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Kleingedruckt

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08.08.2003
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Kleingedruckt

Was hatte ich auf dem Standesamt da nur unterschrieben? Hätte ich mir bloß das Kleingedruckte genauer durchgelesen... Und was meinten die in der Kirche wohl mit dem Spruch "in guten wie in schlechten Zeiten"? Waren die guten etwa die, wo er mal nicht
betrunken war und sich wie ein normaler Mensch benahm? Die schlechten die, in denen er die Möbel zerlegte, mich würgte und vergewaltigte? Hatte all das in dem Vertrag gestanden? Ich konnte mich nicht erinnern, dass mich jemals mit so etwas einverstanden erklärt hatte. Aber so musste es wohl gewesen sein. Denn kein Mensch hatte mir vorher gesagt, was mir durch das simple Wort "Ja" alles passieren konnte.

Kein Entrinnen aus dem täglichen Irrsinn... die Fassade aufrecht zu erhalten kostet unglaublich viel Kraft. Nach außen lächeln, nach innen bluten. Ich verblute innerlich, möchte um Hilfe schreien, aber niemand wird diese Schreie hören wollen. Es ist doch alles in
Ordnung, was dir passiert, du bist verheiratet. Da ist der ganz normale Wahnsinn legalisiert. Zeig' ihn doch wegen Vergewaltigung an... und dann sieh zu, wie du deine Kinder allein durchbringst. Wie du es den Kindern erklärst, dass du den Papa ins Gefängnis gebracht
hast. Dass er nicht lieb, sondern böse ist.

Geht nicht. Das geht einfach nicht, das kann ich nicht machen. Was sollen die Leute sagen in unserem kleinen Ort? Diese Schande.
Aber was soll ich tun? Wenn ich ihm sage, dass ich gehe und die Kinder mitnehme, bringt er mich um. Hat er gesagt. Glaube ich ihm das? Ich glaub's. Und ich lese es jeden Tag in der Zeitung. Hin und Her mit den Gedanken.

Ich schaue in den Spiegel und hasse mich. Wer ist diese Frau mit den dunklen Ringen unter den Augen? Was ist das für eine Frau, die sich tagsüber immer wieder voll stopft und dann erbricht? Was ist das für eine Frau, die sich von ihrem betrunkenen Ehemann
herumschubsen, als blöde Schlampe bezeichnen und vergewaltigen lässt? Im Flur an der Wand ein Foto aus glücklicheren Tagen. Ein lachendes Gesicht, braune Haut, Sonne, Strand. War ich das mal...?

Tiefschwarze Nacht. Zitternd liege ich da und warte. Knall. Die Haustür fliegt auf. Er kommt. Dumpfes Poltern auf der Treppe. Plötzlich gleißend helles Licht. Die Bettdecke wird von mir weggezogen. Es ist kalt. Ich schließe die Augen, sehe nicht hin. Erhebe mich aus
meinem Körper und sehe von oben zu. Die Hülle bleibt zurück, nicht mir passier das, sondern nur meiner Hülle. Nicht schlimm, nicht schlimm. Ssscht.... die Kinder nicht aufwecken. Bloß das jetzt nicht. Es tut weh. Pssssssttt... sei still, schrei nicht, halt es aus. Sonst hälst du es doch auch aus... ruhig, ganz ruhig. Gleich, gleich wird er einschlafen. Ich kehre in meine Hülle zurück. Alles tut mir weh, der ganze Körper. Da auf dem Nachttisch seine Uhr. Ein Geschenk von mir. Dafür hatte ich viele Überstunden gemacht, um sie bezahlen zu können. Jetzt schaut sie mich an wie ein Gesicht voller Hohn und Spott. Das hast du davon, das hast du davon, das ist der Dank.
Mechanisch nehme ich sie, stehe auf, gehe zum Fenster. Als Kind bei den Bundesjugendspielen in dieser Disziplin immer kläglich versagt, kann ich plötzlich unglaublich weit werfen... gar nicht typisch Mädchen. Ich kann, wenn ich will. Wirklich? Wenn ich etwas wirklich will, kann ich es auch... Wer, ich? Ich kann gar nichts mehr... bin winzig klein, nur ein Schatten meiner selbst, mich gibt es nicht mehr, meinungslos, gesichtslos, ehrlos, lieblos, eigentlich schon tot. Wieso hab' ich Angst, wenn ich eigentlich schon tot bin? Kann der Tod schlimmer sein als das hier? Erstaunt stelle ich fest, dass er sogar eine Erlösung wäre.

Das unglaubliche Aha-Erlebnis danach setzt ungeahnte Energien frei. Plötzlich ganz klar, berechnend, unglaublich kalt plane ich alles bis ins Detail. Keine Szene, keine erneute Gewalt, keine Polizei, nichts, was die Kinder nur verstören würde. Nein. Ich werde gehen.
Einfach so. Ohne, dass er es merkt. Die Kinder und ich werden einfach weg sein. Verschwunden, in Luft aufgelöst, weg. Such' mich doch! Na komm schon, such' mich... ich hab' keine Angst mehr vor dir. Ich werde so oder so frei sein. Egal, was du tust. Flipp' aus,
besauf' dich, schlag alles kurz und klein, bring' mich um, bring' dich um, es ist mir egal. She's an eagle, when she flies...

 

Tot - irgendwie hast du es geschafft mich totzuschreiben. Aber sei nicht allzu stolz darauf. Das ist eher ein Zeichen dafür, dass du den Leser erdrückst, mit zuvielen Gedanken. Man kann zu wenig schreiben und man kann zuviel schreiben. Und du schreibst in diesem Fall zuviel. Schlecht ist der Text deshalb nicht, das Thema ist - auch wenn es schon 1000mal durchgekaut wurde - gut gewählt. Ich glaube, ich kann dir nur den Rat geben, Teile des Selbstmonologs durch tatsächliche Handlung zu ersetzen. So relativierst du die zerdrückende Fülle an Gedanken und sorgst - durch die Schilderung von Vorkommnissen - dafür, dass die Story noch realitätsgetreuer wirkt, als sie es (wegen dem traurigen Schicksal tausender Frauen) leider sowieso schon tut.

Ich hoffe, man liest bald wieder etwas von Dir - herzlich Willkommen bei kurzgeschichten.de

 

Hallo Renate,

ich schließe mich meinem Vorredner nicht an! Ich finde, Dein Text ist sehr gut geschrieben und, da es Gedanken sind, finde ich nicht, daß es zuviel ist. Gedanken kommen nun einmal so.

Auch bin ich nicht der Meinung, daß das Thema "1000mal durchgekaut" ist. Jedes Thema ist irgendwo durchgekaut, schließlich gibt es im Bereich Horror x Geschichten über Monster, im Bereich Fantasy x Geschichten über Elfen.....

Schade fand ich es nur, daß die Geschichte hier endet. Ich hätte gerne gewußt, was aus ihr geworden ist und ob sie es geschafft hat! Vielleicht schreibst Du ja mal eine Fortsetzung?!

VG

Petra

 

hallo renate, auch von mir ein herzliches willkommen auf kg.de. deine einstands-story ist dir gut gelungen. du gibst einem allerweltsthema (ich meine das positiv!) eine neue facette. du erzählst dicht und somit kompakt. ich mag diesen stil.

auch die idee mit der uhr finde ich gut: an ihr kannst du die ohnmacht dieser frau gut darstellen. Noch ein paar konkrete hinweise:

Was ist das für eine Frau, die sich tagsüber immer wieder voll stopft und dann erbricht?
leidet sie an ess-störungen? könntest du von mir aus weglassen, diesen satz.

die entscheidung, über den echten schluss der story überlässt du dem leser. ich finde es gut so - jeder kann den faden so weiter spinnen, wie er möchte.

liebe grüße
ernst

 

Hallo Petra!
Diese Gedanken sind mir in der Tat einfach so gekommen, als ich über die Ereignisse und Gefühle nachdachte.
Du fragst, was aus "ihr" geworden ist. Danke, mir geht es wieder gut, ich habe es geschafft. Ich denke, eine Fortsetzung wird es nicht geben, denn wahres Leben langweilt die meisten Leser.

Danke für Deine netten Worte.

Gruß
renate60

 

Hallo Ernst,

der Satz über die bulimische (also essgestörte) Frau steht für die Selbstverachtung, ja den Selbsthass, den sie empfindet und der sich in eben jener Essstörung ausdrückt. Er ist daher unerlässlich und gehört mit zu ihrem Persönlichkeitsbild.

Danke für die nette Begrüßung.

 

damit klärt sich ja einiges auf jetzt. zunächst bin ich froh, dass du "über den berg" bist - das ist wohl das wichtigste.

wenn die Bulimie (nennt sich die Krankheit tatsächlich so?) wichtig ist, solltest du ihr mehr gewicht geben. ich denke, hier gehst du von deinem "insider-wissen" aus, das du beim unbedarften leser nicht einfach so voraussetzen kannst. also bitte, dann noch 2-3 sätze zur erklärung hinzufügen!

gruß
ernst

 

Hallo Renate,

das ist ja hammerhart, daß Deine Geschichte "wahr" ist! Um so mehr freut es mich, daß es Dir wieder gut geht!

Daß eine Fortsetzung den Leser langweiligt, glaube ich nicht. Sicher liest es sich spannend, wie Du von diesem "Monster" weggekommen bist. Wobei ich mich für meine Neugierde jetzt, nachdem ich weiß, daß die Story nicht erfunden ist, natürlich schäme.

VG

Petra

 

Sehr intensiv schilderst du die Gefühle der Frau und man versteht ihren Schmerz. Schließlich ist man auch überrascht, dass sie dieses Leben so lange weiterlebt.
Am Schluß der Erzählung kommt dann der beschriebene Aha-Effekt, der zwar nicht ganz so Aha ist, aber den einzig noch möglichen Ausweg schildert. Gut geschrieben, aber leider (auch wenn es eine wahre Geschichte ist) nicht sehr kreativ.
Ne 7 auf ner Skala von 1-10.

Grüße...
morti

 

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