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Klassentreffen
Der Blick meiner Mutter spricht Bände. Ich weiß nicht, wie diese Frau es schafft, eine Mischung aus Vorwürfen, Mitleid, Enttäuschung und Frust in ihr Gesicht zu packen und mich wortlos unter ihren Emotionen zu begraben. „Du siehst müde aus“, ist das Einzige, was ihr herausrutscht, als sie mich in ihre pummligen Arme schließt und an sich drückt. Sie riecht nach Zuhause, Niveacreme und gedünstetem Kohl.
„Mmh, Krautwickel?“
„Ja, die hast du doch so gerne.“ Glücklich, dass sie mein armseliges Leben zumindest mit Essen ein bisschen aufheitern kann. Tatsächlich legt sich mein Impuls, die Tasche zu nehmen und in den nächsten Zug zurück nach Hamburg zu steigen.
Während in den meisten Familien die alten Jugendzimmer längst in praktische Gäste-, Büro- oder Hobbyräume umgewandelt wurden, bleibt meines im Originalzustand von 1996, als ich auszog, um mein Studium zu beginnen. Meine Eltern schwanken seit zwanzig Jahren zwischen Hoffnung und Furcht, dass ich eines Tages in mein altes Zimmer zurückkehre und als Kunstlehrerin am örtlichen Gymnasium anfange.
An der Pinnwand Schnappschüsse aus Fotoautomaten, zu zweit, zu dritt, sogar zu viert haben wir uns damals in diese Dinger reingezwängt. Sabine und Manu, beide sind längst verheiratet und haben Kinder, die in die Grundschule gehen. Und zwischendrin immer wieder Katrin. Mir graut vor dem Klassentreffen morgen Abend, ich weiß nicht einmal mehr, warum ich überhaupt gekommen bin.
„Hast du Katrin schon angerufen?“, will meine Mutter nach dem Essen wissen, „Inge hat mir erzählt, dass sie gleich losfahren wollte, wenn die Kinder aus der Schule kommen.“ Sie wirft mir einen schnellen Blick zu. „Ach, eine Schande ist das, nach zwanzig Jahren! Das hätte man dem doch nie zugetraut, dass der seine Familie verlässt … die armen Kinder!“
„Ja, dem Attentäter von Nizza hätte man auch nicht zugetraut, dass er fünfundachtzig Leute über den Haufen fährt.“
„Ach Monika, du bist unmöglich!“ An der Länge der Os in meinem Namen kann ich die Empörung meiner Mutter messen.
„Mama, so was passiert halt, auch in den besten Familien, wie du sehen kannst. Ein Weltuntergang ist das bestimmt nicht. Katrin geht es ganz gut, soweit ich weiß. Sie hat einen Job und die Kinder sind ja auch nicht mehr so klein.“
„Wie du das sagst! Als ob es nichts wäre, immerhin sind die beiden verheiratet! Aber das zählt wohl heutzutage nichts mehr, die Familie ist nichts mehr wert. Karriere, Geldverdienen, kleine Babys den ganzen Tag in die Krippe abschieben. Ach …“, sie macht eine wegwerfende Bewegung mit dem Lappen in der Hand und wischt dann energisch die Tischplatte ab.
Eigentlich könnte sie mir dankbar sein, dass ich ihr den Ärger mit untreuen Schwiegersöhnen erspare, doch die Enttäuschung über nicht vorhandene Enkelkinder überwiegt wohl. Meine letzte Beziehung liegt drei Jahre zurück und eine neue ist nicht in Sicht. Wahrscheinlich werde ich doch früher oder später wieder in mein altes Zimmer einziehen, was ganz praktisch wäre, dann könnten wir uns die ungarische Pflegekraft sparen, die meine Schwester Britta einzustellen gedenkt, sobald die Eltern es nicht mehr allein auf die Reihe kriegen.
Ich nehme den offiziellen Weg zum Vordereingang und klingle. Früher sind wir einfach durch den Garten zur Hintertür rein. Katrins Mutter öffnet. „Monika! Du siehst … aus wie früher!“, lügt sie. Ich weiß, dass ich schon mal besser aussah. Meine Haut ist unrein und blass, der Haarschnitt rausgewachsen, meine Klamotten gewöhnungsbedürftig. „Was macht die Kunst, arbeitest du noch in diesem Museum? Komm doch erstmal rein.“
„Äh, nein“, ich trete mir brav die Füße am Vorleger ab, „ich bin gerade auf der Suche nach einer Doktorandenstelle …“
Ihr Blick ist ratlos. „Aha, na ja, erst neulich hab ich zu Peter gesagt, wir müssen öfter mal Kultur …“
„Hey Moni!“ Katrin fällt mir stürmisch um den Hals. Ihre Zähne blitzen, die Augen strahlen. Sie sieht fantastisch aus und ganz und gar nicht wie eine gerade verlassene Ehefrau, was mir einen Stich versetzt. „Und?“, fragt sie mich, als wir die Treppe zu ihrem alten Zimmer hochgehen, das mittlerweile eines dieser multifunktionalen Gäste-/Enkel-/Fernsehzimmer ist, „Wie geht`s dir?“
„Ach ja, ganz gut …Schreibe Bewerbungen, aber es gibt einfach zu viele fünfundzwanzigjährige Studienabgänger, die warten nicht auf so eine „Oma“ wie mich. Na ja, ansonsten muss ich die Dissertation irgendwie anders finanzieren, mal sehen …“
„Komm schon Moni, dafür hast du wahnsinnig viel Erfahrung, die jungen Hühner steckst du doch alle in die Tasche!“
„Sag das nicht, die haben teilweise Praktika in Tokio oder New York gemacht, sind vernetzt ohne Ende, da sehe ich echt alt dagegen aus. Aber Schluss jetzt mit meinem Kram! Was ist mit dir, wie geht`s?“
„Ehrlich gesagt“, sie grinst schelmisch, „mir geht es richtig gut! Der neue Job ist toll, ich habe tausend neue Leute kennengelernt, gehe viel aus und …“ Ihr Grinsen wird noch etwas breiter.
„Und?“
„Ich hab jemanden kennengelernt! Ein cooler Typ, `n bisschen hipstermäßig, und …“, flüstert sie hinter vorgehaltener Hand, „fünf Jahre jünger, aber ja, läuft ganz gut.“
„Oh, das ist toll …“, die Worte bleiben mir beinahe im Hals stecken, „schön für dich.“ Es gibt Leute, die sind wie Stehaufmännchen. Katrin gehört definitiv dazu. Ich definitiv nicht. Noch vor sechs Wochen habe ich abendelang am Telefon ihren Heul-und Schimpftiraden über Jens, den untreuen Arsch, gelauscht und versucht, Ratschläge zu geben, sie aufzubauen. Anscheinend hat es ja geholfen.
„Und bei dir, ein Mann in Sicht?“
Kopfschüttelnd winke ich ab. „Du, ich muss auch gleich wieder gehen, meine Mutter will, dass ich sie zum Einkaufen fahre.“ Ich halte es keine Sekunde länger in diesem Zimmer aus.
„Oh, okay … Und was ist heute Abend? Wollen wir was trinken gehen? Wann hab ich schon mal kostenlose Babysitter?“
„Ich glaube, mein Onkel und meine Tante wollen noch vorbeikommen“, lüge ich, „die hab ich ewig nicht gesehen. Aber wir gehen ja morgen Abend zusammen aufs Klassentreffen.“
„Ah, naja, schade. Dachte, wir können noch ein bisschen reden.“ Die Enttäuschung steht ihr ins Gesicht geschrieben, aber mein Wohlwollen, das überschäumende Glück anderer zu ertragen, ist momentan nicht sehr groß.
Es war doch keine gute Idee, das geblümte Kleid meiner Mutter, das ich heute Nachmittag im Kellerschrank gefunden habe und ziemlich cool fand, anzuziehen. Jetzt komme ich mir neben Katrin und den anderen Mädels wie meine eigene Großmutter vor. Manu und Sabine, beide in der Heimat geblieben, sehen eigentlich noch genauso aus wie vor zwanzig Jahren nach dem Abi. Vielleicht etwas runder um die Hüften, mit flotteren Haarschnitten und braungebrannt von den Nachmittagen im Freibad mit ihren Kindern. Sie ziehen ziemlich heftig über ihre Ehemänner her, ihre Schwiegermütter, Fliesenleger, die die Kacheln im Neubau nicht längs, sondern quer verlegt haben. Nach einer halben Stunde sterbe ich fast vor Langeweile. Und nachdem Manu zum dritten Mal betont, dass sie mich jetzt, nach dem dritten Kind, echt um mein kinderloses Leben und meine „Freiheit“ beneidet, flüchte ich mich auf die Terrasse, um eine zu rauchen.
Es ist ein milder Juniabend, eigentlich wäre es netter gewesen, die Veranstaltung irgendwo im Freien zu machen, mit Grillen und Lagerfeuer. Katrin steht mit Henner und Jo draußen, lässig die Zigarette in der einen, das Weinglas in der anderen und lacht ihr sexy Katrin-Lachen. Es fehlt nur, dass den Typen der Sabber aus dem Mund läuft.
„Hey Moni, moin moin, was macht Hambuach?“, Jo will mir ein High Five geben, was ich tunlichst übersehe, so dass er sich verlegen mit der erhobenen Hand durch die schütter gewordenen Haare streicht. Ich schenke ihm ein müdes Lächeln und zünde mir eine Kippe an. Unglaublich, dass ich über zwei Jahre mit diesem Menschen zusammen war. Obwohl ich schon damals wusste, dass ich nur die zweite Wahl war. Aber wir waren jung und dumm. Nicht dass ich das Gefühl habe, heute reifer zu sein. Im Moment fühle ich mich eher wieder wie der picklige Teenager von damals.
„Katrin erzählt uns gerade Anekdoten von ihrem aufregenden Onlinedating. Unglaublich, was man da so alles erlebt …“
„Mmh, kann ich mir vorstellen“, murmle ich, obwohl sich meine Erfahrungen im Onlinedating auf eine Verabredung mit einem IT-Nerd beschränken, der dann zum Date einfach nicht aufgetaucht ist.
„Na ja“, Katrin winkt ab, sie scheint mein Unbehagen zu spüren, „sooo aufregend ist das auch wieder nicht. Erzähl du doch mal von deinen Promotionsplänen. Unsere Moni hier“, sie legt mir gönnerhaft den Arm um die Schultern und ich muss mich zusammenreißen, ihn nicht gleich wieder abzuschütteln, „wird nämlich Doktorin. Und wahrscheinlich irgendwann Professorin.“
„Wow.“ Jo und Henner nicken bemüht beeindruckt und ich habe keine Lust, dem etwas hinzuzufügen. Wir nehmen alle einen Schluck von unseren Drinks.
„Noch ganz schön warm heute Abend“, bemerkt Henner, „eigentlich ideal, um später noch ein bisschen NNB zu machen.“
„Ach hör auf“, kichert Katrin, mittlerweile leicht angetrunken und stößt ihn mit dem Ellenbogen in die Seite, „weißt du noch Moni, N N B - Nachts Nackt Baden? Wahrscheinlich würden wir sowieso nicht mehr durch die Drehtüren vom Freibad passen. Ach, das war echt immer ein Spaß …“ Für Katrin vielleicht, für mich eher mit Gruppenzwang, demütigenden Erinnerungen und peinlicher Unterwäsche verbunden. Peinlicher, nasser Unterwäsche, weil ich zu feige war, komplett blank zu ziehen.
„Ich hol uns jetzt allen noch was zu trinken und dann reden wir später nochmal drüber“, meint Jo und zwinkert Katrin neckisch zu, „du hast dich kein bisschen verändert …“
Ich könnte kotzen.
Zwei Stunden und ein paar Jacky-Cola später sitzen wir alle im Touran Siebensitzer von Manu, die nichts getrunken hat, weil sie ihr Jüngstes noch stillt und angeboten hat, uns beim Freibad abzusetzen. Die Kindersitze hat sie in den Kofferraum gelegt, neben den Notsitz, auf den ich mich gequetscht habe. Die alte Clique, Jo, Henner, Katrin, Robbie und ich, Sabine hat natürlich gekniffen. Neun Uhr Termin mit dem Gartenarchitekten, der anscheinend das nächste halbe Jahr lang ausgebucht ist.
Mir ist ein bisschen übel, aber ich bin einigermaßen cool, weil ich neue schwarze Unterwäsche anhabe, die ich nicht abzulegen gedenke, und es mir heute scheiß egal ist, ob die anderen mich spießig finden oder nicht. Katrin sitzt vor mir, zwischen Robbie und Henner und hat ihren Kopf an Henners Schulter gelegt. Ich überlege mir, was seine Freundin, die gerade das zweite Kind von ihm entbunden hat, wohl dazu sagen würde.
„Oh Gott, ich mach mir gleich in die Hose!“, brüllt Katrin lachend, als Robbie in der Drehtür stecken bleibt und weder vor- noch zurückkommt. „Du musst halt deine Wampe einziehen!“
„Ja“, feixt Jo, „weniger Feierabendbierchen!“
„Mann, das ist nicht witzig! Jetzt hilft mir vielleicht mal jemand?“
Der Trick ist, die Drehtür ganz gerade zu stellen, dann fest zu halten und sich an der Seite durchzuquetschen. Irgendwie schaffen wir es dann doch alle, durch den Eingang des Freibads zu kommen. Die Wiese ist nass vom Tau, es ist mittlerweile ganz schön kühl geworden. Der Mond ist halb voll und wird immer wieder von vorbeiziehenden Wolken verdeckt.
Katrin und Jo rennen übermütig kichernd voraus zum großen Schwimmerbecken. Ich trotte erst mal hinterher, ich habe keine Lust, jetzt ins kalte Wasser zu springen. Irgendwie ist die Luft raus.
„Wer als erstes im Wasser ist!“, brüllt Henner und fängt an, sich die Klamotten vom Leib zu reißen. Die anderen tun es ihm nach und bis auf Katrin sind alle innerhalb weniger Sekunden im Becken. Katrin, nur noch im Slip, taucht einen Fuß ins Wasser. Sie lässt sich absichtlich Zeit, damit die drei Männer ausgiebige Blicke auf ihre knackigen Brüste werfen können, die gerade vorteilhaft vom Mondlicht beschienen werden. „Ach, gar nicht kalt“, sagt sie und wagt einen Kopfsprung vom Beckenrand, Sekunden später ist sie wieder an der Oberfläche. „Boah, herrlich! Moni, komm rein! Worauf wartest du?“ Sie spritzt eine Ladung Wasser in meine Richtung. Ich hasse das und weiche aus, doch das Wasser trifft meine nackten Beine.
„Hey Mädels“, Jo taucht prustend neben Katrin am Beckenrand auf, „Moni, wartest du darauf, dass wir dich reinwerfen oder was, so wie früher?“
„Ja, bestimmt …“
„Schluss jetzt mit dem Kindergeburtstag! Lasst uns vom Fünfer springen“, tönt Robbie und klettert ungeniert aus dem Wasser. Sein Schwanz ist unterm Bauch im dunklen Haargestrüpp kaum auszumachen. Männliches Selbstbewusstsein sollte man haben. Die anderen steigen jetzt auch aus dem Becken. Ich bin gespannt auf Katrin, sie hat sich noch nie getraut, vom Fünfer zu springen. „Katrin, du etwa auch?“, meine Stimme klingt sarkastischer als beabsichtigt.
„Klar, warum nicht?“, erwidert sie schnippisch und überkreuzt die Arme vor der Brust. Ich kicke meine Sandalen von den Füßen und ziehe mein Kleid über den Kopf. Das kann ich mir nicht entgehen lassen.
Der Turm besteht aus zwei Einsern und zwei Dreiern mit jeweils einem Federbrett und einem Betonsteg und endet oben in fünf Metern Höhe mit einer großen Plattform aus Beton. An warmen Sommertagen standen hier bis zu fünfzehn Leute, die nacheinander auf das Zeichen des Bademeisters zum Absprung gewartet haben.
„Wahnsinn“, keucht Jo und breitet die Arme aus, „seht euch die Aussicht an! Wann wart ihr das letzte Mal hier?“
„Letztes Wochenende, mit Luca, und das war echt kein Spaß“, stöhnt Henner, „vollgepisstes Babybecken, Kindergeschrei und so, und natürlich nicht hier oben …“
„Zur Seite!“, brüllt Robbie und springt mit Anlauf ins dunkle Nichts, nach nicht mal einer Sekunde hört man den Aufschlag im Wasser. Der Mond ist gerade komplett verdeckt und das Becken sieht aus wie ein schwarzes Loch. Unheimlich. Als Nächster springt Henner.
„Oh Gott“, Katrin klappert mit den Zähnen, „ich kann das echt nicht. Schaut mal, wie hoch das ist!“ Sie steht an der Kante, die linke Hand am Geländer, und wirft ängstliche Blicke nach unten.
„Was ist denn los?“, tönt Robbie von unten, „wollt Ihr da oben übernachten?“
„Jetzt gibt es kein Zurück mehr! Mitgehangen mitgefangen!“, meint Jo grinsend und packt Katrin an der Schulter.
„Hey! Lass das!“, schreit sie panisch und klammert sich fester ans Geländer. Jo lacht nur und dreht sich zu mir um: „Ich glaube, die liebe Katrin muss einfach mal lernen loszulassen …“ Er versucht, ihren Griff zu lockern und sie vom Geländer wegzuziehen.
„Hör auf! Wenn du mich da runterschubst, bring ich dich um! Ich schwörs dir. Und nimm deine Griffel von meiner Brust! Ich weiß schon, warum ich dich damals nicht wollte, du bist ein blöder Idiot! Moni, jetzt hilf mir mal!“ Ich stehe da wie festgewachsen und sehe einfach nur zu.
„Oh, ja“, Jo drückt sein Becken an Katrins Hintern, „aber vielleicht willst du mich jetzt ... ich glaube, du magst es gerne auf die harte Tour.“
„Du Arschloch!“ Katrin lässt locker, um ihm eine reinzuhauen und in dem Moment stürzen beide zusammen in die Tiefe. Ich halte vor Schreck die Luft an, doch im nächsten Augenblick höre ich Katrin unten weiterzetern. Ich trete an die Kante, schließe die Augen und mache einen Schritt nach vorn. Für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich mich frei.