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Kleine Böe
Der wirbelnde Wind, wie er stets von allen genannt wurde, liebte es, von der Küste über die Felsen und dann durch die Prärie zu wehen. Besonders mochte er es, über den Rand der Wälder zu streifen.
Weit vor der Küste lud er so viel Luft in seinen Wirbel, wie er nur konnte. Wenn er genug Kraft geladen hatte, ritt er über die Wellen, die ihn so angenehm erfrischten, zur Küste, wo er zwischen den Felsen brach, um sich gleich wieder zu vereinen. Dies gab ihm ein besonderes Gefühl der Stärke. Weiter, immer weiter zog er über die Prärie, die unendlichen Weiten, die nur er dank seines Lufttanzes fühlen konnte. Warum sie ihn immer den wirbelnden Wind nannten, wusste er nicht. Er war doch ein Tänzer, der Herr der Lüfte, der Bezwinger der Meere und der Felsen. Weiter, immer weiter! Das wohlige Gefühl der Freiheit umschlang ihn. Es war nun nicht mehr weit bis zu den Wäldern.
Der Waldrand erschien ihm etwas weiter weg als das letzte Mal, aber er kümmerte sich nicht darum. So schnell er konnte, durchbrach er die vordersten Bäume. Das verzückende Kitzeln, dieses Süsse, Angenehme und doch auch leicht Irritierende liess ihn immer aufs Neue frohlocken.
Die geballte Kraft erlosch jäh und nur mit Mühe und letzter Kraft erreichte er wieder die Küste. Den Rückweg mochte er nicht. Da fühlte er sich klein, schwach und langsam. Mühsam kämpfte er sich durch die Wälder, langsam über die Gräser der Prärie, die Felsen nicht durchstreifend. Kraftlos wich er ihnen aus.
Das nächstes Mal wollte er noch mehr Luft in sich vereinigen, noch mehr Kraft tanken. Grösser, schneller, stärker sollte er sein.
Er bäumte sich abermals auf, dieses Mal noch grösser, noch stärker, noch schneller. Er ritt über die Wellen, durch die Felsen, über die Prärie, zu den Bäumen. Schon wieder war der Waldrand nach hinten versetzt. Diese Bäume lebten und starben - immer an derselben Stelle. Sie waren keine Bezwinger der Elemente so wie er, nicht singend, nicht tanzend, schweigend. Immer am gleichen Platz mussten sie doch verkümmern. Es berührte ihn nicht. Er alleine genoss die Freiheit des Fliegens. So durchbrach er die vordersten Bäume und spürte das Kitzeln abermals.
Als die geballte Sammlung an Luft und Vitalität zur Neige ging, begab er sich auf den Heimweg. Doch dieses Mal hielten ihn die Bäume auf wie eine Mauer.
„Du wirbelnder Wind, wir, die Bäume in geballter Kraft, vereint als Wald, verbannen dich vom Land, sodass du von nun bis in alle zeit dein Dasein in den Meeren verbringst."
„Aber warum?", fragte der wirbelnde Wind.
„Siehst du nicht das Leid und die Zerstörung, die auf deinen Wegen folgen?“
Er sah nun die gefallenen Bäume. Das war doch nicht er gewesen. Er war doch der Tänzer der Lüfte, Bezwinger der Gipfel. Er war es doch, der das Tal mit Luft durchflutete!
Konnte es sein, dass all diese Zerstörung durch ihn verursacht wurde?
Er wollte doch niemandem etwas zu Leide tun. Vorwärts, immer nur vorwärts hatte er geschaut. Schneller, grösser, stärker wollte er sein, doch dass dies seinen Preis forderte, hatte er nicht geahnt.
Mit so wenig Kraft war er den Bäumen hilflos ausgeliefert. Also versprach er, nie wiederzukommen, wenn sie ihn nur gehen liessen.
Der Wald sprach: „Nun denn, ziehe fort und schweige."
Mit hängenden Schultern, voller Angst und Traurigkeit, begab er sich zum Meer.
Nach langer Zeit der Beklemmung rappelte er sich wieder auf.
Diese Bäume hatten ihn ausgetrickst. Er selbst, der Tänzer der Lüfte, würde so etwas nie tun.
So lud er abermals immense Kraft auf und durchquerte die Meere. Er streifte Inseln mit Felsen und Bäumen. All die vergessenen Gefühle kamen wieder - beflügelt von der Freiheit, berauscht von den Weiten der Meere, bezaubert von den singenden Vögeln, erleichtert, die Traurigkeit abgeschüttelt zu haben, hingerissen vom Glück, das ihm erneut hold war. Unbeschwerter denn je ritt er die Wellen, tanzte auf Bergen.
Als er ein weiteres Mal die Inseln aufsuchte, fand er sie kahl und leer. Die Traurigkeit und die Einsamkeit kamen wieder. Auf einer Insel sah er eine Gestalt, rotgelb lodernd.
„Wer bist du?“
„Ich bin das Feuer“, sprach das Wesen aufgeregt.
„Wer bist du?“
„Ich bin der tanzende Wind. Zusammen könnten wir der tanzende Feuerwind sein.“
Das Feuer, jung an Jahren und Erfahrung, schloss sich gerne dem mächtigen tanzenden Wind an.
So durchstreiften sie nun als tanzender Feuerwind vereint die Erde.
Schnell bemerkten sie die unheimliche Kraft, die sie zusammen aufbringen konnten. Vorwärts, immer nur vorwärts - nichts konnte sie aufhalten. Niemand konnte sich mit ihnen messen. Sie waren nun die Herren der Welt.
So zogen sie über die Erde und hinterliessen nichts als verbrannte Erde.
Doch ihre grosse Macht verkümmerte allmählich, bis das Feuer, das einst über den Bergen loderte, und der einst so mächtige wirbelnde Wind nur noch ein laues Lüftchen waren. Langsam, aber stetig sank das Flämmchen in sich, bis nur noch ein feiner schwarzer Rauch die ehemals stolze Flamme zierte und sie bald erlosch.
Die Zeit verging langsam im immer gleichen Trott. Der früher tanzende Wind wehte nun alleine über die Meere - einsam und traurig. Nur noch ein Hauch war von ihm übriggeblieben. Mit letzter Kraft erreichte er eine unberührte Insel mit saftigen grünen Hügeln, wellenbrechenden Klippen und kleinen Bächlein. Das unberührte Land gab ihm Kraft. Er wuchs schnell. Schon bald strotzte er von neuer Energie. So flog er über die Meere, um neues Land zu entdecken. Als er eine ihm unbekannte Küste erreichte, begegnete er einer sonderbaren Kreatur.
„Hallo, wer bist du?“, fragte er das Wesen.
„Ich bin der singende Wind“, sagte es zu ihm.
Der wirbelnde Wind gluckste vor Freude.
„Ich bin der tanzende Wind. Zusammen haben wir ungeahnte Macht und Kraft.“
Mit nie dagewesener zerstörerischer Macht durchkämmten sie fortan Länder und Seen, bis auch ihnen die Kraft entsagte und nur eine kleine Böe von ihnen übrigblieb, eine kleine unschuldige Böe, die alleine über das Meer zog.
Einsam, von ihren Eltern zurückgelassen, zog sie traurig und ohne Halt Tag für Tag dahin, bis sich das Meer, der älteste und weiseste Bewohner der Erde, sich ihrer annahm. Das Meer war der Zerstörung, welche die Eltern der kleinen Böe hinterlassen hatten, müde.
„Ich grüsse dich, kleine Böe. Ich bin der Herr der Meere, Meister über alles auf und in mir, Lebenselixier der Welt.“
Die kleine Böe erschrak. Schüchtern und mit leiser Stimme fragte sie ihn, ob er auch ihr Meister sei.
Lachend verneinte das Meer.
„Nein, nein, kleine Böe, du wirst einmal die Herrin der Lüfte, Meisterin von allem Fliegenden, Lebenselixier der Erde, sein. Du wirst eines Tages so mächtig sein wie ich. Diese Macht aber birgt Verantwortung.“
„Ach was, Ihr scherzt, Ihr seid der Herr der Meere. Ich bin nur eine kleine Böe.“
„Noch stimmt das, doch wenn es soweit ist, werden dich meine Wellen an Land tragen. Die Bäume, Wiesen und Pflanzen sind dein Lebenselixier.“
„Aber wartet, Herr der Meere, Ihr sagtet doch, ich seid das Lebenselixier!“
„Ja, das der Tiere zum Beispiel. Du bist dasjenige der Bäume und Pflanzen. Die Elemente können sich gegenseitig zerstören oder sich Leben spenden. Die Macht und Kraft, die sie dir schenken, wird dich stärker und lebendiger machen, als du es dir vorstellen kannst. Doch diese Macht birgt eine noch grössere Verantwortung für den Erhalt der Welt. Du musst die Schutzpatronin der Lüfte werden.“
„Wie soll ich wissen, ob ich das Richtige oder das Falsche tue?“, fragte sie.
„Sei eins mit der Welt, höre hin und du wirst die Wahrheit in dir finden. So, nun geh, kleine Böe, gehe hin und verschmelze mit uns. Auf, kleine Böe, erklimme die Gipfel, fülle die Täler mit deiner Luft. Geh, kleine Böe, spende Leben, doch schaue hin und wieder zurück. Geh hin und mache es besser als unsereins.“