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Kleiner schwarzer Vogel

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25.01.2017
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Kleiner schwarzer Vogel

Sie blickte aus dem Fenster. Es war ein grauer Tag. Es war ein kalter Tag. Schnee lag auf den Straßen, den Dächern, den Bäumen. Kalter, steifer Schnee. An vielen Stellen, besonders an den Rändern der Gehwege und mitten darauf, hatte er sich bereits wieder graubraun gefärbt. Dreckiger, alter Schnee. Unförmige Flocken fielen vom Himmel. Nein, sie fielen nicht, sie warfen sich geradezu in Todessehnsucht herab. Bald würden sie genauso hässlich sein, wie ihre verbrauchten Kameraden. Sie dachte daran, wie sie diesen heutigen Tag eigentlich hätte genießen können. Hätte sollen. Es war ihr Freier. Doch sie schaffte es einfach nicht diese Momente, im Hier und Jetzt tief verankert, vollständig auszukosten. Wenn sie daran dacht morgen wieder hinzumüssen … Alles in ihr sträubte sich dagegen: die Haare standen ihr zu Berge, ihr Bauch schmerzte und ihre Augen brannten mit heißen, salzigen Tränen gefüllt. Doch was half es schon über vergossene Milch zu klagen?


Ihr Blick blieb an einem schwarzen Etwas hängen. Es bewegte sich, dort unten. Sprang von einem Fleck zum anderen. Es war ein kleiner Vogel. Er versuchte die Krümel der letzten Zwischenmahlzeiten, hastig während des Dahineilens verschlungen, mit seinem etwas zu schief geratenen Schnäbelchen aufzupicken. Die Passanten gingen schnell an ihm vorüber. Kaum jemand, der sich noch einmal irritiert zu ihm umwandte. Keiner, der um seinetwillen stehen blieb und ihm zusah. Ihm vielleicht noch ein paar Brösel von der eben gekauften Semmel zerstreute. Dafür betrachtete sie ihn umso genauer. Wie er hin und hersprang. Sein Ziel stetig im Blick. Plötzlich raste ein Auto vorbei. Ein Polizeiwagen. Mit angeschaltetem Blaulicht. Das Geräusch seiner Sirene drang bis zu ihr hinauf. Der kleine, schwarze Vogel spannte seine Flügel an. Hob ab.


So frei wie dieser Vogel, dachte sie, müsste sie sein. Sie könnte gehen, nein, fliegen wohin sie wollte. Sie könnte sich einen Ort suchen, der ihr gefiele. Einen Ort ohne Last, ohne Verantwortung, ohne jemanden, den sie enttäuschen könnte. Einen Ort, an dem sie ganz und gar sie selbst sein könnte. Mit all ihren Freuden, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen! Sie würde sich niederlassen an einem See. Oder im dichten Wald? Niemals dort, wo sie wieder den engen Zwängen der Gesellschaft unterworfen sein würde. Und wenn es ihr irgendwann einmal am Ort ihrer Träume nicht mehr gefiele … dann, ja dann flöge sie weiter. Immer weiter. Der klaren, hellen Sonne entgegen. Durch die sie tragende und schützende Luft. Sie sah die Orte vor Ihrem geistigen Auge. Da, direkt unter sich! Häuser um Häuser, die sich aneinanderreihten. Kirchturmspitze um Kirchturmspitze, die weit emporragte. Und sie, sie allein war es, die über ihnen allen kreiste. In diesem Moment fühlte sie sich als Herrscherin der Welt. Glaubte selbst die höchsten Berge bezwingen zu können. Sie spürte, wie ihre Flügel, mit herrlich schwarzen Federn besetzt, sie sicher durch Raum und Zeit trugen. Flügel, auf die sie sich immer verlassen konnte. Flügel, die sie selbst in noch so ausweglos erscheinenden Situationen nie im Stich ließen. Einem plötzlichen Instinkt folgend, streckte sie ihre Arme in die Höhe, erhob sich von ihrem Platz und flog durch das Zimmer. Ja, schrie jede einzelne Faser ihres Körpers, ja ich will! Morgen, morgen beginnt mein Leben! Mein neues Leben! Mein neues Leben als kleiner, schwarzer Vogel! Morgen, ja morgen!


Der nächste Tag begann genau gleich, wie sein Vorgänger. Wolken, graue, schmutzige Wolken verdeckten das ganze zarte Himmelsblau. Todesbleiche Schneeflocken trudelten herab. Und die Luft verbrannte vor Kälte fast die Lungen. Sie nahm in der Früh zeitig ihren grauen Mantel vom Hacken und setzte sich ihre schwarze Haube auf. Zog die brauen Stiefel und die graublauen, selbstgestrickten Handschuhe an. Nahm den Schlüssel und schloss die Tür hinter sich ab. Sie lief hinunter in den Hof. Dort blieb sie stehen. Wendete einen hoffnungsschimmernden Blick gegen den Himmel – nichts. Sie rannte weiter. Zur Straßenbahn. Diesem grauenvollen Ort entgegen!

Sie kehrte erst am späten Nachmittag wieder. Langsam, sehr langsam setzte sie dabei einen Schritt vor den anderen. Vor der alten, schweren Kastanie im Hof sah sie ein Bündel liegen. Sie trat näher bis sie dicht vor ihm zu stehen kam. Es war der kleine, schwarze Vogel. Ihr Hoffnungsträger von gestern. Er war tot.

 

Hallo Elisalex,


herzlich willkommen bei den Wortkriegern.


Deine Geschichte ist schön und flüssig erzählt. Das Thema finde ich gut und passend zu dieser usseligen, tristen, düsteren Atmosphäre.

Was mich stört ist der letzte Satz der Geschichte. Damit löst du die Geschichte auf und das halte ich für einen Fehler. Überlasse dem Leser doch selber die Entscheidung, was dort auf dem Boden liegt oder ob der Vogel wirklich tot ist.

LG

betze

 

Hallo Elisalex,

nachdenkliche, traurige kleine Geschichte, angenehm leicht erzählt! Ich kann mich sofort in Deine Figur einfühlen, besonders beim derzeitigen Wetter ...
Hat mir gefallen!
Der letzte Satz hat mich nicht gestört. Für mich passt er gut zu der Hoffnungslosigkeit Deiner Figur.

Hier ein paar kleine Hinweise:

Es war ihr Freier
Es war ihr freier. Den Freier meinst Du ja wohl nicht. ;)

Doch sie schaffte es einfach nicht[,] diese Momente, im Hier und Jetzt tief verankert, vollständig auszukosten.

Wenn sie daran dacht[e,] morgen wieder hinzumüssen … Alles in ihr sträubte sich dagegen: [D]ie Haare standen ihr zu Berge, ihr Bauch schmerzte und ihre Augen brannten mit heißen, salzigen Tränen gefüllt.

Er versuchte[,] die Krümel der letzten Zwischenmahlzeiten, hastig während des Dahineilens verschlungen, mit seinem etwas zu schief geratenen Schnäbelchen aufzupicken

Du verpackst sehr viele Gedanken in unvollständige Sätze. Ich verstehe, dass das wie Nachdenklichkeit wirken soll. Mir wurde es ein wenig viel. Daher würde ich einige in die vollständigen Sätze drumherum integrieren.

Dafür betrachtete sie ihn umso genauer[, w]ie er hin und hersprang[, s]ein Ziel stetig im Blick. Plötzlich raste ein Auto vorbei[, e]in Polizeiwagen. Der kleine, schwarze Vogel spannte seine Flügel an[, h]ob ab.

Sie könnte gehen, nein, fliegen[,] wohin sie wollte

Und wenn es ihr irgendwann einmal am Ort ihrer Träume nicht mehr gefiele[, dann …] , ja dann flöge sie weiter[, i]mmer weiter[, d]er klaren, hellen Sonne entgegen[, d]urch die sie tragende und schützende Luft.

Glaubte[,] selbst die höchsten Berge bezwingen zu können

Der nächste Tag begann [genau gleich,] wie sein Vorgänger.

Beste Grüße
AlteHummel

 

Hallo Elisalex,

Ich finde es gut, dass Du nicht die ganzen Karten aufdeckst und deine zentrale Figur bis zum Schluß etwas geheimnisvoll bleibt, z.B. der "Beruf" wird nicht angesprochen.Dennoch hast eine Figur erschaffen, die keinen Tropfen Mitleid für sich und ihre Umgebung beim Leser erwecken kann. Eine Figur, die einsam vor sich hingammelt. Am liebsten möchte man als Leser weg von diesem geheimnisvollen Ort, von diesem geheimnisvollen depressiven Objekt. War das so gewollt von Dir?

Das zentrale Thema von deiner kurzen Geschichte ist der Ausbruch/Fluchtversuch des Protagonisten aus dem unglücklichen "Leben". Das Thema ist so uralt, wie die Welt selbst. Der Meister in diesem Fach war Genosse Anton Tschechov. Allerdings konnte er den Leser mit zahlreichen "positiven" Momenten ködern, die am Ende des Geschichte doch kein bisschen "positiv" waren. In deinem Fall holst Du zur Hilfe einen armen Vogel mit einem verkrüpelten Schnabel, das abschließend stirbt. Für mich ist dieser Versuch nicht so wirkungsvoll, da ich als Leser immer mit Depressivität der Frau "gefüttert" werde. So ist es ziemlich bald klar, dass kein Vogel in der Welt im Stande ist, diese Frau mit Meise im Kopf zu "heilen". Die Geschichte stellt kein Ereignis dar. Das Ende ist ziemlich vorhersagbar. Auch die GEschichte des Vogels. Also, eine GEschichte ohne Licht am Ende des Tunnels. War das so gewollt von Dir?

Das war zum Aufbau der Geschichte.

Das hatte ich eine kleine Inkompetenz bei deinem Erzähler festgestellt.

"Sie dachte daran, wie sie diesen heutigen Tag eigentlich hätte genießen können. Hätte sollen. Es war ihr Freier. Doch sie schaffte es einfach nicht diese Momente, im Hier und Jetzt tief verankert, vollständig auszukosten".

In diesem Fall wird ein (freier) Tag auf "Momente" reduziert. Das finde ich nicht so gut.

"So frei wie dieser Vogel, dachte sie, müsste sie sein. Sie könnte gehen, nein, fliegen wohin sie wollte. Sie könnte sich einen Ort suchen, der ihr gefiele. Einen Ort ohne Last, ohne Verantwortung, ohne jemanden, den sie enttäuschen könnte. Einen Ort, an dem sie ganz und gar sie selbst sein könnte. Mit all ihren Freuden, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen!"

Diese Aufzählung mit Freuden, Wünschen, Ängsten, HOffnungen widerspricht den vorangegangen Sätzen.

Viele Grüße

Herr Schuster

 

Hallo Elisalex,

mir gefällt die Geschichte ehrlich gesagt nicht so gut, sondern ich empfinde sie als ziemlich klischeehaft. Sowas hat man schon tausend mal gelesen. Das einzig Neue ist, dass du die Hoffnung als Vogel darstellst, wobei diese "wegfliegen" Metapher jetzt auch nicht unbedingt innovativ ist.

Einige Beschreibungen sind für meinen Geschmack etwas kitschig:

Nein, sie fielen nicht, sie warfen sich geradezu in Todessehnsucht herab.

Ich bin auch über zwei Worte gestolpert, die in dem Kontext eher deplatziert wirken:

Zwischenmahlzeiten

Hoffnungsträger

Vielleicht eher "ihre Hoffnung von gestern" oder so ähnlich.

Am Schreibstil sind mir jetzt keine großen Probleme aufgefallen und einige Beschreibungen fand ich ganz gut.

LG
KreativerName

 

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