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Kleine Schwester
Es hat geregnet. Mit nackten Füßen laufe ich durch das feuchte Gras. Ein schmaler Streifen Sonnenlicht quält sich durch dicke Wolken, aber es wird dadurch nicht heller oder wärmer. Eine Frau, barfuß im trüben Park, ruft: „Scheiße!“, als sie in Hundekot tritt.
Warum bin ich eigentlich hier?
Die grauen Häuser um den Park stehen verlassen und leer. Die Fenster sind dunkel, nur ein paar unzerbrochene versuchen das fahle Licht einzufangen, als wollten sie ein Bild aus vergangenen Kindertagen in mir heraufbeschwören. Die Frau im Park beschattet mit ihren Händen die Augen und starrt auf den Wohnblock vor sich.
War es wirklich so eng hier? Nach Vaters tödlichem Unfall in der Metallhütte durften Mutter, Martina und ich in einem der Arbeiterhäuser wohnen bleiben.
Als es wieder anfängt zu regnen, ist ein wenig Hagel dabei. Meine Füße schmerzen vor Kälte und daher eile ich zu meinem Auto, das ich am Rande des Parks in der Feuerwehrzufahrt geparkt habe. Die Frau reibt sich in dem knallroten Flitzer ihre Füße mit einem Taschentuch so gut es geht sauber, die Augen suchend auf die Scheibenwischer gerichtet, kein Knöllchen dahinter. Das Auto und die Frau verblassen wie ein altes Bild.
Stattdessen blitzt aus den Tiefen meiner Gedanken die Erinnerung an Martina auf.
Ich suche meine Schwester. Schon seit Stunden. Sie hat getrunken und meine Mutter hat mich hinaus in die Nacht geschickt. Diese blöde Ziege. Was denkt sie sich. Dieser Park ist einfach zum Fürchten. Auch ist es saukalt. War das eine Ratte? Ekelhaft! Die Sitzbank am Spielplatz. Zwei dunkle Gestalten umarmem sich. Knutschen. Seine Hände grapschen und sie kichert.
Ich ziehe sie hinter mir her. Sie pöbelt, ich schreie, ich hasse sie, bin froh, dass nichts passiert ist. Ich will das alles nicht. Gehe fort, kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag.
Es ist einer dieser endlosen Tage, an denen man glaubt, die Arbeit frisst und du wirst mit Haut und Haar verschlungen. Das Telefon klingelt pausenlos und ich melde mich mechanisch, ohne auch nur mitzubekommen, wer anruft. Sekunden später fragt eine Stimme aus der Vergangenheit:
„Hast du Zeit?“
„Wie bitte? Wer ist da?“
„Corinna.“
„Wer?“
Ich lege auf. Die Angst kriecht mir unter die Haut. Doch zwei Minuten später drücke ich auf die Rückruftaste.
„Was ist passiert?“
Das schwarze Kostüm hat Wasserflecken und die Frau glättet den Rock, als sie an der gedeckten Tafel Platz nimmt. Streuselkuchen, Bienenstich und ein lauwarmer Kaffee. Wenige sind geblieben, um zu kondolieren. Tapfer kaue ich den Bissen, versuche mit der braunen Brühe den Kloß in meiner Kehle hinunter zu schlucken und meine schmutzigen Füße unter dem Tisch zu verstecken. Mein Schwager und seine Eltern würdigen mich keines Blickes. Stocksteif sitzen die Eltern, Hilde und Bruno, die Blümchentasse in der Hand, am Kopf der Tafel. Rainer, mein Schwager hat sich schon den dritten doppelten Weinbrand bestellt, stiert der Kellnerin auf den Hintern. Die Frau im schwarzen Kostüm steht auf und geht hölzern auf die drei zu. Verlegen streicht sie sich eine blondierte Strähne aus dem Gesicht. Warum bin ich noch geblieben? Meine Freundin Corinna hat schon am Grab dem Witwer ihr Beileid ausgesprochen. Mein Schwager ist betrunken, lallt unverständliches Zeug, als er meine Hand hält. Warum sie und nicht er?
Der Krebs hat sich eingenistet. Corinnas Anruf trifft mich unvorbereitet.
„Martina liegt auf Zimmer 210.“
„Schlimm?“
„Es sieht so aus.“
„Hm"
„Ich dachte nur, du solltest es wissen.“
„Es gibt nach Mutters Tod nichts zwischen uns zu sagen.“
„Ich weiß.“
Ich weiß es nicht. Martina hat mir vorgehalten, sie und Mutter verlassen zu haben. Ganz so stimmt es nicht. Ich habe immer erzählt, dass ich Pläne habe. Oft genug.
Corinna, Sandra und Martina. Das Dreiergespann. Ganz schamlos sprechen wir über unsere Sehnsüchte. Ich erzähle von meinem wilden künftigen Leben, meinen Träumen, die mich aus dem Wohnblock ziehen. Wir liegen im Park, sind betrunken und lachen.
Später höre ich meine kleine Schwester schnarchen. Das Fenster ist in der Dunkelheit des Zimmers ein rosiges Viereck aus Licht. Auch wenn die Nächte wolkenlos sind, werden die Sterne von der Helligkeit des Gichtgases verschluckt. Vorsichtig schleiche ich mich an ihrem Bett vorbei und öffne das Fenster, lehne mich weit hinaus, atme flach und nur über den Mund die nach Fäulnis riechende Luft ein. Das Fallrohr neben meinem Fenster, trägt es mich?
Es fühlt sich an, wie ein Sprung vom Fünferbrett, mehr Tiefe ist unter dem Fenster nicht zu sehen. Flau im Magen weiche ich zurück. Lege mich zu Martina und schlafe endlich ein.
Ich hab' sie lieb. Ich hänge auch an meinem Teddy, den Vater mir zum siebten Geburtstag geschenkt hat. Irgendwann werde ich Abschied nehmen müssen. Es ist ein Wendepunkt. Ich springe, lasse alles, auch Teddy, hinter mir.
Die Krankheit ist schneller als ich. Ich habe nicht zurück gehen wollen.
„Danke für deinen Anruf, Corinna.“ Mehr bleibt mir nicht zu sagen. Ich trage den Dienstag der kommenden Woche in meinen Kalender ein. Mein schwarzes Kostüm muss noch in die Reinigung.