Kleiner Engel ohne Haar
Herr Johann Harmsen kam mit gesenktem Kopf aus dem großen Bürokomplex. Seine braune Aktenledertasche, die er von seiner Frau Elsa damals zum ersten Hochzeitstag bekommen hatte, hielt er fest umklammert, so als könne sie ihm Halt geben.
Harmsen ging zur Bushaltestelle. Nachdem er dort wie jeden Tag die übliche Zeit gewartet hatte, kam der Bus der Linie 60 mit dem er sonst fuhr. Heute jedoch stieg er nicht in diesen Bus. Er wartete auf den Nächsten, stieg ein und setzte sich an einen Fensterplatz im hinteren Teil des Busses. Harmsen nahm seinen Hut ab und legte ihn neben sich. Er fuhr sich durch seine schon etwas lichten, grauen Haare. Er wusste nicht genau wohin der Bus fuhr, aber das war heute auch egal. Die Hauptsache war, der Tag nahm nicht seinen gewohnten Lauf, denn es war kein normaler Tag. Es war ein überaus schwarzer Tag, wenn nicht sogar der schwärzeste seines bisherigen Lebens.
'Ausgedient, ich habe anscheinend ausgedient, gehöre zum alten Eisen, zu Nichts mehr zu gebrauchen', dachte er und holte ein ordentlich gebügeltes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die Augen.
'Jahrelang hat man seine Arbeit gewissenhaft erledigt, war immer freundlich und zuverlässig und dann wird man einfach...'
"Darf ich mich setzen?" unterbrach die zaghafte Stimme eines kleinen Mädchens seine Gedanken.
"Ja, setz dich nur", antwortete er und starrte weiter aus dem Fenster ohne sich umzudrehen.
"Bist du traurig?"
Harmsen antwortete nicht.
"Ich heiße Katharina und wie heißt du?"
Harmsen drehte sich um, sah das Kind an und erschrak im ersten Augenblick. Die Kleine hatte keine Haare mehr. Sie waren nicht etwa abrasiert, sie waren ausgefallen, das konnte man sehen. Er schätzte sie auf etwa sieben Jahre. Sie war blass, hatte große, braune Augen und Sommersprossen auf der Nase.
Um sie nicht merken zu lassen wie sehr ihr Anblick ihn getroffen hatte antwortete er schnell:" Ich heiße Johann."
"Wo fährst du hin, Johann?"
"Ich weiß es noch nicht. Und du?"
"Ich weiß auch noch nicht wohin ich fahre."
"Es ist schon recht spät. Fährst du denn nicht nach Hause?"
"Nein", sagte die Kleine entschlossen. "Weißt du, wenn ich nach Hause fahre, muss ich morgen wieder zu dieser Therapie. Du weisst schon." Sie zeigte auf ihren kahlen Kopf. "Chemotherapie. Ich will das nicht mehr. Nie wieder."
Harmsen wusste nichts darauf zu sagen. Er hatte keine Erfahrung mit Kindern und schon gar nicht mit schwerkranken Kindern.
Aber auf einmal wurde ihm bewusst, wie klein und nichtig dagegen sein eigenes Problem war. Die Kündigung, die er heute bekommen hatte, hatte ihn zwar aus der Bahn geworfen, hatte sein gewohntes, geordnetes Leben durcheinandergebracht, aber was war das schon gegen das Schicksal dieses kleinen Engels.
Schweigend legte er den Arm um sie.