallen. Das dunkle Zimmer. Das Bad ohne Spiegel. Die meisten unserer Patienten waren entweder zu lange dem Sonnenlicht ausgesetzt, oder sie sind es leid, sich ständig vor der Gesellschaft verstecken zu müssen. Wir versuchen, ihnen durch einen vollständigen Blutaustausch wieder ein normales Leben zu ermöglichen. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Was sagen Sie dazu?«
»Das ist alles völlig irre! Ich will nach Hause. Auf der Stelle!«
Dr. Stevenson seufzte. »Ich fürchte, das geht nicht. Wir mussten Sie offiziell für tot erklären. Denn normalerweise behandeln wir keine Patienten wie Sie. Dass Sie hierhergebracht wurden, hat Ihnen das Leben gerettet. Aber alles hat seinen Preis. Je weniger von unserer Spezialklinik wissen, desto besser. Wenn bekannt werden würde, welches Patientenklientel wir behandeln, könnten wir uns vor der Presse nicht mehr retten. Das Risiko können wir nicht eingehen. Das verstehen Sie doch hoffentlich.«
»Das heißt, Sie halten mich für immer hier fest?«
»Ihnen wird ein Wohnheim zugeteilt, wenn Sie wieder gesund sind. Es gibt außerdem ein Kulturzentrum und eine Sporthalle. Ihnen wird es an nichts mangeln. Nur das Gelände verlassen dürfen Sie nicht.« Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Wenn Sie möchten, bilden wir Sie zur Krankenschwester aus. Oder wollen Sie weiter als Küchenhilfe arbeiten?«
Claire war außer sich vor Zorn. »Damit kommen Sie niemals durch, Sie Scheißkerl! Sie haben kein Recht, mich einzusperren!«
Dr. Stevenson seufzte erneut. »Ich hatte befürchtet, dass Sie so reagieren. Aber beruhigen Sie sich. Ich bin mir sicher, wenn Sie sich erst einmal eingelebt haben, wird es Ihnen hier bestimmt gefallen.«