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Kleine Selbstmordgedanken
In einem Zug auf dem Weg nach Stockholm, im hintersten Wagon: Eine Gruppe pubertierender Siebtklässler. Die Mädchen kichern, die Jungs auch. Aufregend ist das, so eine Klassenfahrt. Das Leben hat gerade erst angefangen!
Zwei Reihen weiter sitzt ein Mädchen. Dreizehn. Das ist Emely. Sie sitzt alleine, das will sie so! Sie schreibt nämlich was Geheimes, was Privates, was Tiefes … Das würden die anderen nicht verstehen. Sie schreibt es langsam, mit einem melancholisch bedeutsamen Blick. Die Beine hat sie angewinkelt und das Loch in ihrer schwarzen Strumpfhose dehnt sich über ihr rechtes Knie. Ihre schwarz gefärbten Haare hängen ihr ins Gesicht. Blond will sie nicht sein, das sind doch alle anderen schon, alle die sie nicht verstehen! „Ich bin halt anders“
Sie hört Nirvana. Absichtlich laut. Darüber ist sie sich bewusst. Sie macht das aus Trotz und weil man das laut hören MUSS. Nirvana wollte, dass man sie laut hört. Das weiß Emely, weil sie Nirvana versteht. „Ich bin die Einzige“
“He´s the one, he likes all our pretty songs and he likes to sing along and he likes to shoot his gun, but he don´t know what it means” – “GENAU”
Emely will auch Künstler werden wie Kurt Cobain. Sie denkt sich tiefe Bedeutungen in alltägliche Objekte, auch in sich Selbst. „Behind her smile she swallows tears“ – Das verstehen die blonden Mädchen nicht!
Ein bisschen genervt ist Emely schon auch, dass da niemand ist, der sie versteht. Dass da niemand neben ihr sitzt. – Sie schreibt: „Ich hasse mein Leben!“ Sie schaut nach oben. Da hängt eine grell leuchtende Lampe. Da soll man nicht reinschauen, das ist schlecht für die Augen, das weiß Emely. Sie macht es trotzdem. Aus Trotz und weil sie da drin jetzt was sieht, in der Lampe. Da sind kleine schwarze Flecken, die analysiert sie. Das sind Fliegen, tote Fliegen, gestorben von zu viel Licht. Das ist poetisch, das macht so viel Sinn! Sie bekommt Kopfweh und schaut wieder weg.
„Ich mag das Licht auch nicht“, denkt sie. „Lieber mag ich die Dunkelheit“
Emely denkt an den Tod.
Wenn Emely an den Tod denkt, fällt ihr immer als erstes der Typ aus ihrer Straße ein.
Ein 17- jähriger, dünner Junge mit müden Augen. Sie hatte nie mit ihm geredet, aber eines Tages hat man ihn auf den Schienen neben ihrem Haus gefunden. Alle haben über ihn geredet, Emely nicht. Emely kannte ihn fast nicht, sie konnte sich nicht einmal mal mehr an seinen Namen erinnern, aber sie hatte sich eingebildet eine Art Verbindung zu ihm zu haben. Er hatte sie immer so lange angestarrt, ohne einen Ausdruck. Emely mochte das. Als würde er in ihre Seele schauen, hatte sie sich gesagt.
Aber dann war er tot.
Und Emely war erst schockiert, dann war es ihr egal und irgendwann spürte sie Eifersucht.
So viele Meschen redeten über ihn. Er war ein Mysterium, für all die glücklich einfachen Dörfler. „Warum bringt sich so ein junger Mann um? Er hat noch sein ganzes Leben vor sich!“ „Wie kommt es nur so weit?“ „Was hätten wir tun können?“ „Meint ihr es liegt an den Drogen?“ „Wie konnten wir nur nichts merken?“ – „Vielleicht konnte er nichts mit der Oberflächlichkeit der Welt anfangen“ dachte Emely „Wie ich.“
Emely wollte nicht eifersüchtig sein, das war schrecklich, das wusste sogar sie, aber sie spürte es: in der Brust und im Herz.
Der Gedanke an Selbstmord wurde mit dem Tod von ihrem Nachbarn in Emelys Kopf gepflanzt und jetzt saß er dort und kam hoch wann immer er wollte. Erst nur ganz klein: Mal beim Spülen, mal in der Schule und irgendwann ein bisschen größer, ein bisschen öfter, aber er wuchs nie so groß, dass sie ihn nicht nach ein paar Minuten wieder hätte verwerfen können. Es blieb ein Gedanke. Irgendwann war es ihr Gedanke, sie hatte ihn irgendwann als ihren eigenen erklärt. Er gehörte nicht länger dem Jungen aus ihrer Straße, dieser Gedanke gehörte ihr, er entsprang ihrem Leid. Das sagte sie sich.
Jetzt sitzt Emely am Fenster im Zug und der Gedanke ist wieder da. Er kam mit den toten Fliegen, er kam mit dem Licht. Der Gedanke fing an mit: „Was wäre, wenn…?“ und endete mit „Ich könnte…“ Normalerweise verwarf Emely ihn dann ganz schnell wieder. Vor allem weil sie dann Angst bekam. Diesmal nicht, diesmal spürt sie in diese Angst.
Herz-pochen, schneller, noch schneller, Schwitzen, Zittern, angespannte Glieder. Sie schließt die Augen. Sie liegt auf den Schienen und lauscht in die Stille. Sie hat Angst und sie wartet. Sie wartet lange. Eine Minute, zwei Minuten, Fünf … Sie stellt sich vor wie sie ein letztes mal an ihr Leben denkt, an ihre Geschwister, ihre Eltern, „Mama!“. Die Gleise vibrieren, der Zug kommt näher, er hupt, leuchtet auf und…
...hält ruckartig an. Emely öffnet die Augen. Sie sitzt, die Beine angewinkelt, sicher auf ihrem Platz im Zug, auf dem Weg zur Klassenfahrt. Sie atmet schwer, fast muss sie weinen. Sie wünscht sich in die Arme ihrer Mutter, plötzlich vermisst sie die. Sie will ihr sagen, dass sie sie liebt. Sie will beschützt werden, vor allem vor sich selbst.
„Was wenn ich die Kontrolle verliere?“
Ihr fällt der Name des Jungen wieder ein: Timo. „Er hatte die Kontrolle nicht.“
Sie denkt daran wie aufgelöst seine Mutter war, wie zerstört ihr Leben, ihr Blick, wenn man ihr auf der Straße begegnet ist.
Emely kommt sich klein vor und dumm! Vor allem aber alleine. „Ich will das nicht!“, denkt sie.
„Ich bin anders“