Klassentreffen
Kritisch betrachte ich mich im Spiegel. Unzufrieden mit meinem Outfit, meinem Make Up, meiner Frisur. Doch eigentlich weiß ich tief in mir, dass es nicht daran liegt. Ich bin aufgeregt. Nervös. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so nervös war. Ob es eine freudige oder eine ängstliche Nervosität ist, kann ich noch nicht sagen. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich sie heute wiedersehen werde. Und zwar beide, wenn es stimmt, was Emma erwähnte, nachdem sie mir die Einladungsmail weiterleitete. Ob sie wohl wissen, dass ich auch komme? Und falls ja, kommen sie dann überhaupt? Ich an ihrer Stelle würde es auf jeden Fall nicht. Es ist 9 Jahre her, als ich sie alle das letzte Mal sah und damals dacht ich, dass es so bleiben wird. Doch aus den Augen aus dem Sinn trifft wohl nicht immer zu, denn hier stehe ich nun und mache mich fertig für das Abendessen mit meinen alten Schulfreunden. Bereit mich endlich meiner Vergangenheit zu stellen.
Ich schlüpfe in meine neue schwarze Stiefeletten, die ich mir extra für diesen Abend gekauft habe, und schnappe mir meine für besondere Anlässe vorgesehene Clutch. Sie passt gut zum gleichfarbigem engen schwarzen Kleid, das mir bis zu den Knien reicht. Ob er mich wohl immer noch attraktiv findet? Meine zunehmende Nervosität überrollt mich, gefolgt von einem großen Wagen voller Zweifel. Schweratmend bleibe ich stehen und bemerke, dass meine Beine mich wie in Trance ganz von alleine vor Leonies Haus, wo das Abendessen stattfinden soll, getragen haben. Und gerade als ich mich dazu entschieden habe wieder zurück ins Hotel zu gehen, höre ich jemanden meinen Namen vom Balkon rufen. Ich drehe mich also wieder um und schau nach oben. Es ist Emma, die mir freudestrahlend zuwinkt.
„Wo willst du denn hin? Du bist schon richtig hier! Komm hoch, es sind schon fast alle da!“ , ruft sie mir zu.
Ich lächele verlegen zu ihr hoch und gehe schließlich durch die offene Eingangstür. Im Treppenhaus bleibe ich noch einmal stehen, atme tief durch und schlucke meinen rießen Kloß an Nervosität und Angst hinunter.
Zuversichtlich betrete ich die Wohnung mit einer aufgesetzten Selbstsicherheit, welche jedoch schnell wieder fällt, als ich die mich anstarrenden Gesichter erblicke. Von Entsetzen, Enttäuschung und Misstrauen bis hin zu Wut und Hass kann ich alles darin erkennen.
„Was macht sie denn hier?“ , zischt Verena, eine meiner ehemaligen besten Freundinnen.
Ich hätte nicht kommen sollen, es war ein Fehler. Es war naiv zu glauben, sie hätten als vergessen, was passiert ist. Und noch naiver zu glauben, sie würden mit verzeihen. Ich möchte weg von hier. Doch gerade als ich aus der Wohnung stürmen will, sehe ich ihn und bleibe wie angewurzelt stehen. Seine schokobraunen Augen mit den langen Wimpern ziehen mich in seinen Bann, genau wie früher. In seinem Blick erkenne ich zu meiner Verwunderung weder Wut noch Enttäuschung. Bilde ich es mir ein oder blitzte sogar ein Funken Freude durch? Wie von Medusa versteinert stehe ich einfach nur da und starre ihn an, unfähig irgendetwas zu sagen oder mich zu bewegen.
„Hey… lange nicht gesehen…“, unterbricht er endlich die Stille, die sich im ganzen Raum ausgebreitet hat. Seine Stimme klingt…neutral.
Bevor ich etwas antworten kann, faucht Verena mich an: „Du hast hier nichts zu suchen! Niemand will dich hier dabei haben, also verpiss dich!“
„Ich hab sie eingeladen. Ich dachte nach all den Jahren wäre es schön mal wieder alle zusammen zu sein. Es ist doch so lange her.“, gesteht Emma und schaut dabei verunsichert in die Runde.
Ich seufze und sage zu Emma: „Das ist lieb von dir, dass du an mich gedacht hast, aber ich denke es ist besser, wenn ich wieder gehe.“
„Jetzt bist du doch schon hier, wieso gleich wieder gehen?“, widerspricht Lukas mir.
Ich werde nicht schlau aus ihm. Er ist doch derjenige, der mich mit Verena zusammen am meistern hassen müsste, wieso will er, dass ich bleibe? Das scheint sich auch Verena zu fragen, denn sie wirft ihm einen bösen Blick zu. Doch bevor sie etwas entgegnen kann, kommt Leonie mit den Spagetti aus der Küche.
„Essen ist fertig!“, ruft sie aufgeregt und alle begeben sich an den großen gedeckten Tisch. Ich nehme schräg gegenüber von Lukas und Verena Platz, neben mir sitzt Emma.
Während alle in Gespräche über alte Schulerinnerungen oder Beruf und Familie vertieft sind, höre ich Emma nur mit einem Ohr zu, wie sie von ihrem zweijährigen Sohn schwärmt. Stattdessen beobachte ich Lukas, er sieht noch fast genauso aus wie früher. Ich ertrage es nicht ihn zusammen mit Verena zu sehen. Ich muss ihm alles erklären, jetzt da ich wieder Hoffnung schöpfe, dass er mir verzeihen könnte. Sonst hätte er doch nicht vorgeschlagen, dass ich bleibe oder?
„Können wir kurz reden, Lukas?“, schießt es aus mir heraus.
Überrascht und ein wenig überfordert mustert er mich. Vielleicht hätte ich warten sollen bis sein Gespräch mit den Anderen zu Ende ist und ihn nicht einfach vor allen unterbrechen sollen.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Layla?!“, antwortet Verena mit spöttischem Gelächter an Lukas Stelle.
„Du bist gerade einmal 10 Min hier und schon meinst du alles dreht sich wieder nur um dich. Kannst du es nicht einmal gut sein lassen und dir eingestehen, dass du schon genug angerichtet hast?!“, feuert sie hinterher.
Ich spüre Wut in mir aufsteigen, mir wird ganz heiß und ich kann meine Beine kaum stillhalten auf meinem Stuhl. Ich musste versuchen mich zu beruhigen und schlucke die brodelnde Wut, die gerade nur zu gern ausbrechen würde hinunter.
„Ich möchte es doch nur zu erklären versuchen.“, entgegne ich stattdessen mit ruhiger und gefasster Stimme, woraufhin Lukas mich verständnisvoll anschaut.
„Dafür hattest du lang genug Zeit“. Im Gegensatz zu mir gibt sich Verena keine Mühe ihre Wut zu verbergen.
„Das stimmt…Du bist einfach fortgegangen…“, mischt sich jetzt auch Lukas ein und ich erkenne an seinem gequälten Blick und der Art wie er den Mund verzieht den ganzen Schmerz, den ich ihm zugefügt habe.
Ich konnte es nicht mehr leugnen, denn ich war Schuld daran, dass sein Bruder tot ist. Ich habe ihn umgebracht, auch wenn es nie meine Absicht war. Es war ein Unfall.
„Ich weiß das war nicht richtig, ich bereue es wirklich.“, versuche ich zu erklären.
„Tzz, ja klar und das fällt dir jetzt erst ein. Nach 9 Jahren…“ Verena rollt mich den Augen.
„Vielleicht solltet ihr das unter euch klären. Ihr zieht hier ganz schön die Stimmung runter.“, wirft nun Tobi, ein anderer alter Schulfreund ein.
Ich werfe Lukas einen traurigen, aber erwartungsvollen Blick zu, woraufhin er sich von seinem Stuhl erhebt. Doch weiter kommt er nicht, denn Verena, die ihrer Wut nun freien Lauf lässt, packt ihn an seiner Schulter und drückt ihn wieder zurück auf seinen Stuhl.
Ich verstehe, dass sie wütend ist, da die ganze Tragödie mit Lukas Bruder auch ihr Leben maßgeblich beeinflusste. Zu jenem Zeitpunkt waren sie beste Freunde und sie unsterblich in ihn verliebt, was die ganze Sache nur noch schlimmer machte. Nachdem dem tragischen Unglück haute ich ohne mich zu verabschieden ab und Lukas wurde zu Verwandten im Ausland geschickt. Damit verlor sie gleich zwei beste Freunde und ihre große Liebe auf einmal. Aber ich versuche es in Ordnung zu bringen, doch das kann ich nicht, wenn sie mich nicht zuerst mit Lukas reden lässt. Mein Geduldsfaden wird immer dünner.
„Du hast kein Recht, dich in alles einzumischen, Verena! Ich will zuerst mit Lukas reden, nicht mit dir und du wirst mich nicht davon abhalten! Also fahr dein rießen Ego etwas herunter und gesteht du dir ein, dass sich auch nicht alles um dich dreht!“, keife ich sie nun an, was das Fass zum Überlaufen bringt.
Sie steht ruckartig auf, schlägt mit den flachen Händen auf den Tisch und beugt sich zu mir rüber. Ihre von Hass durchfluteten Augen funkeln mich böse an.
„Wann verstehst du es endlich?! Du lässt mir keine andere Wahl als mich einzumischen, denn das letzte Mal als ich es nicht tat, hast du mein Leben zerstört! Und nicht nur meins! Alles, was du tust, richtet Schaden an! Also ja, ich habe sehr wohl das Recht mich einzumischen, denn nur so kann ich verhindern, dass du noch mehr Unheil anrichtest als bisher schon! Du dreistes Mist…“ Auf einmal schreit sie panisch auf. Im nächsten Augenblick wird mir bewusst warum.
Ich blicke schockiert auf meine Gabel, die in ihrer Hand steckt. Sie schreit vor Schmerz und Blut verteilt sich bereits auf dem Tisch, doch ich starre einfach nur auf die Gabel. Ich habe schon wieder die Kontrolle verloren. Wieso passiert mir sowas immer wieder?
Um mich herum bricht Chaos aus. Einige Mädels reden beruhigend auf Verena ein, während andere sich um die Hand und das Blut kümmern.
Ich flüchte nach draußen in den Flut. Ich bekomme keine Luft. Dann spüre ich eine Hand auf meinem Rücken und sofort spüre ich dieses Kribbeln in meinem ganzen Körper.
„Atme tief ein und aus, ganz langsam.“, flüstert er mir ins Ohr.
Ich tue, was er sagt und merke sofort, wie ich ruhiger werde. Auf meine Frage, was er denn hier draußen bei mir macht, scherzt er nur, dass ja irgendjemand mich im Auge behalten muss, bevor ich noch jemand mit einer Gabel absteche und grinst mich dabei an. Obwohl mir gerade überhaupt nicht nach Lachen ist, da mich alle Personen in Leonies Wohnung wahrscheinlich am liebsten umbringen wollen, muss ich schmunzeln. Allerdings gibt es jetzt noch eine Sache mehr für die ich mich entschuldigen muss. Die Liste wird immer länger.
„Was damals passiert ist…“, fange ich an, doch Lukas unterbricht mich.
„Layla hör zu, wir müssen nicht darüber reden. Ich weiß, was passiert ist und deine Entschuldigung jetzt, nach all den Jahren, ändert nichts daran.“
„Es war keine Absicht, das musst du mir glauben! Ich wollte doch nur etwas Zeit für uns.“
„Du hast ihn eingesperrt Layla! Meinen 8 jährigen Bruder!“ Er wirkt aufgebrachter als zuvor. Ich wusste, dass die Wut noch irgendwo tief in ihm schlummert und jetzt kommt sie zum Vorschein.
„Ich weiß, dass war nicht richtig, aber du hast dich doch selbst immer beschwert, wie nervig er ist. Ich konnte doch nicht ahnen, dass ein Feuer ausbricht.“
„Und dennoch ist er jetzt tot. Deinetwegen!“
Vielleicht war es ein Fehler darüber zu sprechen und alles nochmal auf zu wirbeln.
„Ich weiß, dass es meine Schuld ist. Das leugne ich gar nicht, aber…“
„Aber was?!“ Er wirkt genervt.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll… Es tut mir leid! Es tut mit wirklich leid, alles, was passiert ist.“ Meine Augen füllen sich mit Tränen.
„Und um mir das zu sagen, hast du 9 Jahre gebraucht?“
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, denn ich kann mir selbst nicht erklären, warum ich damals einfach gegangen bin. Wahrscheinlich weil ich Angst hatte. Angst davor, wie er reagieren würde. Angst davor, dass genauso reagiert, wie er es gerade tut.
Die ersten Tränen rollen über meine Wange. In seinem Gesicht kein Verständnis zu sehen.
„Weißt du überhaupt, was Verena deinetwegen alles durchmachen musste?!“, brüllt er mich nun an.
„Meine Mutter hat mir erzählt, was mit ihr passiert ist, nachdem wir beide weg waren.“ Ich kann ihm nicht in die Augen schauen und starre stattdessen auf den Boden.
„Ich hatte Angst..“, bringe ich schluchzend hervor.
„Angst, pff…. Und jetzt rammst du ihr eine Gabel in die Hand, etwa auch aus Angst?!“
Was konnte ich darauf denn antworten. Ich habe dem armen Mädchen, meiner ehemaligen besten Freundin, damals das Leben zerstört und jetzt sehe ich sie nach 9 Jahren zum ersten Mal wieder und steche sie mit einer Gabel ab anstatt mich zu entschuldigen. Ich bin wirklich ein schlechter Mensch.
„Weißt du, ich habe mich vorhin echt kurz gefreut dich wieder zu sehen. Trotz allem, was passiert ist.“
Ich blicke auf und stelle fest, dass auch sein Gesicht mit Tränen bedeckt ist.
„Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an dich und alles, was geschehen ist, gedacht habe. Ich weiß, ich kann es nicht wieder gut machen, aber ich bereu alles sehr.“
Plötzlich macht er einen Schritt auf mich zu und nimmt mein Gesicht in seine Hände.
„Ich hätte dich gebraucht damals! Ich habe dich so dringend gebraucht, als er weg war, dass ich bereit war dir zu verzeihen. Dir eine zweite Chance zu geben.“ Er streichelt über meine Wangenknochen.
Doch bevor ich ihm antworten kann, geht die Tür auf und die immernoch weinende Verene steht im Flur. Lukas schlingt den Arm um sie, drückt ihr einen Kuss auf die Stirn und sagt: „Lass uns gehen, der Abend ist gelaufen. Geh schon mal runter, ich hol noch meine Jacke.“
Er sieht mir tief in die Augen.
„Du hast viele schlimmen Dinge getan und nie Verantwortung dafür übernommen. Lerne es wieder gut zu machen anstatt den Leuten noch mehr Schmerz zu zufügen.“
„Aber was ist mit der zweiten Chance? Ich dachte du wolltest mir verzeihen…“, flehe ich ihn an.
„Ich wollte dir verzeihen. Damals. Wärst du nicht fortgegangen. 9 Jahre sind eine lange Zeit um Dinge klarer zu sehen. Gefühle verblassen. Mit der Zeit wurden die Wut, der Hass und die Enttäuschung zwar weniger, aber gleichzeitig wuchs die Erkenntnis, dass ich dich nicht mehr brauche. Auch wenn mir dies zu glauben in manchen Momenten schwer fällt.“
Mit diesen letzten Worten dreht er sich um um seine Jacke aus der Wohnung zu holen.
Ohne mich von den Anderen zu verabschieden, begebe ich mich auf den Heimweg; mit nur einem Gedanken im Kopf: Ich habe zu lange gewartet.
Ich habe viele schlimme Dinge in meinem Leben getan, von denen ich vieles bereu. Doch am meisten bereue ich 9 Jahre lang für dieses Gespräch gewartet zu haben. Nicht mal, dass meine beste Freundin nach dem Unglück in die Psychiatrie eingewiesen werden musste und ich sie trotz ihrem Wunsch nicht einmal besuchte. Ich hatte die Chance meine Fehler gut zu machen und glücklich zu wurden mit der Liebe meines Lebens, doch ich habe sie weggeworfen. Weil ich zu egoistisch bin und mich vor unangenehmen Situationen drücke. Uns dabei Menschen verletze. Wie Verena heute Abend. Und anstatt mich bei ihr zu entschuldigen, bin ich schon wieder davon gerannt.
Ich verdränge das Geschehene und versinke in meiner Phantasie. In dieser dreht sich alles um die Frage, was wäre, wenn ich nicht 9 Jahre lang gewartet hätte. Ich verfalle in meine Traumwelt, in der Lukas und ich zusammen glücklich sind. Dass dies nicht die Realität ist, blende ich aus, denn das ist das Einzige, was mir jetzt noch bleibt um nicht schon wieder die Kontrolle zu verlieren.