Kleingedruckt
Was hatte ich auf dem Standesamt da nur unterschrieben? Hätte ich mir bloß das Kleingedruckte genauer durchgelesen... Und was meinten die in der Kirche wohl mit dem Spruch "in guten wie in schlechten Zeiten"? Waren die guten etwa die, wo er mal nicht
betrunken war und sich wie ein normaler Mensch benahm? Die schlechten die, in denen er die Möbel zerlegte, mich würgte und vergewaltigte? Hatte all das in dem Vertrag gestanden? Ich konnte mich nicht erinnern, dass mich jemals mit so etwas einverstanden erklärt hatte. Aber so musste es wohl gewesen sein. Denn kein Mensch hatte mir vorher gesagt, was mir durch das simple Wort "Ja" alles passieren konnte.
Kein Entrinnen aus dem täglichen Irrsinn... die Fassade aufrecht zu erhalten kostet unglaublich viel Kraft. Nach außen lächeln, nach innen bluten. Ich verblute innerlich, möchte um Hilfe schreien, aber niemand wird diese Schreie hören wollen. Es ist doch alles in
Ordnung, was dir passiert, du bist verheiratet. Da ist der ganz normale Wahnsinn legalisiert. Zeig' ihn doch wegen Vergewaltigung an... und dann sieh zu, wie du deine Kinder allein durchbringst. Wie du es den Kindern erklärst, dass du den Papa ins Gefängnis gebracht
hast. Dass er nicht lieb, sondern böse ist.
Geht nicht. Das geht einfach nicht, das kann ich nicht machen. Was sollen die Leute sagen in unserem kleinen Ort? Diese Schande.
Aber was soll ich tun? Wenn ich ihm sage, dass ich gehe und die Kinder mitnehme, bringt er mich um. Hat er gesagt. Glaube ich ihm das? Ich glaub's. Und ich lese es jeden Tag in der Zeitung. Hin und Her mit den Gedanken.
Ich schaue in den Spiegel und hasse mich. Wer ist diese Frau mit den dunklen Ringen unter den Augen? Was ist das für eine Frau, die sich tagsüber immer wieder voll stopft und dann erbricht? Was ist das für eine Frau, die sich von ihrem betrunkenen Ehemann
herumschubsen, als blöde Schlampe bezeichnen und vergewaltigen lässt? Im Flur an der Wand ein Foto aus glücklicheren Tagen. Ein lachendes Gesicht, braune Haut, Sonne, Strand. War ich das mal...?
Tiefschwarze Nacht. Zitternd liege ich da und warte. Knall. Die Haustür fliegt auf. Er kommt. Dumpfes Poltern auf der Treppe. Plötzlich gleißend helles Licht. Die Bettdecke wird von mir weggezogen. Es ist kalt. Ich schließe die Augen, sehe nicht hin. Erhebe mich aus
meinem Körper und sehe von oben zu. Die Hülle bleibt zurück, nicht mir passier das, sondern nur meiner Hülle. Nicht schlimm, nicht schlimm. Ssscht.... die Kinder nicht aufwecken. Bloß das jetzt nicht. Es tut weh. Pssssssttt... sei still, schrei nicht, halt es aus. Sonst hälst du es doch auch aus... ruhig, ganz ruhig. Gleich, gleich wird er einschlafen. Ich kehre in meine Hülle zurück. Alles tut mir weh, der ganze Körper. Da auf dem Nachttisch seine Uhr. Ein Geschenk von mir. Dafür hatte ich viele Überstunden gemacht, um sie bezahlen zu können. Jetzt schaut sie mich an wie ein Gesicht voller Hohn und Spott. Das hast du davon, das hast du davon, das ist der Dank.
Mechanisch nehme ich sie, stehe auf, gehe zum Fenster. Als Kind bei den Bundesjugendspielen in dieser Disziplin immer kläglich versagt, kann ich plötzlich unglaublich weit werfen... gar nicht typisch Mädchen. Ich kann, wenn ich will. Wirklich? Wenn ich etwas wirklich will, kann ich es auch... Wer, ich? Ich kann gar nichts mehr... bin winzig klein, nur ein Schatten meiner selbst, mich gibt es nicht mehr, meinungslos, gesichtslos, ehrlos, lieblos, eigentlich schon tot. Wieso hab' ich Angst, wenn ich eigentlich schon tot bin? Kann der Tod schlimmer sein als das hier? Erstaunt stelle ich fest, dass er sogar eine Erlösung wäre.
Das unglaubliche Aha-Erlebnis danach setzt ungeahnte Energien frei. Plötzlich ganz klar, berechnend, unglaublich kalt plane ich alles bis ins Detail. Keine Szene, keine erneute Gewalt, keine Polizei, nichts, was die Kinder nur verstören würde. Nein. Ich werde gehen.
Einfach so. Ohne, dass er es merkt. Die Kinder und ich werden einfach weg sein. Verschwunden, in Luft aufgelöst, weg. Such' mich doch! Na komm schon, such' mich... ich hab' keine Angst mehr vor dir. Ich werde so oder so frei sein. Egal, was du tust. Flipp' aus,
besauf' dich, schlag alles kurz und klein, bring' mich um, bring' dich um, es ist mir egal. She's an eagle, when she flies...