Kleine, kalte Stiche auf glühendem Rot.
Es wäre vielleicht auch anders gegangen. Wer weiß das schon? Noch ein Gespräch vielleicht, nochmal es versuchen… Doch nein. Zu lange schon hatte sie sich eingeredet, dass sie es könnte: es aushalten, herunterschlucken, stillhalten. Jetzt nicht mehr. Sie blickte auf ihre Koffer. Jetzt bin ich frei. Sie atmete tief durch, atmete ein Gefühl ein, das sie fast schon vergessenen hatte: Leichtigkeit, die ihr die Zukunft so weiß wie der Schnee um sie herum erscheinen ließ.
Nein, sie hatte keine Ahnung, wohin sie jetzt gehen sollte. Der Riemen ihrer Tasche schnitt ihr in den Arm, aber sie blieb stehen. Unbeweglich diesen Moment auskostend, einfach hier zu stehen und nicht zu wissen, was sie als nächstes tun sollte. War das nicht gerade einfach wundervoll? Sie gluckste innerlich. 19 Jahre ihres Lebens hatte sie immer gewusst, was zu tun war, immer gewusst, was von ihr erwartet wurde, wie sie sich entscheiden sollte. Und jetzt? Jetzt gab es niemanden außer dieser kleinen Stimme in ihrem Kopf, die ihr immer und immer wieder zuflüsterte: Du bist frei!
Ein Bus rollte an ihr vorbei, spritzte schmierig braunen Schnee auf und hielt ein paar Meter weiter an. Gablenberg. Hm, sollte sie zu Tine gehen? Wahrscheinlich war die ohnehin gerade bei der Arbeit. Tine würde sie verstehen, ja, aber Tine wohnte zu nah. Weiter, weiter weg wäre besser. Und besser auch, wenn sie dort niemand kannte. Denn so bald hatte sie nicht vor ihm wieder zu begegnen. Irgendwann vielleicht. Wer weiß. Aber so bald nicht.
Sie fühlte nach dem Zettel in ihrer rechten Jackentasche. Da stand es – blau auf weiß. Und wenn es doch da stand, dann würde sie sich daran festhalten. Klar, ein Papier ist nur ein Papier und Worte sind nur Worte. Aber solange sie doch da standen, solange sie da so festgeklebt waren, solange konnten sie doch nicht wegfliegen wie der Wind...
Ihr Arm begann zu pochen. Sie hängte sich die Tasche an ihren anderen Arm und blieb stehen. Wie es Mama wohl gehen würde, wenn sie den Brief fand? Darüber durfte sie nicht nachdenken. Mama wird es verstehen. Mama weiß doch am besten, wie es ist, so zu leben.
Aber im Stich gelassen hab ich sie doch…
Wieder rollte ein Bus heran. Der Wind peitschte den Schnee von seinem Dach und rieselte ihn auf sie nieder. Kleine, kalte Stiche auf glühendem Rot. Sie wischte sich über das Gesicht und blickte auf ihre Koffer. Frei, hm? Ja, wenn diese Gedanken sie in Ruhe lassen würden, dann vielleicht. Aber so? Sie schüttelte sich und starrte wieder auf die Straße.
Das hatte sie noch nie gut gekonnt. Aufzubegehren. Tun, was sie wollte. Doch wieso stand sie dann hier, wenn ihr doch der Mut fehlte, es endlich zu wagen? Sie umklammerte das Papier fester.
Du musst es tun. Du musst. Jetzt oder nie, Layla. Komm schon! Trau dich! Bis hier her hast du es geschafft, bis hier her schon an der Freiheit geschnüffelt. Willst du ihr den Rest deines Lebens nachhecheln?
Und wieder schlidderte ein Bus heran. Die Finger in ihrer Tasche umkrallten die Worte. Sie atmete heftig. Zitterte, blieb stehen. Erst als die Türen sich schlossen, riss sie ihre Hand aus der Tasche und schrie: Halt! Ich will doch mit!