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Kleos
Das bewaffnete Aufklärungsschiff Typ Habicht flog über den zerklüfteten Kälteplaneten Kleos. Die riesigen Zwillingspropeller waren nur als leises Summen innerhalb des Habichts zu hören, aber außerhalb knatterten sie bestimmt verdammt laut. Darren McCoy riss seinen Blick von der Ewigkeit aus Fels und Eis unter ihm. Mit einer lauten Stimme, die das Befehlen gewohnt war, sprach er zu den zwei Dutzend Männern, die auf den Sitzen um ihn herum saßen. Er fuhr mit der Sicherheitsunterweisung fort.
"Nochmal. Keiner von euch macht seinen Anzug auf. Ihr denkt vielleicht, dass es dort draußen fast aussieht wie zuhause im Winter. Ihr denkt vielleicht, dass die Atmosphäre für Menschen habitabel ist. Ihr denkt vielleicht, dass die Radioaktivität fast weg ist. Ihr denkt vielleicht, dass es da draußen ungefährlich ist, aber keiner von euch wird bezahlt fürs Denken! Keiner macht seinen Anzug auf! Erinnert euch an Celestia!" Die Erwähnung des Namens zeigte wie üblich Wirkung. Die Soldaten des Stoßtrupps sahen betreten zu Boden oder stapften nervös von einem Fuß auf den anderen. Jeder Soldat der Himmelsmarine kannte die Geschichte der Entdeckung des Planeten Celestia.
Celestia war ein wunderschöner Dschungelplanet mit erdähnlicher Gravitation, einer der ersten entdeckten Planeten, die nicht nur Felsbrocken waren. Die erkundenden Soldaten waren nach Monaten ununterbrochenen Dienst auf dem engen Schiff von der Schönheit des Planeten berauscht gewesen. Einige waren herumgetollt, und ein paar waren dumm genug gewesen, um ihren Helm vorschriftswidrig abzunehmen. Laut der von Biologen erarbeiteten Rekonstruktion des Unglücks wurde einer dieser Idioten von einer Mücke gestochen.
Drei Tage später war die Hälfte der Besatzung des Erkundungsschiffes entweder tot oder lag im Sterben. Nur wegen einiger schnell denkender Ärzte und ausgiebiger Quarantäne gab es überhaupt Augenzeugen, die von dem Unglück berichten konnten. Der Vorfall hatte zu einer Verschärfung der ohnehin strengen Sicherheitsvorschriften zur Planetenbegehung geführt. Darren hatte nicht vor, eine dieser Vorschriften zu brechen. Oder zuzulassen, dass einer seiner Männer das tat. Er hatte keinerlei Absicht, für den Rest seines Lebens Truppführer zu bleiben. Nach einem kurzen Blick in die Gesichter der Männer vor ihm entschied er sich, die Situation etwas aufzulockern.
"Also, Männer, deshalb wird keiner von euch heute seinen Namen in den Schnee pissen." Die Soldaten brachen in schallendes Gelächter aus, wie es nur eine Gruppe Männer mit Waffen konnte. Darren glaubte sogar, ein leichtes Lächeln auf Claras Gesicht zu sehen. Die hübsche Biologin gehörte nicht zur Standardbesatzung des Habichts. Sie war für einen kranken Militärwissenschaftler eingesprungen - trotz Darrens Widerspruch. Militärische Aufklärungsschiffe waren kein Ort für eine Frau. Auch auf den harmlosesten Missionen nicht.
"Also, ihr kennt den Plan. Wir landen, unser Technikteam", er zeigte Richtung Claras und ihrer Kollegen, "nimmt seine Proben, macht seine Messungen, und schon sind wir wieder weg. Einfach wachsam bleiben. Und passt auf, wo ihr hintretet. Ich habe keine Lust, jemanden aus einer Gletscherspalte zu fisch..."
"Thermalsignatur! Unterirdisch, groß, bewegt sich! Kommt auf uns zu!", schrie der Pilot panisch.
"Ein Wurm! Hochziehen!", brüllte Darren. "Feuer frei!".
Die Granaten des Habichts knallten auf den voraussichtlichen Erscheinungspunkt des riesigen Ungeheuers. Das Schiff beschleunigte und schoss nach oben Richtung Orbit. "Meldung! Habicht, bitte melden!" kam die Stimme Admiral Cabarras aus Darren's Comlink. Darren ignorierte es und starrte an dem hektischen Piloten vorbei auf die Sensoren im Cockpit. Er konnte nichts Genaueres erkennen. Er drehte sich um und sah dem Bordschützen über die Schulter. Dieser gab weiterhin Salven auf die Stelle ab, an der die Kreatur voraussichtlich durch den Boden brechen würde. Die Granaten warfen Fontänen aus Eis und Felssplittern auf.
Die Kreatur tauchte nicht auf. Der Habicht war schon weit außerhalb der Reichweite von allem, was sich aus dem Felsen hätte graben können. Darren zwang sich, tief durchzuatmen. Er warf einen kurzen Blick um sich. Die Soldaten waren von dem plötzlichen Manöver durchgeschüttelt, einige der Wissenschaftler waren regelrecht grün. Allen saß der Schreck in den Knochen. Einer der neueren Rekruten hatte die Hände gefaltet und bewegte stumm die Lippen. Clara starrte stumpf vor sich auf den Boden. Ihre Hände krallten sich in die synthetische Polsterung ihres Sitzes. Darren wollte zu ihr gehen und sie umarmen, doch er besann sich. Nicht vor den Männern. Er kämpfte seine eigene Angst nieder und antwortete dem Admiral, der ihm mittlerweile ununterbrochen ins Ohr brüllte.
"Hier McCoy. Eine große Thermalsignatur weist auf die Präsenz einer riesigen unterirdischen Lebensform hin, Sir. Die Lebensform kam auf uns zu, deshalb zogen wir uns zurück und eröffneten das Feuer, Sir." Er hoffte, dass das Comlink seinen beschleunigten Atem nicht auch übermittelte.
Es herrschte kurze Stille von Seiten des Admirals. Dann hörte er ein kurzes Rauschen und Klappern. Der Admiral rief etwas durch die Kommandozentrale und es folgte eine kurze Unterhaltung, die zu leise war, um sie zu verstehen. Trotz der Situation ging ein leichtes Schmunzeln über Darren's Lippen. Admiral Cabarra wusste offensichtlich nach siebenundzwanzig Jahren im Dienst immer noch nicht, wie man ein Comlink bediente.
Das Klappern und Rauschen wiederholte sich, und Cabarras Stimme klang aus dem Comlink: "Unsere Sensoren zeigen nichts, Leutnant. Schicken Sie den Datensatz." Darren gab den Befehl, und ein paar Sekunden später hörte er die Stimme eines Technikers: "Zweifellos eine Fehlfunktion des Thermalsensors der Habicht. Unsere Sensoren hätten bei diesen Wetterbedingungen Aktivität dieser Größenordnung sofort bemerkt. Die Signatur war nur für wenige Sekunden zu sehen, mit plötzlichem Auftauchen und fast spurlosem Verschwinden. Das Fehlerprofil passt zu anderen Fehlern von Thermalsensoren aus der gesamten Flotte. Ich halte die Ursache für ..."
Admiral Cabarra fiel ihm ins Wort: "Und Sie sind sich sicher, dass das eine Fehlfunktion des Sensors war?"
"Absolut. Wobei die Ursache streng genommen nicht im Sensor, sondern viel mehr im Interpretationsprogramm liegt. Die Sensoren der TX-8-Serie werden als allgemein sehr verlässlich angesehen, doch das Interpretationsprogramm wurde aus Kostengründen von der Marine selbst geschrieben. Es hat einen..." Der Techniker räusperte sich: "...zweifelhaften Ruf. Studien der zivilen Universitäten zeigen dass..."
Der Admiral unterbrach ihn, bedankte sich und warf den Techniker aus dem Comlink-Kanal. Cabarra hasste es, wenn ein Zivilist schlecht über Ausrüstung oder Organisation der Flotte redete. Dieses Recht war seiner Meinung nach Soldaten vorbehalten.
Darren suchte verzweifelt nach einem Loch im Boden, in dem er versinken konnte. Erleichtert war er trotzdem. Cabarra räusperte sich: "Leutnant McCoy, ist die Habicht noch gefechts... Ich meine, haben Sie noch genug Munition, um die Mission den Vorschriften gemäß auszuführen?"
Eine äußerst diplomatische Frage danach, ob er alle seine 5000 Dollar pro Stück teuren Granaten auf einen Geist abgefeuert hatte. Oder nur circa ein Drittel. Darren fürchtete, dass seine Soldaten noch durch den Helm sehen konnte, wie rot er wurde. Ans Sparen von Munition hatten weder er noch der Schütze gedacht.
Pflichtgemäß überprüfte Darren die Anzeige auf dem Bildschirm vor dem Piloten. "Die Habicht hat noch mehr als die vorgeschriebene Reserve an Munition, Sir. Wir fahren mit der Mission nach Plan fort, Sir."
"Dieser Stein sieht genau so aus wie der letzte Stein. Und wie der davor. Bist du sicher, dass du nicht den ganzen Planeten mitnehmen willst?" grinste Darren zu Clara, während er einen kleinen Schneeball in den Schnee vor sich warf. Clara schaute nicht von ihrer Arbeit auf. "Es geht um Mikroorganismen auf den Steinen. Oder Spuren von ihnen. Wie bereits erklärt. Und jetzt hilf mir!" Darren saß auf einem kleinen Felsen, der genau so aussah wie Clara's Steine. Sein Blaster lehnte neben ihm. Er unterdrückte ein Grinsen. Clara hatte ihm schon immer die akademische Kompetenz eines zurückgebliebenen Orang-Utans nachgesagt. Was nicht allzu falsch war: Er hatte nie Interesse an wissenschaftlichen Themen entwickelt. Weswegen er es zu seinem Beruf gemacht hatte, für Geld auf sich schießen zu lassen.
"Wenn du meine Meinung hören willst" räsonierte er, während er in die Distanz über Eis und andere Felsen aus dem gleichen Gestein starrte "Dieser Planet ist tot. Absolut tot. Die Devastationsbombe unserer Ahnen hat ganze Arbeit geleistet. Es ist zu kalt hier. Zu beschissen kalt für jedwedes Leben."
Sein Anzug isolierte ihn zwar perfekt von der Außenwelt, doch die unwirtliche Umgebung hatte trotzdem psychologischen Einfluß auf ihn. "Von was soll Viechzeug denn hier bitteschön leben? Hier gibt es nur Steine. Zehntausende, in der Beschaffenheit genau identische, Steine." Er warf einen weiteren Minischneeball, diesmal in die grobe Richtung der Biologin.
Clara warf ihm einen vernichtenden Blick zu und griff in den Koffer vor ihr."Sammle ein paar davon. Los, los, mach dich nützlich." Sie drückte ihm ein paar Probentüten in die Hand und schenkte ihm ein unschuldig-süßes Lächeln. "Und bitte erschieß keinen von den armen Felsen."
Unflätig fluchend stapfte Darren davon. Der Schnee lag unterschiedlich tief auf dem unebenen Gelände, teils sank er bis zum Knie ein, teils kaum bis zum Knöchel. Er wusste, dass er von seinem großzügigen Bombardement von absolut gar nichts bis zu seinem Ruhestand hören würde. Belangt werden würde er für nichts- die Sensoren hatten schließlich eine Fehlfunktion gehabt. Und zur möglichen Existenz riesiger unterirdischer Kreaturen -der "Würmer"- gab es einige Theorien (einige davon stammten sogar von seriösen Wissenschaftlern). Der Spott seiner Mitoffiziere war ihm trotzdem sicher.
Darren schlug mehr oder weniger eine gerade Linie ein und sammelte hier und da lustlos einen nicht zu großen Felssplitter. Vielleicht würde Clara ja auf einem von diesen Felsbrocken irgendeinen unentdeckten Einzeller finden, den sie nach sich benennen konnte. Das würde sie über Wochen und Monate glücklich machen. Darren fragte sich, ob es Bakterien gab, die sich von Fels ernähren konnten.
Die pelzige Kreatur bemerkte er erst, als er fast drauftrat. Handflächengroße Augen starrten zu ihm auf. Darrens Blaster war sofort an seiner Schulter. Das vierbeinige Tier rührte sich nicht.
Er machte langsam einen Schritt nach hinten, ohne seinen Blick von der Kreatur abzuwenden. Gefährlich sah die Pelzkreatur nicht aus. Aufgerichtet würde sie ihm vielleicht bis zur Hüfte reichen. Die Vorderextremitäten mündeten in kurzen, mit stumpfen Grabklauen besetzten, Pfoten. Darren wich weiter zurück und senkte seinen Blaster etwas. Gedanken rauschten ihm durch den Kopf.
Eine neue Spezies. Auf Kleos. Und er hatte sie gefunden. Er musste zurück, Clara Bescheid sagen. Und dem Admiral natürlich. Die Existenz dieses Biestes war eine halbe Sensation. Keiner hatte vermutet, dass irgendetwas die Bombe überlebt hatte. Auf dem Hügel zu seiner Linken bemerkte er Bewegung. Weitere Pelzkreaturen saßen oder lagen vor einem Loch im Fels. Alle schauten ihn an, mit einem Ausdruck, der vermutlich Angst oder Verwirrung war. Darren senkte seinen Blaster endgültig und genoss den Anblick der kleinen Vierbeiner in der desolaten Wildnis. Er sah ein Loch im Boden neben einem der Pelztiere. Eine Höhle. Als er verstand, prustete er los. Ein Fehler im Interpretationsprogramm des Thermalsensors. Aus einer Herde Kleintiere wurde ein einziges gigantisches Monstrum. Wenn er keinen Helm getragen hätte, hätte er sich vor die Stirn geschlagen.
Die Pelztiere hatten sich mit der Präsenz des sich vor Lachen schüttelnden Außerirdischen eindeutig noch nicht abgefunden. Keines der Tiere hatte sich seit seinem Erscheinen bewegt. Darren vermutete, dass die Pelztiere die einzige Spezies waren, die den Einschlag der Devastationsbombe überlebt hatten. Ihre Reaktionen ließen nicht auf die Existenz von Fressfeinden schließen. Er begutachtete die Herde, die ihn ebenfalls begutachtete, und wunderte sich, wovon diese Tiere lebten.
Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Eines der kleineren Tiere - vermutlich ein Jungtier - schlug mit einem Stein auf einen kleineren Stein und verarbeitete ihn zu kleinen Bröckchen. Darren erstarrte.
Werkzeuggebrauch. Die Pelztiere waren intelligente extraterrestrische Lebewesen. Zumindest nach strenger Definition. Und Darren wusste, was das imperiale Militär mit intelligenten extraterrestrischen Lebensformen machte.
Er atmete tief durch. Dann traf er die Entscheidung, die eigentlich keine war. Mit einem letzten Blick auf die Pelztiere drehte er sich um und ging.
"Ah, da bist du ja wieder. Los, gib mir die Tüten." Clara war in seiner Abwesenheit produktiv gewesen. Jede Menge kleiner Eis- und Steinsplitter lagen in der Kiste vor ihr. "Hey, alles in Ordnung mit dir? Darren? Darren?"
Darren schaute sie an. Wenn die Sache rauskam, würde sie ihm nie verzeihen.
"Ich bin okay. Bloß müde, sorry. Dieser Planet macht mich fertig." Er reichte ihr die Tüten mit den aufgeklaubten Steinen und gab sich Mühe, desinteressiert zu wirken.
"Clara, haben die anderen hier irgendwas gefunden?"
Die Biologin packte die Tüten in einen Koffer und schaute zu ihm auf. "Ja."
Darren's Herz blieb stehen: "Was denn?"
Clara grinste schelmisch. "Steine und Eis. Komm, lass uns abhauen. Ich bin hier fertig. Und verhungere. Hey, du trägst die Kiste."
Aus dem Fenster des abfliegenden Habichts starrte Darren auf den Planeten. Irgendwo weit, weit unter ihm kratzte eine harte Klaue ein grobes Abbild eines Helms in den Fels.