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Kleine Schwester
Sie saß auf dem Sattel, aber ihre kurzen Beinchen reichten nicht bis an die Pedale. Das rosa Miss Ketty-Fahrrad wurde von einem älteren, vielleicht achtjährigen Mädchen gehalten, sehr schick im rosa Ballerinen-Tüllröckchen, eine Tüte mit der Aufschrift Princess am Arm. Vielleicht war es ihr Geburtstag, das Fahrrad sah neu aus. Das jüngere Mädchen war unauffälliger in Röckchen und Shirt gekleidet. Im Vergleich wirkte sie fast etwas schäbig.
Die Große begann die Kleine, ziemlich wacklig und schief, auf dem Fahrrad herum zu schieben. Schnell wurde beiden klar, dass das so keine besonders lustvolle Aktivität war. Also wurde die Kleine gekonnt herunter gehoben und schwungvoll auf den Gepäckträger verfrachtet, bevor die Besitzerin selbst aufstieg. Sie schienen ein eingespieltes Team zu sein. Vielleicht Schwestern, dachte die junge Journalistin, die in der Nähe im Café saß. Die eine hatte das Sagen, die andere war derselben Meinung, als könne das gar nicht anders sein.
Sie musste lächeln. Sie war selbst eine große Schwester. Und obwohl sie Kira nur noch sporadisch sah: Dieses „Große Schwester-Kleine Schwester-Ding“ wurde man wohl nie ganz los. Im Grunde war es sogar die einzige Art, in der sie ihrer Schwester tiefer begegnen konnte: Wenn Kira sich mal wieder in eine Situation manövriert hatte, in der sie an ihre Hilfe appellierte und sie, Edna, herbei sprang und gute Ratschläge gab. Ansonsten lebten sie in zu verschiedenen Welten, als dass sich ein Austausch über etwas anderes als Familieninterna gelohnt hätte. Ihre eigenen Probleme waren nie ein Thema zwischen ihnen gewesen, da Kira keine Erfahrungswerte zu haben schien, die sich auf Ednas Lebenswelt hätten anwenden lassen. Und als große Schwester war man wohl automatisch so gepolt, dass man seine Schwierigkeiten selbst löste. Auch wenn es manchmal nett wäre, einfach jemanden fragen zu können, wenn einem selbst nichts einfiel ...
Während Edna einen Schluck von ihrem frisch gepressten Orangensaft nahm und versuchte, sich wieder auf das bunte, italienische Leben der Umgebung zu konzentrieren, begannen die beiden Kinder um den Platz zu radeln, der von ihrem Tisch aus nur zum Teil einsehbar war. Minütlich rauschte Miss Ketty vorbei, flatterte die Princess-Tüte am Lenker, gaben sich zwei wonnevolle Gesichter ganz dem Vergnügen des Radfahrens hin. Dann, als sie gerade wieder außer Sichtweite waren, ein metallisches Scheppern. Mehrere über das Café verteilte Erwachsene fuhren auf und schimpften in südländischer Impulsivität in die Richtung, aus der der Krach gekommen war. Es hatte etwas Komisch- Übertriebenes, wie aus einem Jaques-Tati-Film. Ob die Mädchen irgendwo gegen gefahren waren, etwas kaputt gemacht hatten? Kurze Zeit später sah Edna, wie sie sich in ziemlichem Abstand zueinander verdrückten. Das Rad wurde von der Großen geschoben, am Fahren schien alles Interesse erloschen und aneinander ebenso. Nur noch getrennt traten sie ab und an in Erscheinung, undeutlichen Beschäftigungen auf der Straße unterhalb des Platzes nachgehend.
Schade, dass die Ablenkung vorbei war. Edna seufzte und wandte sich wieder dem unschönen Erlebnis zu, von dem sie sich hier hatte erholen wollen. Dem Problem, für das sie eine Lösung finden musste. An einer Vorzimmerdame zu scheitern, war wirklich jämmerlich, aber darauf, dass eine Museumssekretärin kein Englisch verstand, war sie nicht vorbereitet gewesen und ihr mündliches Italienisch war zugegebenermaßen holprig. Unter den hochgezogenen Augenbrauen der Dame hatte sie mit einigem Stocken ihr Anliegen vorgebracht: ein Interview mit dem Kurator über die aktuelle Ausstellung, eine Bitte um Einsicht in die Quellentexte. Sie wisse von keinem Termin, hatte die Sekretärin behauptet und sie von oben bis unten gemustert, als wäre sie eine Hochstaplerin. In wessen Auftrag sie denn arbeite? Der Name des Magazins, das Edna ihr nannte, sagte ihr nichts. Es sei ein Start-Up, versuchte Edna zu erklären, ein Online-Magazin. Das reichte. Unbekannte Medien müssten erst geprüft werden, erfuhr sie. Und ohne sehr gutes Italienisch sei sie sowieso nicht qualifiziert, über die Hintergründe der Ausstellung zu schreiben. Das sehe der Kurator hundertprozentig genauso und seine Zeit sei zu knapp, um verschwendet zu werden.
Edna war die Luft weggeblieben angesichts dieser Abfuhr. Ihr passiver Wortschatz reichte durchaus, um die Quellen zu verstehen, da war sie sicher, und der Kurator sprach Englisch, das wusste sie. Diese Argumente überzeugend und energisch auf Italienisch vorzubringen, war ihr aber wohl trotzdem nicht geglückt. Sie werde eine Antwort per Mail erhalten, hatte die Sekretärin kurz angebunden geantwortet, mit ihren bräunlich lackierten Nägeln Ednas Visitenkarte gekrallt, und sich wieder dem Computer zugewandt, als wolle sie die Ablehnung sofort schreiben. Wann sie mit dem Kurator sprechen werde?, hatte Edna noch nachzuhaken versucht und sich blöderweise sofort wieder im Italienischen verhaspelt. „Subito!“ war die stoische Antwort gewesen. Und den Abschiedsgruß hatte sie glatt überhört, die blondgefärbte Zicke!
Edna zerbrach sich den Kopf. Was konnte sie tun, wenn sie eine negative Mail erhielt? Oder gar keine? Wie lange sollte sie warten? Ihr Budget war begrenzt, sie konnte sich nicht länger als ein paar Tage in Neapel aufhalten. Sollte sie nochmal hingehen? Aber sich anzubiedern war nicht ihre Art. Sie hasste es, sich wie eine Bittstellerin vorzukommen. Unschlüssig seufzte sie und beschloss, dass sie eine weitere Spremuta brauchte. Als sie mit dem Glas aus dem Inneren des Cafés zurückkam, bemerkte sie, dass die Kleine von vorhin wieder da war.
Im Schlepptau mehrerer Frauen und eines großäugigen Babys im Kinderwagen war ein etwa gleichaltriges Mädchen angekommen, für das sie sich offenbar interessierte. Während sich die Erwachsenen locker um einen Cafétisch gruppierten, war das sehr zarte Kind im weißen Kleidchen mit Blumenspange im Haar unschlüssig neben dem Kinderwagen stehen geblieben. Die kleine Schwester kurvte um sie herum und stellte sich mit in die Hüften gestemmten Ärmchen vor sie hin, beugte sich, selbst kaum größer, zu ihr herab und begann mit schräg gelegtem Kopf auf sie einzureden - in einer künstlichen, mit übertriebenem Kopfnicken gepaarten Munterkeit, die an alte Tanten vor einem Kinderwagen erinnerte. Die Angesprochene wand sich verlegen hin und her und schaute an ihr vorbei. Da drückte die Kleine mit einem Mal den Rücken durch, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen und stampfte hoch erhobenen Hauptes davon, wie jemand, der wichtige Geschäfte zu erledigen hat. Nur um kurze Zeit später heimlich hinter dem Rücken des Mädchens wieder aufzutauchen, sie rechts und links in der Taille zu packen und mit einem lauten Buuh! zu erschrecken.
’Netter Versuch!’, dachte Edna ein bisschen peinlich berührt. Ganz offensichtlich hatte die Kleine sich gemerkt, was Erwachsene Lustiges mit ihr selbst veranstaltet hatten und spulte jetzt auf Teufel komm raus ihr Repertoire ab, ohne zu spüren, wie unnatürlich sie rüber kam. Vielleicht war die Fahrradepisode mit der großen Schwester irgendwie demütigend für sie ausgegangen und sie wollte nun mit aller Macht beweisen, dass sie auch etwas darstellen konnte.
Das scheue Kind hatte sich ein wenig stumpf umgewandt und lächelt immerhin höflich, als
es den Annäherungsversuch der kleinen Schwester erkannte. Aber von Seite der zugehörigen Erwachsenen hatte man sich gegen sie entschieden. Ein undurchlässiger Stuhlkreis wurde gebildet und die eigene Kleine, der man ein Eis am Stiel verpasste, darin festgeklemmt.
’Keine Chance!’ dachte Edna. ‚Vielleicht bist du ihnen nicht fein genug. Oder sie mögen es nicht, wie du dich aufdrängst!’ - Die kleine Schwester schien es einzusehen und verschwand eine Weile vom Platz.
Bis sie unvermutet mit einem schicken kleinen Becher wieder auftauchte. Durch seine durchsichtige Oberfläche schimmerte eine raffinierte schoko-marmorierte Eisleckerei. Da ihr ursprüngliches Zielobjekt unerreichbar war, begann sie nun vor dem Kinderwagen herumtänzelnd elegant mit langem Stiehl ihr Eis zu löffeln, zeigte dem nicht besonders interessierten Baby einen gefüllten Löffel, um dann den Kopf zu schütteln: ‚Nein - du bist für so etwas noch viel zu klein!’ - und ihn mit falschem Bedauern in ihren eigenen Mund zu schieben.
’Hast du das wirklich nötig?’, dachte Edna. ‚Wie weit willst du es treiben, bis du einsiehst, dass dich hier keiner will?’ Die Kleine lutschte nachdenklich ihr Eis und schien sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Doch sie kam zu einem anderen Ergebnis als Edna, wandte sich kollegial wie eine Erwachsene an eine der Stuhlkreisfrauen und stellte ihr eine auf Baby und Eis bezogene Frage. Mit leicht angewiderter Mundwinkelsenkung und arrogantem Kopfschütteln kam die Antwort.
’Gib auf!’, dachte Edna. ‚Mach dich nicht länger zum Affen! Nicht für diese blasierte Gesellschaft. Du kriegst sie nicht rum.’
Sie erhob sich und nahm ein Cornetto aus der gekühlten Truhe vor dem Café, das sie drinnen bezahlte. Es dauerte ein paar Minuten, bis der Barista alle Kunden bedient hatte. Als sie zu ihrem Tisch zurückkehrte, konnte sie im ersten Moment weder die kleine Schwester noch das andere Kind entdecken.
Dann sah sie zu ihrer Überraschung, dass beide begonnen hatten, um den Platz zu rennen, den vorher das Fahrrad umrundet hatte. Eine in Sichtweite der anderen und in einer Weise auf sie bezogen, bei der immer der Platz in der Mitte zwischen ihnen liegen musste. Das Laufen schien für die scheue Kleine eine fremde Aktivität zu sein. Ihre Beine stocherten und knickten unnötig herum, als ob da ein paar Gelenke zu viel wären. Aber sie hielt durch, ohne zu fallen und strahlte über das ganze Gesicht. Ihre feine Blumenspange lag unbeachtet in der Nähe des Tisches, an dem sie vorher mit den Erwachsenen gesessen hatte.
Die kleine Schwester war jetzt ganz in ihrem Element. Lustvoll wetzte ihr kraftvoller kleiner Körpers über das Pflaster, die Bewegungen aus einem Guss, nichts an ihr wirkte mehr unnatürlich und übertrieben. Sie war die Ansagerin, entschied ob es rechts rum oder links rum ging. Die neue Freundin spiegelte jede ihrer Aktionen, folgte ihr, als könne das gar nicht anders sein.
Gedankenverloren kaute Edna ihr Cornetto. Die Rechnung des Mädchens war tatsächlich aufgegangen! Aus einer Kleinen hatte sie sich in eine echte Große verwandelt. Ungeachtet jeder Furcht vor Peinlichkeit das Ziel verfolgt und gewonnen! Und vom Erfolg her betrachtet, erschienen Edna die Manöver, die ihr vorher so aufdringlich und unangenehm vorgekommen waren, plötzlich nur noch als Strategien der Hartnäckigkeit und des Selbstbewusstseins.
Als sie zu Ende gegessen hatte, stand sie auf. Im Vorübergehen nahm sie die zu Boden gefallene Haarspange an sich und gab sie einer der Frauen am Tisch, die ihr überrascht und freundlich dankte. Auf dem Rückweg zum Museum stellte Edna sich vor, wie sie sich hinter die Sekretärin schlich und „Buuh!“ rief. Sie musste kichern über diese alberne Idee. Doch das Spektrum der Möglichkeiten hatte sich geweitet.