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Kleine Schwester

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19.03.2003
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Kleine Schwester

Es hat geregnet. Mit nackten Füßen laufe ich durch das feuchte Gras. Ein schmaler Streifen Sonnenlicht quält sich durch dicke Wolken, aber es wird dadurch nicht heller oder wärmer. Eine Frau, barfuß im trüben Park, ruft: „Scheiße!“, als sie in Hundekot tritt.
Warum bin ich eigentlich hier?
Die grauen Häuser um den Park stehen verlassen und leer. Die Fenster sind dunkel, nur ein paar unzerbrochene versuchen das fahle Licht einzufangen, als wollten sie ein Bild aus vergangenen Kindertagen in mir heraufbeschwören. Die Frau im Park beschattet mit ihren Händen die Augen und starrt auf den Wohnblock vor sich.
War es wirklich so eng hier? Nach Vaters tödlichem Unfall in der Metallhütte durften Mutter, Martina und ich in einem der Arbeiterhäuser wohnen bleiben.
Als es wieder anfängt zu regnen, ist ein wenig Hagel dabei. Meine Füße schmerzen vor Kälte und daher eile ich zu meinem Auto, das ich am Rande des Parks in der Feuerwehrzufahrt geparkt habe. Die Frau reibt sich in dem knallroten Flitzer ihre Füße mit einem Taschentuch so gut es geht sauber, die Augen suchend auf die Scheibenwischer gerichtet, kein Knöllchen dahinter. Das Auto und die Frau verblassen wie ein altes Bild.
Stattdessen blitzt aus den Tiefen meiner Gedanken die Erinnerung an Martina auf.

Ich suche meine Schwester. Schon seit Stunden. Sie hat getrunken und meine Mutter hat mich hinaus in die Nacht geschickt. Diese blöde Ziege. Was denkt sie sich. Dieser Park ist einfach zum Fürchten. Auch ist es saukalt. War das eine Ratte? Ekelhaft! Die Sitzbank am Spielplatz. Zwei dunkle Gestalten umarmem sich. Knutschen. Seine Hände grapschen und sie kichert.
Ich ziehe sie hinter mir her. Sie pöbelt, ich schreie, ich hasse sie, bin froh, dass nichts passiert ist. Ich will das alles nicht. Gehe fort, kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag.

Es ist einer dieser endlosen Tage, an denen man glaubt, die Arbeit frisst und du wirst mit Haut und Haar verschlungen. Das Telefon klingelt pausenlos und ich melde mich mechanisch, ohne auch nur mitzubekommen, wer anruft. Sekunden später fragt eine Stimme aus der Vergangenheit:
„Hast du Zeit?“
„Wie bitte? Wer ist da?“
„Corinna.“
„Wer?“
Ich lege auf. Die Angst kriecht mir unter die Haut. Doch zwei Minuten später drücke ich auf die Rückruftaste.
„Was ist passiert?“

Das schwarze Kostüm hat Wasserflecken und die Frau glättet den Rock, als sie an der gedeckten Tafel Platz nimmt. Streuselkuchen, Bienenstich und ein lauwarmer Kaffee. Wenige sind geblieben, um zu kondolieren. Tapfer kaue ich den Bissen, versuche mit der braunen Brühe den Kloß in meiner Kehle hinunter zu schlucken und meine schmutzigen Füße unter dem Tisch zu verstecken. Mein Schwager und seine Eltern würdigen mich keines Blickes. Stocksteif sitzen die Eltern, Hilde und Bruno, die Blümchentasse in der Hand, am Kopf der Tafel. Rainer, mein Schwager hat sich schon den dritten doppelten Weinbrand bestellt, stiert der Kellnerin auf den Hintern. Die Frau im schwarzen Kostüm steht auf und geht hölzern auf die drei zu. Verlegen streicht sie sich eine blondierte Strähne aus dem Gesicht. Warum bin ich noch geblieben? Meine Freundin Corinna hat schon am Grab dem Witwer ihr Beileid ausgesprochen. Mein Schwager ist betrunken, lallt unverständliches Zeug, als er meine Hand hält. Warum sie und nicht er?

Der Krebs hat sich eingenistet. Corinnas Anruf trifft mich unvorbereitet.
„Martina liegt auf Zimmer 210.“
„Schlimm?“
„Es sieht so aus.“
„Hm"
„Ich dachte nur, du solltest es wissen.“
„Es gibt nach Mutters Tod nichts zwischen uns zu sagen.“
„Ich weiß.“

Ich weiß es nicht. Martina hat mir vorgehalten, sie und Mutter verlassen zu haben. Ganz so stimmt es nicht. Ich habe immer erzählt, dass ich Pläne habe. Oft genug.

Corinna, Sandra und Martina. Das Dreiergespann. Ganz schamlos sprechen wir über unsere Sehnsüchte. Ich erzähle von meinem wilden künftigen Leben, meinen Träumen, die mich aus dem Wohnblock ziehen. Wir liegen im Park, sind betrunken und lachen.
Später höre ich meine kleine Schwester schnarchen. Das Fenster ist in der Dunkelheit des Zimmers ein rosiges Viereck aus Licht. Auch wenn die Nächte wolkenlos sind, werden die Sterne von der Helligkeit des Gichtgases verschluckt. Vorsichtig schleiche ich mich an ihrem Bett vorbei und öffne das Fenster, lehne mich weit hinaus, atme flach und nur über den Mund die nach Fäulnis riechende Luft ein. Das Fallrohr neben meinem Fenster, trägt es mich?
Es fühlt sich an, wie ein Sprung vom Fünferbrett, mehr Tiefe ist unter dem Fenster nicht zu sehen. Flau im Magen weiche ich zurück. Lege mich zu Martina und schlafe endlich ein.
Ich hab' sie lieb. Ich hänge auch an meinem Teddy, den Vater mir zum siebten Geburtstag geschenkt hat. Irgendwann werde ich Abschied nehmen müssen. Es ist ein Wendepunkt. Ich springe, lasse alles, auch Teddy, hinter mir.
Die Krankheit ist schneller als ich. Ich habe nicht zurück gehen wollen.
„Danke für deinen Anruf, Corinna.“ Mehr bleibt mir nicht zu sagen. Ich trage den Dienstag der kommenden Woche in meinen Kalender ein. Mein schwarzes Kostüm muss noch in die Reinigung.

 

Hallo Goldene Dame,

Ich; sie; die Frau; Corinna; Sandra; Martina; Hilde; Bruno.

Brauchst Du all die Figuren(bezeichnungen) für den kurzen Text? Zusätzlich zu dem Verwirrspiel? Immerhin werden die meisten der Figuren gar nicht charakterisiert, bleiben als bloße Namen stehen. Wenn gewollt, gut, das sehe ich aber nicht.
Der Leser könnte sich die Zeit nehmen, zuordnen, erneut zu lesen etc. Vielleicht tut er dies auch, gerade hier im Forum. Ich persönlich bevorzuge es, wenn man dies nicht tun muss. Geschmackssache. Vielleicht ist gerade auch einfach nur mein Kopf zu voll. Sollte es also sonst niemand so gehen, bitte ich bereits im Voraus um Entschuldigung :)

Tretmine

wieso nicht einfach Scheiße, Kacke, Kot, Hundedreck, was weiß ich: „Lustige Worte für Scheiße" sind nicht lustig.

als wollten sie ein Bild aus vergangenen Zeiten herauf beschwören;

das finde ich so eine Leerfloskel, da entsteht kein Bild bei mir


Die Stimmung finde ich sehr gelungen; man fühlt die Tristesse. Erinnert mich ein wenig an die besseren Stories von Clemes Meyer.
Trotz gewisser Verwirrungen gerne gelesen,

beste Grüße, T.

 

Hallo T Anin

Ich; sie; die Frau; Corinna; Sandra; Martina; Hilde; Bruno.

Brauchst Du all die Figuren(bezeichnungen) für den kurzen Text? Zusätzlich zu dem Verwirrspiel? ... Wenn gewollt, gut, das sehe ich aber nicht.

Ich; sie; die Frau, Sandra sind eine Figur, die unterschiedliche Perspektive ist gewollt. Dann wird die Verwirrung vielleicht kleiner? *Hoff*

Deine textlichen Anregungen habe ich beherzigt. Die Tretmine war auch mehr aus Verlegenheit wegen der Wortwiederholung Scheiße

Danke, dass du die Stimmung gelungen findest. Wenigstens etwas :) und fürs gerne gelesen :)

LG
GD

 

Hallo Goldene Dame!

So kurz und so konzentriert- wow. In wenigen Worten viel Erzählt, passend zu Erinnerungen die zeitlose Bilder sind.

Corinna, Sandra und Martina. Das Dreiergespann. Ganz schamlos sprechen wir über unsere Sehnsüchte. Ich erzähle von meinem wilden künftigen Leben, meinen Träumen, die mich aus dem Wohnblock ziehen. Wir liegen im Park, sind betrunken und lachen. Dann kommt Rainer und zieht Martina mit sich fort.

Eine Passage die mehr richtig gut gefällt- und in der für mich geballte Atmosphäre steckt. Kann mich wie T Anin nur anschließen: Geballte Stimmung in diesem kurzen Stück Text.

Ich kann und will da gar nichts bemängeln, auch wenn das nicht konstruktiv ist-
Timo

 

Hallo Goldene Dame,

ich habe deine Geschichte drei Mal gelesen. Ob das ein gutes Zeichen ist, überlasse ich deiner Deutung des folgenden Kommentars.

Also erst einmal sehr allgemeiner Eindruck. Die würzige Kürze, die du vorlegst ist natürlich ein Diskussionspunkt. Ich würde sagen, es ist dir gelungen. Vor allem in den Einsatzbeschreibungen gelingt es dir Stimmung zu kreieren.
zB.

Es hat geregnet. Mit nackten Füßen laufe ich durch das feuchte Gras. Ein schmaler Streifen Sonnenlicht quält sich durch dicke Wolken, aber es wird dadurch nicht heller oder wärmer.

oder auch

Streuselkuchen, Bienenstich und ein lauwarmer Kaffee, wenige sind geblieben, um zu kondolieren.

Grade den finde ich stark! Bester Satz im Text!

Ich muss aber sagen, und das ist auch der Grund warum ich den Txt mehrmals gelesen habe, dass ich nciht sicher bin, ob diese Beschreibungen "gut" sind. Im theoretischen Sinn. Natürlich kann es dem Autor, grade wenn es beabsichtigt ist, natürlich völlig wurscht sein, wenn die Beschreibung funktioniert - passt!
Ich fühlte mich einfach wie an einen Psychologie Test erinnert, an dem ich neulich Teilgenommen habe. Es ging um Assoziationen. Einem wird ein Satz oder Wort hingeworfen und man spult Emotionen ab. Man kann natürlich nciht abstreiten, dass das überhaupt der Sinn von Literatur etc ist und darum auch alles super gemacht - ABER es hat mich gestört.
Ums verständlich zu machen: Ich habe mich ein wenig außengeschlossen gefühlt. Wie ein Hund, dem man nur den restlichen Brocken Fleisch hinstellt. Grade bei so komplexen Emotionslagen udn Situation wünschte ich, du würdest mich ein wenig mehr an die Hand nehmen und mir die Welt der Schwestern zeigen.

Aber ich bin mir bewusst, dass das genau den Reiz der Geschichte ausmachen soll. Somit ist meine Kritik nur ein Lob im Wolfspelz. Ich wünschte ich könnte mehr bekommen :)

Also weiter so. Und ein bisschen länger...

Grüße,

nikonotiz.

 

Hallo Timo

So kurz und so konzentriert- wow. In wenigen Worten viel Erzählt, passend zu Erinnerungen die zeitlose Bilder sind. ... und in der für mich geballte Atmosphäre steckt.

Es freut mich, dass du aus meinen "Schlaglichtern" die Essenz schöpfen konntest.

Hallo nikonotiz

ich habe deine Geschichte drei Mal gelesen. Ob das ein gutes Zeichen ist, überlasse ich deiner Deutung des folgenden Kommentars.
Also weiter so. Und ein bisschen länger...
Ich deute du warst interessiert, mehr über die Schwestern zu erfahren.

Ich freue mich, dass dich der Text beschäftigt hat und nachhallt.
Ich habe viel Arbeit für den Nachhall aufgewandt. Daher gebe ich dir Recht, dass sollte der Reiz sein. Viele mögen sowas nicht lesen, aber es gibt welche, die mögen es, wenn ihre Assoziationen zum Geschehen beitragen.

Grade bei so komplexen Emotionslagen udn Situation wünschte ich, du würdest mich ein wenig mehr an die Hand nehmen und mir die Welt der Schwestern zeigen.
Viele Geschichten haben redundanten Teile. Sie tragen nicht dazu bei, das neue Informationen dem Leser offenbart werden. Im Gegenteil, sie kleistern den Text zu. Ich habe deswegen viel in dem Text gekürzt, gebe aber zu, dass ich vielleicht auch mehr erzählen könnte.

Danke Euch beiden für Eure Worte.

LG
GD

 

Hallo Goldene Dame

Kleine Schwester, ein reizender Titel der an sich schon, mir verschiedene Vorstellungen zulässt.

Einen längeren Lebensabschnitt auf eine kurze Geschichte zu komprimieren, dies gelingt wohl selten. Doch du hast es hier mit ineinandergreifenden Sequenzen sehr gut bewältigt und die Gefühle von Sandra zu ihrer kleinen Schwester herzlich ironisch dargelegt.

Die Frau reibt sich in dem knallroten Flitzer ihre Füße mit einem Taschentuch so gut es geht sauber, die Augen suchend auf die Scheibenwischer gerichtet, kein Knöllchen dahinter. Das Auto und die Frau verblassen wie ein altes Bild.

Dies Szene schliesst sich so schön ein, in ihrer Beschreibung des verblassenden Bildes im Regen.

Das schwarze Kostüm hat Wasserflecken und die Frau glättet den Rock, als sie an der gedeckten Tafel Platz nimmt. Streuselkuchen, Bienenstich und ein lauwarmer Kaffee, wenige sind geblieben, um zu kondolieren.

Auch hier, in Wortwahl und Ausdruck finde ich es stark.

Auch wenn die Nächte wolkenlos sind, werden die Sterne von der Helligkeit des Gichtgases verschluckt.

Hier stutzte ich, wie zum Teufel kommt hochgiftiges Gichtgas hier auf. Doch ja, du erwähntest den tödlichen Unfall von Vater in der Hütte. Das war keine Jagdhütte im Wald, wie ich meinte, sondern ein Kohlebergwerk.

„Danke für deinen Anruf, Corinna.“
Ich trage den Dienstag der kommenden Woche in meinen Kalender ein. Mein schwarzes Kostüm muss noch in die Reinigung.

Ausgezeichnet! In solch unverfängliche Worte gekleidet und doch glasklar, habe ich noch selten über eine Todesnachricht gelesen.

Ich fand es sprachlich und in der Handlung ein sehr anspruchsvolles Stück. Das sprunghafte der Sequenzen verlangte etwas Konzentration, aber diese zahlte sich aus.

Sehr gern gelesen.


Gruss

Anakreon

 

Hallo Goldene Dame,

entschuldigung, dass meine Antwort so spät kommt...

Hab den Text nochmal gelesen und jetzt ist er viel klarer. Hab gesehen, dass Du ein bisschen etwas herausgenommen hast und Namenszuordnungen hinein, ich finde es viel besser so.

Du siehst gut aus, Corinna.“
„Danke du auch, Sandra.“
„Hat sie dich geschickt??“
„Nein, ich dachte nur, du solltest es wissen, Sandra.“
„Es gibt nach Mutters Tod nichts zwischen uns zu sagen, Corinna.“

Hier wurde es mir dann ein bisschen zuviel, die Authentizität des Dialogs leidet sonst ein bisschen. (Entschuldigung, dass ich nerve, erst zu wenig, jetzt zu viel :)


„Hat sie dich geschickt??“

Vielleicht nur ein Fragezeichen? Oder !? Sonst kommts bisserl eMail LOL-mäßig rüber.

Ganz oben im dritten Stock haben Martina und ich mit Mutter nach Vaters tödlichen Unfall in der Hütte gewohnt.

tödlichem

Wie gesagt, die Stimmung mag ich sehr....

Liebe Grüße, T.

 

Hallo Anakreon

Kleine Schwester, ein reizender Titel der an sich schon, mir verschiedene Vorstellungen zulässt.
So soll´s sein ;)

Ich fand es sprachlich und in der Handlung ein sehr anspruchsvolles Stück. Das sprunghafte der Sequenzen verlangte etwas Konzentration, aber diese zahlte sich aus.
Merci, merci, merci :) *vorfreudehüpf*

Hallo TAnin,

Hier wurde es mir dann ein bisschen zuviel, die Authentizität des Dialogs leidet sonst ein bisschen. (Entschuldigung, dass ich nerve, erst zu wenig, jetzt zu viel
habe ich umgehend umgesetzt. ;)
Danke für dein zweites Feedback

Liebe Grüße an Euch

GD

 
Zuletzt bearbeitet:

... „Scheiße“, als sie in Hundekot tritt.
Ja, selbst im Schuhwerk kennt einer wie ich, der auch schon selbst bellt und Hunden dieses Elend durchgehen lässt, dieses Gefühl, dass selbst mir der Ausruf „Kacke aber auch!“ nicht fremd ist. Dagegen gefällt mir diese kleine, nüchtern erzählte Geschichte über Entfremdung und Auseinanderfallen einer Kleinfamilie ohne Brimborium bis hin zur Schmucklosigkeit ungemein, dass ich mich fast ein Jahr nach Erscheinen frag, wieso sie mir heute erst aufgefallen ist – wäre da nicht alles schon gesagt? - und auch eher zufällig am Ende eines langen Tages,

liebe Goldene Dame,

und nicht nur, weil ich es für richtig halte, dass wir Gelegentlichen und Senioren zusammenhalten müssen, da nix zu mäkeln gibt und alles schon gesagt wäre, gibt es zwei kleine Anmerkungen zur Rechtschreibung und eine Richtigstellung:

Eine Frau barfuss im trüben Park ruft: …
Da wird doch nicht wegen des Hundekots das ß verloren gegangen sein? Wegen eines lumpigen doppel-s dacht’ ich zuerst an den alemannisch-bairischen Sprachraum, bis ich im Profil Hamburg las, was vom Ländle und der Schweiz genauso weit entfernt ist wie Ameland sprachlich von Ost- und selbst Westfriesland.
Dann mischten sich noch die Bläck Fööss ein (man beachte die Endung), dem im Text im zwoten Satz die
nackten Füße[.]
entsprächen.

Letztlich gab der dann folgende Ausruf den Ausschlag, dass die deutsche Eigenschöpfung im lateinischen Alphabet, das ß, lsich doch auf der Tastatur finden lassen müsse;
barfuß

… herauf beschwören -
An sich ein Wort: heraufbeschwören

Dieser Satz weckt auch Erinnerungen:

Auch wenn die Nächte wolkenlos sind, werden die Sterne von der Helligkeit des Gichtgases verschluckt,
worauf geantwortet wurde,
Das war keine Jagdhütte im Wald, wie ich meinte, sondern ein Kohlebergwerk
, wär’s auch nicht so ganz, was mich leider zu einer vielleicht unzulässigen Abschweifung nötigt,

lieber Anakreon,

obwohl Du den Bergbau erwähnend richtigerweise mitten in der hierorts aussterbenden Familie der Schwerindustrie gelandet bist: Gicht nennt man da obere Öffnung am Hochofen zur Beschickung (mit Erz, Koks, div. Zuschläge) und die Gichtglocke soll und kann während der Begichtung das wertvolle Gichtgas daran hindern, zu entweichen, denn die Verbrennung ist mehr als unvollkommen und das Gichtgas ist verdammt energiereich (~ 5.000 Kubikmeter/t Koks, als unterer (!) Heizwert gilt ~ 4.200 kJ/Kubikmeter). Aber nicht nur das Gichtgas (bis zu 1/3 Kohlenmonoxid und mehr als die Hälfte Stickstoff neben kleineren Anteilen Kohlendioxid und Wasserstoff) erzeugt der Hochofenprozess nicht nur Schlacke, sondern auch Gichtstaub aus dem Erz, Koks, Kalk usw. Das Gas wurde in Gasometern aufgefangen und hierorts konnten umliegende Siedlungen mit Energie versorgt werden, die Schlacke, die sich wie die Kohlehalden bis zu einhundert Metern hochreckte, wurde in den 1950/60-er Jahre in die Niederlande verkauft zur Verfüllung der Zuidersee (die von der Nordsee abgetrennte Bucht noch Ijsselmeer zu nennen, wäre eine Übertreibung, ist doch nur noch 40 % der ehemaligen Wasserfläche vorhanden – heute als Süßwasserreservoir). Hochöfen gibt’s hier keine mehr, die das Umfeld mit Energie versorgen könnten, aber noch den Gasometer, der als Museum inzwischen auch einen manierlichen Ruf erworben hat.

Gern gelesen vom

Friedel

 

Hallo Friedel und Goldene Dame

Schamlos korrigiere ich meinen Kohlebergwerksatz von vor elf Monaten.

Ich muss gestehen, die Gicht ist eine der Altersbeschwerden, die mich bis anhin noch nicht heimgesucht haben. Daraus darf man meine Beschränktheit ableiten, dass ich mich noch nie mit den chemischen Formeln und den Erscheinungsorten anderer Gichtformen tiefer befasste. Die Stollen eines Kohlebergwerks als Gasherde nehme ich damit wieder zurück und stelle mir eine Kuppel vor. Doch damit nähere ich mich beinah wieder meinem ersten Trugbild, in dem ich in der Hütte gar ein romantisches Jagdschlösschen im französischen Stil vermutete, bis ich eben die Gichtgaswolke mich benebelte.

Danke dir für die korrigierende Anmerkung, lieber Friedel, die meinen Wissenspegel erfreulich erhöhte.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Moin Friedel, mit der Martina ist es wie verhext. Auch eine Susanne tummelt sich wiederholt in meinen Geschichten. Aber von Wonne und Saukleiber werden Originale in am Ende eines langen Tages bleiben. Wie schön, dass dir meine kleine Geschichte gefallen hat. Familien zerfallen- so die Essenz, die du so treffend herausgefiltert hast.
Lieber Anakreon, vor einem Jahr habe ich dir nicht erklärt, wie Gichtgas entsteht. Friedel hat es nachgeholt, so gut hätte ich das nicht hinbekommen. Ich habe aus Erfahrungen geplaudert. Ein Hochofenwerk, die Metallhütte in Lübeck hat mich in meiner Kindheit mit den Gichtgasen begeistern können, weil es so schön ekelig nach Stinkbomben roch.
Danke für dein zweites Feedback.

Es grüßt euch aus dem kalten Norden, GD

 

Ach kinners,

wenn man zwischen Bergbau, Eisen- und Strahlwerken nebst Maschinenbau und bissken Chemie und Forschung aufwächst, den Pseudokrupp übersteht und ohne Staublunge durchkommt (weil man z. B. auch eine jahrewährende Auszeit bei den Torfköppen im Emsland verbringt), dann weiß man sowat aus'm Effeff, wenn man sich'n bissken für int'ressiert.

Also, nix zu danken, hat ja auch Spaß gemacht.

Aus dem seltsamerweise gelegentlich in diesem Winter kälteren Westen
ein schönes Wochenende!

Friedel

 

Hallo Goldene Dame,

mir hat dein Einstieg gut gefallen:

„Es hat geregnet. Mit nackten Füßen laufe ich durch das feuchte Gras. Ein schmaler Streifen Sonnenlicht quält sich durch dicke Wolken, aber es wird dadurch nicht heller oder wärmer. Eine Frau barfuß im trüben Park ruft: „Scheiße“, als sie in Hundekot tritt.“

Zweimal die Verknüpfung Himmel/Erde (Regen/feuchtes Gras + Wolken/mangelnde Wärme), dann die Verbindung der „nackten“ Füße mit der barfuß laufenden Frau – und die endgültige ‚Erdung‘ durch den doppeldeutigen Ausruf „Scheiße“ und letztlich den „Hundekot“.

Die neue Perspektive: „Warum bin ich eigentlich hier?“ zeigt schon an, dass es noch weitere Unannehmlichkeiten gibt, als der Kot.

Diese ‚Unannehmlichkeiten‘ eine Mischung aus Tristesse, Anspannung, Auflehnung („Diese blöde Ziege. Was denkt sie sich.“) verdichtest du in den verschiedenen Szenen zu einer düsteren Atmosphäre, das Ganze kumuliert in dem Satz:

„Streuselkuchen, Bienenstich und ein lauwarmer Kaffee, wenige sind geblieben, um zu kondolieren. Tapfer schlucke ich den Bissen hinunter, versuche mit der braunen Brühe den Kloß in meiner Kehle hinunter zu schlucken.“

Schließlich kommt die Geschichte etwas zur Ruhe – die Möglichkeit (vielleicht) zu entkommen wird verworfen, die Frau schläft ein.
Wie ‚rettet‘ sich die Protagonistin? Durch Pragmatismus, eine typisch menschliche Reaktion:

„Ich trage den Dienstag der kommenden Woche in meinen Kalender ein. Mein schwarzes Kostüm muss noch in die Reinigung.“


Änderungsvorschläge:

„Eine Frau barfuß im trüben Park ruft: „Scheiße“, als sie in Hundekot tritt.“

„barfuß im trüben Park“ als Einschub mit Kommas kennzeichnen.


„Ganz oben im dritten Stock haben Martina und ich mit Mutter nach Vaters tödlichem Unfall in der Hütte gewohnt.“

Da es um einen Wohnblock geht, würde ich nicht „Hütte“ schreiben, bei einem armseligen Häuschen schon.

L. G.,

Woltochinon

 

Hallo Woltochinon, ich freue mich, dass du meinem Einstieg gefolgt bist. Dein Lob zaubert mir ein Rot auf die Wangen, weil ich mir beim Einstieg doch auch sehr viel Mühe gemacht habe. Danke! Zusätzlich filterst du eine Metaebene zu Tage, deren Reiz ich erlegen bin, gerade diese Geschichte zu erzählen.
Die Hütte ist eine Metallhütte. Darin ist der Unfall passiert. Da der Satz missverständlich war, habe ich ihn geändert. Danke für deine Gedanken zu meiner Geschichte. Ich glaube, ich sollte mich mal wieder an etwas Philosophisches heranwagen. LG, Goldene Dame

 

Hallo Goldene Dame,

„Ganz oben im dritten Stock des Wohnblocks haben Martina und ich mit Mutter nach Vaters tödlichem Unfall in der Metallhütte gewohnt.“

Man weiß nicht, ob die Kinder nach dem Unfall in der Metallhütte gewohnt haben oder ob der Unfall in der Hütte war (bei den ‚Antworten‘ hast du es geklärt).

Vorschlag: Nach Vaters tödlichem Unfall in der Metallhütte haben Martina … gewohnt.


„Ich glaube, ich sollte mich mal wieder an etwas Philosophisches heranwagen.“

Aber ja!


Tschüss …

Woltochinon

 

Reibt ein wenig bei mir das Bild. Da steckt keine Wertung drin, kann auch einfach nur enttäuschte Gewohnheit sein. Meist "bricht ein Strahl durch" in den Geschichten die ich so im Kopf habe. Der sich paradox durch die Wolke quälende Streifen ist zumindest ungewohnt.

Ich glaube es gibt verschiedene bildhafte Beschreibungen zu Wolkenstrahlen und Lichtbüscheln. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es physikalisch unmöglich ist, mit bloßem Auge ,einen' Sonnenstrahl zu sehen, der durchbricht. Knackt er dabei?

Hallo Woltochinon,
Danke für das nochmalige Gegenlesen. Der Vorschlag ist gut.

LG,GD

 

Moin Goldene Dame,
beim ersten Lesen deiner Geschichte dachte ich, mir fehle etwas. Aber beim zweiten Überfliegen sah ich ein, dass weitere Szenen aus der Kindheit/Jugend wohl zu weit ausufern würden.
Mir hat dein Stil sehr gefallen, flüssig zu lesen und sie Szenen konnte ich gut zuordnen. Insbesondere die erste Szene mit dem Wechsel der Perspektive sagte mir zu und zog mich gleich in die Geschichte hinein.

Herzlichst Heiner

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich habe diese Geschichte aufgrund der Kritiken überarbeitet. Insbesondere habe ich mir die Mühe gemacht, die Lücken zu füllen und das Verhältnis der Schwestern umrissen. Ich glaube, der Text wirkt runder. Euer Feedback ist willkommen :) LG Goldene Dame

 

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