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Kleiner Engel ohne Haar

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04.06.2002
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Kleiner Engel ohne Haar

Herr Johann Harmsen kam mit gesenktem Kopf aus dem großen Bürokomplex. Seine braune Aktenledertasche, die er von seiner Frau Elsa damals zum ersten Hochzeitstag bekommen hatte, hielt er fest umklammert, so als könne sie ihm Halt geben.
Harmsen ging zur Bushaltestelle. Nachdem er dort wie jeden Tag die übliche Zeit gewartet hatte, kam der Bus der Linie 60 mit dem er sonst fuhr. Heute jedoch stieg er nicht in diesen Bus. Er wartete auf den Nächsten, stieg ein und setzte sich an einen Fensterplatz im hinteren Teil des Busses. Harmsen nahm seinen Hut ab und legte ihn neben sich. Er fuhr sich durch seine schon etwas lichten, grauen Haare. Er wusste nicht genau wohin der Bus fuhr, aber das war heute auch egal. Die Hauptsache war, der Tag nahm nicht seinen gewohnten Lauf, denn es war kein normaler Tag. Es war ein überaus schwarzer Tag, wenn nicht sogar der schwärzeste seines bisherigen Lebens.

'Ausgedient, ich habe anscheinend ausgedient, gehöre zum alten Eisen, zu Nichts mehr zu gebrauchen', dachte er und holte ein ordentlich gebügeltes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die Augen.
'Jahrelang hat man seine Arbeit gewissenhaft erledigt, war immer freundlich und zuverlässig und dann wird man einfach...'
"Darf ich mich setzen?" unterbrach die zaghafte Stimme eines kleinen Mädchens seine Gedanken.
"Ja, setz dich nur", antwortete er und starrte weiter aus dem Fenster ohne sich umzudrehen.
"Bist du traurig?"
Harmsen antwortete nicht.
"Ich heiße Katharina und wie heißt du?"
Harmsen drehte sich um, sah das Kind an und erschrak im ersten Augenblick. Die Kleine hatte keine Haare mehr. Sie waren nicht etwa abrasiert, sie waren ausgefallen, das konnte man sehen. Er schätzte sie auf etwa sieben Jahre. Sie war blass, hatte große, braune Augen und Sommersprossen auf der Nase.
Um sie nicht merken zu lassen wie sehr ihr Anblick ihn getroffen hatte antwortete er schnell:" Ich heiße Johann."
"Wo fährst du hin, Johann?"
"Ich weiß es noch nicht. Und du?"
"Ich weiß auch noch nicht wohin ich fahre."
"Es ist schon recht spät. Fährst du denn nicht nach Hause?"
"Nein", sagte die Kleine entschlossen. "Weißt du, wenn ich nach Hause fahre, muss ich morgen wieder zu dieser Therapie. Du weisst schon." Sie zeigte auf ihren kahlen Kopf. "Chemotherapie. Ich will das nicht mehr. Nie wieder."
Harmsen wusste nichts darauf zu sagen. Er hatte keine Erfahrung mit Kindern und schon gar nicht mit schwerkranken Kindern.
Aber auf einmal wurde ihm bewusst, wie klein und nichtig dagegen sein eigenes Problem war. Die Kündigung, die er heute bekommen hatte, hatte ihn zwar aus der Bahn geworfen, hatte sein gewohntes, geordnetes Leben durcheinandergebracht, aber was war das schon gegen das Schicksal dieses kleinen Engels.
Schweigend legte er den Arm um sie.

 

Moin Tiny.

Auch dir ein recht herzliches Willkommen auf Kg.de :prost:

Deine Geschichte hat mir gut gefallen. Am Anfang hatte ich leicht Schiß, dass die Geschichte in einen Selbstmord des armen, bedauernswerten und gekündigten Johann endet, aber dem war/ ist ja nicht so, zum Glück!!!
Denn da kam noch ein viel bedauernswerterer Engel. Traurig, wirklich traurig, aber trotzdem, oder gerade weil, richtig schön.

Deine Geschichte hat mir gefallen, obwohl ich nicht so der Fan von "Moral-unter-die-Nase-reib-Geschichten" bin, aber der letzte Satz versöhnt mich.

Die Hauptsache war, der Tag nahm nicht seinen gewohnten Lauf, denn es war kein normaler Tag.
Die Hauptsache war, dass der Tag nicht seinen gewohnten Lauf nahm, denn...
(klingt ein bißchen runder, oder?)

'Ausgedient, ich habe anscheinend ausgedient, gehöre zum alten Eisen, zu Nichts mehr zu gebrauchen', dachte er und holte ein ordentlich gebügeltes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die Augen.
'Jahrelang hat man seine Arbeit gewissenhaft erledigt, war immer freundlich und zuverlässig und dann wird man einfach...'
Da mußt du die Anführungszeichen noch ändern.
(Ach ja. Deine Geschichte kannst du mit dem Button "Editieren"-oben rechts über deiner Geschichte, bei Profil, Geschichten, etc., verbessern und ändern!)

Um sie nicht merken zu lassen wie sehr ihr Anblick ihn getroffen hatte antwortete er schnell:" Ich heiße Johann."
... ihn getroffen hatte, antwortete...

Ja, bitter-süße Geschichte, hat mir gefallen. Hoffe bald noch mehr von dir hier lesen zu können.

Lieben Gruß
Maya

[ 04.06.2002, 22:46: Beitrag editiert von: Maya20 ]

 

Hi!

Auch mir hat die Geschichte gefallen! Wenn ich auch ein bißchen über ihre Kürze enttäuscht war... :( Meiner Meinung nach hättest Du da leicht 7 Seiten draus machen können... :D

Aber es ist eine schöne Geschichte. Und ich finde nicht, daß hier die Moral unter die Nase gerieben wird. Es ist einfach das pure, wahre Leben. Und das ist der richtige Horror.

Gruß,
stephy

 

hi tiny,
herzlich willkommen auf kg.de.
eine schöne geschichte nach meinem geschmack (das war klar *g*).
leider ist sie wirklich sehr kurz. wegen dieser kürze ist diese geschichte tatsächlich auf eine moral hin ausgerichtet - der schwerpunkt liegt hier im vergleich zweier schicksale und die frage über den wert des selbstmitleids.
hätte die moral verhindert werden müssen, dann wäre es erzwungen gewesen, die geschichte weiterzuschreiben. johann hätte sich des kindes annehmen müssen - aber die geschichte endet im vergleich.
nun finde ich moralintentionen gar nicht schlecht :) - sie sind ja gang und gebe in alltagsgeschichten.
ich mag deinen leichten schreibstil - aber wie gesagt, die geschichte hätte ruhig länger sein können :) !
barde

 

Hallo tiny,
Deine Geschichte ist die erste an meinem heutigen Tag. Und auch wenn sie traurig ist, zeigt sie einem wie oft man sich doch mit Nichtigkeiten im Leben aufhält.

Sehr schön und freue mich auf Deine nächste Geschichte.

Gruß, AZAD

 

Hallo,
habe mich sehr über Eure Meinungen zu meiner Kurzgeschichte gefreut. Ich hatte Kg erst gestern entdeckt und gedacht, dass ich meine Kurzgeschichten doch mal da hineinsetze. Ich finde es wirklich gut, Kritik und Meinungen über meine Kurzgeschichten zu hören. So geht es wohl jedem Schreiber.

Gruß
tiny

 

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