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Kleine vertrocknete Region
Ich wünschte, mein Mund wäre eine kleine vertrocknete Region. Eine Einöde der Taubheit. Zone der absoluten Gefühlsleere.
Ich sitze im Schneidersitz am Strand und stopfe mir händeweise Sand in den Mund. Er knirscht zwischen meinen Zähnen und schmeckt ekelhaft. Feucht und modrig. Warum ich das tue? Weil ich Hunger habe.
Irgendwo hinter mir muß Karla sein, die versucht eine der Gigantomiesmuscheln zu öffnen. Ich kann sie keuchen hören. Dann ein scharfes Knacken und ein schrilles Pfeifen. Sie hat auch Hunger, aber der Sand ist nichts für sie. Der ist für mich allein da.
Hinter mir beginnt Karla zu würgen und kotzt schließlich lauthals übel stinkende Brühe aus. Ich sehe es nicht, will es gar nicht sehen, aber der Gestank und die Kotzlaute reichen mir. Ein paar Minuten herrscht Ruhe, dann beginnt sie zu essen. Schlürfend und schmatzend. Eigentlich widert sie mich an, aber ich kann mir meine Gesellschaft momentan nicht aussuchen.
Endlich hört das Schlürfen auf und ich höre, wie sie sich mit federnden Schritten nähert und sich hinter mich in den Sand wirft. Ihre Arme schieben sich unter meinen durch und sie umklammert meine Brust, drückt sich gegen meinen Rücken. Wenn sie mir so nahe ist, kann ich die Brühe in ihr riechen und wünschte mir bei Gott eine Packung Kaugummis oder wenigstens ein paar TicTac her.
Wir kennen uns seit drei Jahren, haben uns in der Uni kennen gelernt. Damals ging es um ein Projekt. Es waren etwa zwanzig Probanden, wenn ich mich recht erinnere. Alle kerngesund und in meinem Alter. Nichts Aufregendes, nur Tests mit neuen Medikamenten. Ein paar bekamen etwas gegen Bluthochdruck, andere gegen Kopfschmerzen und ich war in der Magenschmerzengruppe.
Mit Karla, Josh und den vierten Namen habe ich vergessen.
Was die Kopfschmerz- und Bluthochdruckleute machen mußten, weiß ich nicht, aber wir durften essen wie die Schweine. Egal ob deutsch, chinesisch, italienisch, türkisch, griechisch oder marokkanisch, was es gab, wurde gegessen, bis unsere Mägen revoltierten. Und dieses neue Zeugs wirkte klasse. Wir aßen, wir litten, wir nahmen unsere Pillen und wir aßen weiter. Das ging gut bis zum vierten Tag. Da erwischte es den namenlosen Typen. Und mit ihm den größten Teil der Weltbevölkerung.
Wir hatten das Wettrüsten des Kalten Krieges überlebt, wir hatten die unausgesprochenen Drohungen von Ost und West überlebt, wir hatten das Millennium und den vorhergesagten Computercrash überlebt, aber wir überlebten den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht.
Ich behaupte immer noch steif und fest, daß bestimmt eines dieser sozialarmen Computerkinder sich in einen Rechner der sowjetischen oder amerikanischen oder sogar der chinesischen Streitkräfte einklinkte und bums, hatten wir den dritten Weltkrieg.
Die menschliche Auslöschung erfolgte nicht ganz, dank der stetig vorangetriebenen Abrüstung, aber Amerika ist wirklich tot, denn es bekam immer noch einen Großteil der sowjetischen und fast alle chinesischen Raketen ab. Europa blieb halbwegs heil, es verirrten sich nur wenige Raketen hierher.
Wir waren gerade in der Uni und beendeten unser Frühstück mit ein paar Pillen. Alle dösten mit vollem Magen und geschlossenen Augen vor sich hin, nur unser namenloser Kamerad sah aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach. Er war diese Art verträumter Intellektueller. Plötzlich donnerte es und ein greller Blitz zuckte durchs Zimmer, oder andersrum, ich weiß nicht mehr genau, wir alle kippten vor Schreck von den Stühlen und das war unsere Glück, denn kurze Zeit später flogen uns die Fenster um die Ohren. Der Krach machte uns alle für Stunden taub.
Unsere namenloser Kamerad hatte den Blitz in der ersten Reihe verfolgen können und war praktisch schon blind, bevor er vom Stuhl kippte. Panisch versuchte er den Raum zu verlassen, wollte Schutz suchen oder etwas ähnlich Idiotisches. Er lief auf den Flur, prallte gegen das Treppengeländer und stürzte fünf Stockwerke tief. Und da soll noch jemand sagen Gott würde gute Ironie nicht schätzen.
Aus und vorbei für ihn.
Wir anderen überlebten, sterben aber auf Raten vor uns hin. Josh war als erster dran. Er drehte durch, als ihm ein andere Überlebender eine Zigarette verweigerte. Sie brachten sich gegenseitig um und Karla und ich nahmen uns die Kippen. Das war vor einem Jahr oder so.
Ich fing drei Tage nach dem großen Knall wieder an zu rauchen, Karla hatte nie aufgehört. Egal ist eben egal.
Inzwischen habe ich seit drei oder vier Monaten niemanden mehr gesehen.
Nur noch Karla und ich. Karla und ich. Karla. KarlaKarlaKarla.
Eigentlich dachte ich immer, Atombombe bedeutet Strahlung und Strahlung bedeutet Spielende. Naja, offenbar hat Gott trotz vollzogener Apokalypse seinen Humor nicht verloren, denn wir beiden leben nach drei Jahren immer noch. Er hat nur die Spielregeln etwas verändert - ich esse Sand und Karla kotzt auf ihr Essen.
Ich werfe einen Blick nach hinten, sehe an Karla vorbei nach der Miesmuschel. Sie ist etwa einen halben Meter hoch und voller Fleisch. War sie jedenfalls bis vor ein paar Minuten. Karla lächelt mich mit ihrem alte-Frau-Lächeln an. Sie hat keine Zähne mehr. Sie streckt die Zunge heraus, die fleckig und braun aussieht, und prustet. Speichel trifft mein Gesicht, stinkender Speichel. Ihre Stimmbänder sind hinüber. Diese stinkende Brühe in ihr hat sie verätzt. Nur ihre Zunge hat sie noch, weiß der Teufel warum. Gottes Humor, schätze ich damit sie sich mitteilen kann. Wenn man das Mitteilungen nennen möchte. Sie frißt wie ein Monster. Kotzt auf ihr Essen und trinkt es. Ich kann immer noch nicht glauben, wie sie dieses scheußliche Zeug trinken kann. Hält sich die Nase zu und schüttet die Suppe einfach in sich hinein. Schlürfend. Schmatzend.
Ich schlucke die nächste Ladung Sand hinunter und stopfe neuen nach. Mein Magen kann inzwischen alles verdauen. Egal ob eßbar oder nicht eßbar, ich kann alles essen. Keine Ahnung wie er daraus Nährstoff zieht, aber es geht. Ich bin nicht wie Karla auf Fleisch oder Pflanzen angewiesen. Ich könnte auch eine Miesmuschel essen, aber von Muscheln wurde mir schon immer schlecht. Also esse ich Sand.
Karla hält mich fest im Arm. Obwohl sie hart genug ist, mit diesem neuen Leben umzugehen, dieses neue Leben zu akzeptieren, braucht sie menschliche Nähe. Aber sie stinkt so furchtbar. Und dann ihre Laute. Ohne Stimmbänder kann sie nur noch mit der Zunge prusten, klatschen, trampeln und pfeifen. Ich komme mir vor wie Robinson Crusoe und sie ist mein Freitag. Hört sich das verrückt an?
Wir werden morgen weiterlaufen, immer Richtung Osten. Warum gerade Osten, weiß ich nicht. Ist genauso gut wie alles andere. Vielleicht treffen wir unterwegs wieder ein paar Leute. In den großen Städten leben noch ein paar. In diesen großen Steinwüsten gibt es immer noch Leben.
Karlas Atem weht an mir vorbei und die nächste Ladung Sand bleibt mir im Hals stecken. Ich denke an morgen und an die nächsten Tage. An die Steinwüsten von Großstädten, die wir durchqueren wollten. Wird sie etwas zu essen finden?
Ihre Arme schließen sich fester um mich und sie lehnt den Kopf gegen meinen Rücken, atmet tief ein. Rieche ich gut? Rieche ich besser als die Muschel? Schmecke ich besser als die Muschel?
Ich sehe die Handvoll Sand an. Fressen oder gefressen werden? Er schmeckt mir nicht, also werfe ich ihn zurück.
Ich wünschte, mein Mund wäre eine kleine vertrocknete Region. Ich wünschte, ICH wäre eine kleine vertrocknete Region. Eine Einöde der Taubheit. Zone der absoluten Gefühlsleere.