Kleine Spielchen
„Ich springe!“, drohte er, und eine gewisse Ernsthaftigkeit breitete sich über seinem Gesicht aus. Warum auch nicht? Er hatte nichts mehr zu verlieren. Nur innerlich grinste er.
„Oh mein Gott! Tu es nicht, bitte!“, flehte sie ihn an. Sie liebte ihn, aber sie grinste ganz offensichtlich. Breit. Von einem Ohr zum anderen.
„Doch“, sagte er, „und niemand wird mich davon abhalten. Hier ist mein Abschiedsbrief.“ Er kramte in seinen Taschen herum und fand irgendwo noch einen alten Einkaufszettel, den er ihr gab. Sie lachte sich inzwischen halbtot. Sie nahm den ‚Brief´ und tat so, als würde sie lesen und versuchte, ein ernsthaftes Gesicht zur Schau zu stellen, ob der garstigen Worte, die sich auf dem Einkaufszettel befinden sollten. Sie sah ihn an und sprach:
„Oh, mein Liebster. Warum hast du mir deine Liebe nicht schon früher offenbart? Laß’ uns neu beginnen. Es ist noch nicht zu spät.“
Jetzt musste er auch heftig grinsen. Sie spielte wunderbar mit. Eben noch spazierten sie beide gemütlich durch die Straßen, und nun inszenierten sie hier ein Selbstmordszenario, wie es auch aus Hollywood hätte stammen können. Er sah hinunter und erblickte den Asphalt der Straße. Dort würde er landen nach seinem Sprung. Wie hart würde er aufschlagen? Wie lange würde er fliegen? Er wusste, daß er es nur herausfand, wenn er es wirklich tat.
„Also, ich springe jetzt“, sagte er zu ihr. Ein letztes Mal.
„Okay mein Liebling. Ich werde dich nicht aufhalten. Du hast deine Entscheidung getroffen, aber ich werde dich nie vergessen. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch.“ Er warf ihr noch einen Handkuss zu und sprang.
Nur den Bruchteil einer Sekunde flog er. Und er schlug wahrlich butterweich auf dem Asphalt auf. Bei einem ´Sprung´ von einem Kantstein ist die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung, bei einem erwachsenen Mann, nun mal sehr gering. Ihm passierte absolut nichts.
Beide fingen lauthals zu lachen an. Sie liebten diese kleinen Spielchen, die sie sich zwischendurch immer mal wieder ausdachten. Es machte ihnen riesigen Spaß, sich kleine Szenarien auszudenken und durchzuspielen. Sie hatten sich nie abgesprochen. Einer fing mit irgendetwas an, und der andere machte mit, so gut er eben konnte.
Sie kugelte sich immer noch vor Lachen, als er wieder von der Straße aufstand. Sie lachte immer noch, sogar lauter als vorher, als er auf dem nassen Beton ausrutschte und irgendwie plump auf dem Bauch landete. Er blieb liegen und bekam sich nicht mehr in den Griff vor Lachen. Er lachte Tränen, die ihm über die Wange liefen und salzig schmeckten. Er kam einfach nicht mehr hoch. Der Lachanfall hatte ihn erwischt. Mitten im Liegen. Mitten auf der Straße.
Der Fahrer des roten Doppeldeckerbusses, so einer mit dem hier in Hamburg die Stadtrundfahrten durchgeführt werden, hatte wirklich keine Chance zum Ausweichen gehabt, nachdem er um die Ecke gebogen kam und den jungen Mann dort auf der Straße liegen sah.