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Kleine Rippchensonate
Mathilda hatte so grazile Finger. Jeder Musiklehrer, jeder Dirigent, selbst jeder an der Musik verzweifelte Kritiker hätte ihr unweigerlich die Tasten eines Klaviers untergeschoben.
Mathilda. Das Alphabet fing für mich mit M an und hörte mit M auch wieder auf.
Mathilda war mein wohliger Fluch, schon volle einundzwanzig Jahre lang und jedes weitere ärgerte mich. Doch wenn ich sie traf, konnte ich ihr nie in die Augen sehen, stattdessen starrte ich auf ihre Finger. Ich wurde zu ihrem unsichtbaren Begleiter. Wir kannten uns vom Sehen, wie man sagt, seit den Tagen unserer Jugend, als sie ihre wundervollen Finger um die nichtswürdigen Griffel meiner besten Freunde wand. Oh, wie habe ich meine besten Freunde dafür gehasst!
Sie arbeitete fünf Jahre in der Städtischen Bibliothek. Ich lieh Bücher aus, las wie besessen, war ein in Romanen lebender Statistiker, der nebenbei Enzyklopädien durchwühlte. Alles nur, um ihre Finger zu sehen. Wie sie langsam den Stempel umschlossen, um ihn lustvoll in die Rückseite zu hämmern.
„Mann Mark, du liest ja wirklich viel!“, sprachen sie mich manchmal an.
„Ja ... macht Spaß“, entgegnete ich dann trocken vor mich hin, den Stempel in ihrer Hand nicht aus den Augen lassend.
Ich bin ihr ins Kaufhaus, den Friseursalon und in die Bar gefolgt. Mein Kleiderschrank wurde erst begehbar und fraß irgendwann mein gesamtes Arbeitszimmer. Im Flur stapeln sich jetzt noch Tüten mit nicht ausgepackter Kleidung. Wehmütig erinnere ich mich, wie ihre Finger sie behutsam einschlugen als würden sie ein schlafendes Baby wickeln. Wie hätte ich sie je wieder auswickeln können?
Jede zweite Woche ließ ich mir die Haare färben. Nicht, dass da ein einziges graues Haar gewesen wäre. Aber dies war die effektivste Methode, ihre Hände zu sehen. Ich saß zwischen Frauen jenseits der fünfzig, kannte sämtliche Gebrechen, war auf dem neuesten Stand bei „Herz der Frau“ und ahnte jeden geträumten Seitensprung wie ein Seismograph. Und vor mir im Spiegel sah ich mal schwarze, mal helle, mal kastanienfarbene Elfenfinger, die sanft und liebkosend die Haare eines ständig grinsenden Mannes massierten.
Im „Edens Rast“ war ich Stammgast und hatte einen Hocker mit Namensschild. Es war einfach ein Gedicht, wie sie den Kognakschwenker in den Händen wiegte, Flaschen entkorkte, Gläser spülte, trocknete und prüfend gegen das Licht streckte.
„Was, noch einen Whisky, Mark? Ich glaub` du hast heute schon genug.“
„Ach was, gieß mir noch einen ein, langsam!“
Und schon schwebten im Spiegelkabinett zehn linke Finger mit zwei Flaschen Red Label heran und füllten die zwei Gläser in ihren rechten Händen mit flüssigem Bernstein.
Seit drei Jahren, inzwischen Privatinsolventer, trockener Alkoholiker mit Glatze, kaufe ich bei Mathilda im Fleischerladen ein. Ich möchte jedes Mal weinen, wenn ich bestelle. Ehrlich gesagt bin ich über die Jahre Vegetarier geworden. Ich hasse Fleisch!
Doch was soll ich tun, wenn mich ihre Finger anlächeln?
„Hallo Mark, dieses Hemd steht dir besonders gut.
"Einfach mal blond? Warum nicht!"
"Oh gute Wahl, das habe ich auch schon gelesen."
"Klar, mache ich dir noch etwas Eis klein."
"Wieder 500 Gramm Fette Rippe?“
Es ist immer eine neue Erfahrung, es gab keine Wiederholung, null Überschneidung.
Ja, ich bin glücklich und auch froh, dass du mich gefragt hast. Ich habe das noch nie jemandem erzählt, stell dir vor, seit einundzwanzig Jahren verfolge ich ihre Finger.
Seit einundzwanzig Jahren!
Locker umschließen sie den Schaft des Beiles, fahren sacht in die Höhe, um gleich darauf munter in die Knochen zu hauen, fast genauso wie in die Tasten eines Klaviers.