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Klimawandel
Klimawandel
Pedro dalla Costa atmete erleichtert durch. Es war geschafft! Endloser Nieselregen aus grauem Himmel, von den unzähligen LKWs aufgewirbelte Gischtwände – das lag endlich hinter ihnen. Noch vor Freiburg brach die abendliche Sonne durch und überflutete das Land mit mild-warmen Licht. Pedro lächelte beglückt, die Ferienpläne schienen aufzugehen…
Maria und Luis, die Kinder, erwachten blinzelnd und bombardierten die Eltern mit Fragen über dieses neue Land Alemania, in dem die Familie zum ersten mal Urlaub machte. „Papa, wann sind wir endlich da?“ insistierte Maria. Lisa dalla Costa hatte Verständnis für die Fragerei, schließlich war man seit 13 Stunden unterwegs. Sie starrte auf die Landkarte, den Finger auf dem „Edderßee“ und musste betrübt erkennen, dass es noch 4-5 Stunden bis zum Ziel dauern würde. Aber wenn nur der Verkehr nicht so dicht wäre!
„Pedro, hast Du gesehen, fast nur spanische und französische Autos, wie voll gepackt!“ Die Kinder starrten gebannt durch die verschmutzten Scheiben des wackeren SEAT auf all die Dachgepäckberge der anderen, gen Norden fließenden Fahrzeuge, aus denen lange Surfbretter und Boote herausragten.
Besonderes Staunen erweckten die von Zeit zu Zeit überholten Riesen-Transporter mit der Aufschrift „Convoi exceptionel“, die blendend-weisse 15 bis 25 Meter lange Motor- und Segeljachten Huckepack an die Nord- und Ostseeküsten transportierten.
Pedro war stolz, sich endlich einen Urlaub im Norden leisten zu können. Sonne und blauer Himmel zogen ihn wie die meisten seiner Landsleute magisch an.
Er hatte davon gehört, dass es im vergangenen Jahr 3 oder 4 Millionen Franzosen, 7 oder 8 Millionen Spanier und 5 oder 6 Millionen Italiener waren, die in den Sommermonaten per Auto, Flugzeug oder Bahn in den Norden geströmt waren, um an den Küsten von Nord- und Ostsee, an den Seen und Flüssen, aber auch in den Mittelgebirgen, die Urlaubswochen zu verbringen. Wenn die Wetterkarte die übliche, stabile Hochdrucklage mit endlos blauem Himmel auswies, reichten sich im Süden, vor allem rund ums Mittelmeer herum, ohne Unterlass heranziehende Tiefdruckgebiete die Hand.
Die dalla Costas stammten aus Benidorm. Dort hatte schon Pedros Vater ein kleines Restaurant mit Fischspezialitäten in Strandnähe betrieben. Noch vor zehn, erst recht zwanzig Jahren waren sowohl die Netze der Fischer als auch die Hotels und Appartements stets voll gewesen. Die gnadenlose Sonne hatte alljährlich Millionen öliger Bleichgesichter frittiert.
Und heute? In Pedro, der seit längerem wieder eine Sonnenbrille aufgesetzt hatte und zunehmend entspannt in der mit 80-100 Stundenkilometern rollenden Autolawine pendelte, stieg ein deprimierendes Bild auf: immer wieder sah er das schäbige „Cerrado“, das er vor drei Jahren mangels Kundschaft an die Tür seines Restaurants hatte heften müssen. So wie der Mond Ebbe und Flut bestimmt, lenkt die Sonne die Touristenströme: durch die von Jahr zu Jahr zunehmende Wetterverschlechterung waren die Touristen ausgeblieben...
Nur wenige hatten sich schließlich noch hinter schützenden Felsvorsprüngen und in tiefen Sandburgen vor dem kühlen Wind weggeduckt. Im Wasser drehten nur noch die ganz Abgehärteten ihre kurzen, schnellen Runden. Überall am Mittelmeer, auch an Hotels und Bars las man die Hinweise „Chiuso“, „Fermé“, „Cerrado“. Unzählige Ferienhäuser und –wohnungen trugen das Schild „Si vende“, „A vendre“, „Vender“. Da wurden Telefonnummern aufgeführt, die ohnehin niemand anwählte.
Nur in Einzelfällen tauchten fröstelnde Touristen in dicken Wollpullovern bei den tagein, tagaus fatalistisch vor sich hindösenden Maklern auf, um sich über die Spottpreise geräumiger Immobilien zu erkundigen. Weiße Villen direkt über dem grau-schwarzen Meer thronend, großzügige Appartements mit unverbautem Hafenblick – die Angebote waren überwältigend und die Preise innerhalb weniger Jahre um 300 bis 400 Prozent gefallen.
Diese wetterresistenten Individualisten, zumeist handelte es sich um Lehrer, Steuerbeamte und Sozialpädagogen, wollten unbedingt den Touristenmassen im Norden aus dem Weg gehen. Früher waren sie ans Nordkap, nach Irland oder Masuren gezogen, nun drängte es sie in den kalten, dafür ruhigen Süden.
Die Hobby-Archäologen unter ihnen versuchten hier und da die im Laufe der Zeit durch das raue Wetter fast völlig verblichenen Speisekarten in vor sich hinrostenden Metallkästen zu entziffern. Welche Erinnerungen!
Und Pedro dachte an den Jachthafen von Benidorm, aber auch an alle die anderen, in denen der kalte Mistral ohne Unterlasss sein metallenes Heulen in den wippenden Masten, Seilen und Haken vernehmen ließ. Mancherorts hatte sich der Mastenwald ein wenig gelichtet, da etliche Eigner für eine Überstellung ihrer Boote in den Norden gesorgt hatten.
Nur ungern ging Lisa dalla Costa mit ihren Kindern im Jachthafen spazieren. Sie sagte, die bösen Geister würden dort ihren teuflischen Tanz aufführen. Für sie waren die vergilbenden Schilder mit Verkaufshinweisen auf die „Bavarias“, „Bennetons“ oder „Jeanneau Sun Odyssées“ Boten des Untergangs.
Natürlich wurde den an den Stränden herumstreunenden Individualtouristen in den wenigen noch geöffneten Hotels und Restaurants der rote Teppich ausgerollt. Der Stolz des jungen Pedro hatte es schwer ertragen, wenn seine Eltern um die wenigen Gäste herum dienerten.
In den Wintermonaten waren die Einheimischen gänzlich unter sich. Warm vermummt spielte Pedro zusammen mit Freunden Boule. Die meisten aber suchten das Innere der beheizten Restaurants auf und träumten melancholisch von den Zeiten, in denen die nordischen Touristenschwärme auf der Suche nach der ewigen Sonne über ihre Städte und Strände hergefallen waren. „Wisst ihr noch…?“
Dem Fernseher, der aus den Ecken von halbleeren Restaurants und Bars ohne Unterlass Stimmen und Bilder in den Raum schwemmte, galt manch beklommener Blick, wenn nach den Nachrichten die Wettervorhersage kam. Lisa konnte nicht mehr hinschauen: über dem westlichen Mittelmeer lag stets eine kompakte dunkelgraue Wolkenmasse und es hieß, die heutigen Temperaturen seien die niedrigsten, die seit 50 Jahren oder sogar seit dem Beginn der Wetteraufzeichnung gemessen wurden. Und nördlich der Alpen sah alles ganz anders aus…
Im Frühjahr übermannte die Menschen der freudige Traum vom eigenen Urlaub. Sehnsuchtsvoll surften sie tagelang im Internet, standen geduldig Schlange vor den Reisebüros, um ihre Urlaubswochen im Norden zu buchen – und damit die Garantie auf Wärme, Sonne und ewig blauen Himmel!
Pedros steinalte Eltern verfolgten mit verständnislosem Kopfschütteln die Nachrichten: wenn in der Region Ligurien, im französischen Midi oder im spanischen Valencia die Schulferien begannen, dann setzte sich, vor allem auf den Autobahnen, die endlose Touristenkolonne gen Norden in Bewegung…
Der brave SEAT brummte unermüdlich dem Urlaubsziel „Edderßee“ der Familie dalla Costa entgegen. Frankfurt lag längst hinter ihnen, die Dunkelheit
war eingebrochen und Pedro gähnte hin und wieder mit den Worten „lange, lange Fahrt“, woraufhin Lisa ihm aus der Thermosflasche einen Kaffee reichte.
„He Kinder, aufwachen! Wir sind gleich da!“ rief sie triumphierend als der Wagen die Autobahn verließ und zügig dem im klaren Mondlicht schimmernden Edersee zustrebte. Lisa lenkte ihren Mann mit Hilfe einer geschickten Beschreibung ohne Umwege zur Familienpension Schröder direkt am See. Endlich am Ziel, endlich im Urlaub!
Mit steifen Gliedern kletterten alle aus dem Auto und sogen genüsslich die laue Abendluft ein. Eine freundliche, dicke Dame empfing sie mit den singenden Worten „Ei, sinn die Herrschafte da!“ Angesichts der hilflosen Mienen der Ankömmlinge wiederholte sie ihre Worte in passablem Spanisch. Erst jetzt gewahrte Lisa die mannshohen Palmen, auch den lila Blütenrausch der Bougainvillea, die die Pension umstanden, erst jetzt hörte sie das laute Schnarren der Zikaden, die lebhafte Unterhaltung auf allen Balkonen und Terrassen.
Bei Schröders wohnten mehrere italienische Familien, aber auch – Gott sei Dank! – zwei Familienclans aus Almeria und Malaga. Mit ihnen saßen die dalla Costas fortan allabendlich bei erfrischendem deutschen Bier bis tief in die milde Nacht hinein zusammen. Sie erfuhren, dass man auf den häufig servierten „Handkäse mit Musik“ verzichten konnte, da sich die italienischen Pizzerien und spanischen Restaurants allerorten wie Pilze vermehrten hätten und zu Anlaufpunkten ihrer Landsleute geworden wären. Pedro wurde hellhörig.
Und Sprachprobleme? Die gäbe es kaum, da die Deutschen alle Sprachen könnten, was die Frau mit den schwarzen Augen, die neugierig und zugleich ängstlich blickten, spürbar beruhigte. Luisa kam nicht aus dem Staunen heraus, als es hieß, seit ein bis zwei Jahren hätten immer mehr Besitzer von Boutiquen und Geschäften ihre Läden in Tarragona, Taormina und Trient geschlossen und neue in Travemünde, Timmendorf und Tossens eröffnet. In wissender Heiterkeit wurde hinzugefügt, es gäbe ohnehin überall die gleichen Waren aus China.
In Pedro begann es zu brodeln. Er strich sich über das schüttere dunkle Haar und fragte nach: „Boutiquen und Geschäfte…Das gilt wie gesagt auch für Restaurants?“ Allgemeines Kopfnicken.
Am ersten Wochenende fuhren die dalla Costas mit Herrn Schröder an die Nordsee, wo dieser eine weitere Familienpension betrieb. Sie waren überwältigt: endlose Ferienparadiese mit hoch aufragenden Bettenburgen, urbanisierte Landschaften mit Stadtautobahnen.
Leicht mürrisch wies Pedro daraufhin, dass es an der Küste seiner Heimat ähnlich aussähe – nur sei alles alt und heruntergekommen. Worauf Herr Schröder zu berichten wusste: “Ja, das wundert mich nicht! Viele Planer sind nämlich ans Mittelmeer gefahren, um besonders gelungene Ferienanlagen und Appartement-Siedlungen zu studieren. Dann haben sie bei uns, wie etwa hier in Harlingersiel, sehr ansprechende Bauten errichtet. Es gibt hier auch an stilleren Küstenabschnitten mondäne Ferienclubs mit 51-Loch-Golfanlagen!“
Als die dalla Costas mit Herrn Schröder im Schutz von Bäumen und Markisen die Strandpromenade entlangliefen und sich einem offenen Platz näherten, schwoll ein Geräusch wie von einer großen Menschenmenge an. Dann Polizeisirenen, einzelne Schreie.
Die Menge schien aufgebracht zu sein. Schilder mit der Aufschrift „Spekulanten raus!“, „Stoppt den Tourismusboom“, „BUND für Küstenschutz“, „Wo sind die Robben-Babys?“ und vereinzelt auch „Deutschland den Deutschen“ wurden hoch gehalten.
Herr Schröder schien irritiert und beschleunigte seinen Schritt zum Leidwesen der heftig schwitzenden Luisa, die gerade noch das Wort „Spekulanten“ entziffern konnte und sogleich danach fragte.
Sie erfuhr, dass in Deutschland, aber auch Holland und Polen die Preise während der Ferienmonate derart in die Höhe schossen, dass die Einheimischen regelmäßig dagegen protestierten. „Aber“, ergänzte Herr Schröder, „viele vergessen, wie gut sie seitdem verdienen!“ „Carramba“, seufzte Pedro bitter, „so hat mein Vater früher auch gesprochen!“-
Somit verbrachten alljährlich viele Millionen Südländer ihren Urlaub im Norden und nur die ewigen Skeptiker stellten kritische Fragen zum Klimawandel. Ob er denn anhalten würde, wie lange das denn so weiterginge, was am Ende passieren würde… Die meisten Erd- und Klimaforscher waren sich in einem absolut sicher: der Süden ist jetzt der Norden und umgekehrt, das Mittelmeer liegt jetzt an der Nord- und Ostsee und umgekehrt – oder vielleicht doch nur für 8120 Jahre?
Pedro stellte sich diese Fragen nicht. Er kehrte im kommenden Frühjahr mit seiner Familie an den Edersee zurück. Er blieb länger im Lande, karrte mit seinem Bruder José überladene Einkaufswagen aus den Baumärkten, suchte große Möbelgeschäfte und Baumschulen auf. Diese hatten längst reagiert: statt Rhododendren, Tannen und Laubbäumen zogen sie Schirmzypressen und Orangenbäume hoch. Und in den anderen Schulen hatte Spanisch und Italienisch das Englische zur Beruhigung von Luisa inzwischen als Pflichtfremdsprache abgelöst.
An einem heißen Juni-Tag ging es am See hoch her. Französisch, Deutsch, Italienisch wirbelten durcheinander – doch Spanisch dominierte ganz klar.
Auf zwei großen Grills zischten und dampften die Lamm-Kotellets und Steaks. Kleine schmackhafte Tortillas mit Champignons und Schinken wurden gereicht. Am Bierfass, aber auch am Sangria-Ausschank bildeten sich lange Schlangen.
Maria und Luis, die Kinder der dalla Costas, tobten mit ihresgleichen am Seeufer herum. Mutter Lisa rief ihnen alle drei Minuten „Aber Vorsicht!“ zu. Pedro sah heute besonders glücklich und zufrieden aus. Sein Blick ging immer wieder zu dem großen Schild mit der Aufschrift „Taverna Benidorm“ – seinem Restaurant in der Sonne.