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Klassentreffen im Donisl
„Klaus?“, hörte ich jemanden von links sagen. Weil ich mich in das Buch noch nicht eingelesen hatte und Klaus heiße, hob ich den Kopf um nach dem Besitzer der Stimme zu suchen.
„Klaus! Na da schau her, du bist doch der Klaus. Erinnerst dich nicht?“
Ich erblickte eine dicklichen Mann, etwa mein Alter, etwas größer, mit einem formidablen Schnauzer, wie man ihn in der Achtzigern noch getragen hatte. Er grinste mich breit an, sogleich ahnte ich, dass ich ihn kennen sollte. So grinst man nur wenn man sich kennt. Sein Gesicht hatte leichte Ähnlichkeit mit, ja mit wem eigentlich? Mit irgendjemandem aus meiner Vergangenheit.
„Servus“, murmelte ich vorsichtig, weil ich erstens die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht auf mich ziehen wollte und weil ich zweitens nicht wirklich sicher war, ob der Schnauzbärtige mich gemeint hatte.
„Ja, Servus“, unterbrach er meine Überlegungen. Doch woher kannte ich ihn, vor allem, wie war sein Name? Da er mich mit meinem Vornamen angesprochen hatte, musste er mich kennen, gut kennen. Peinlich.
„Des ist ja jetz schon eine Ewigkeit her, oder? Also ich kanns gar net glaubn. Du hier beim Hugendubl? Du hast doch früher nie gelesen, du fauler Sack.“
Also, das ging jetzt doch etwas ...
Er kam mir plötzlich ziemlich nahe, stand nun direkt gegenüber von mir. Ich bemerkte, dass er nicht nur in einer höheren Gewichtsklasse, sondern auch ein ganzes Stück größer als ich war. Nun gut, mit ein Meter zweiundsiebzig hat man nicht mehr viel Konkurrenz nach unten.
„Mei, in der Schule warst du doch eher der Sportler, oder? Und net der Literat, was liest denn da?“
Er packte meine Hand, hob sie hoch und blickte auf das Buch, welches ich aufgeschlagen in der Hand hielt.
„So, so“ murmelte der Unbekannte. Er schien den Titel des Buches nicht zu kennen, verstand offensichtlich auch nicht, warum man ausgerechnet so ein Buch lesen solle. Der Dicke verzog das Gesicht unter seinem dichten Schnauzbart, doch ebenso plötzlich leuchtete ein Grinsen unter dem buschigen Gesichtsschmuck. Gleich mehrmals rief er nun laut und betont meinen Namen.
„Klaus, Klaus! Kläuschen.“ So hatte man mich lange nicht gerufen. „Du bist doch net etwa unter die Intellektuellen gefallen?“ Er lachte dröhnend und dieses Lachen hatte ich in meinem Leben schon mal gehört. Dessen war ich mir sicher. Nur ob es von ihm gekommen war, dessen Namen und Herkunft ich immer noch nicht kannte, konnte ich beim besten Willen nicht behaupten.
Ich wollte irgendwas sagen, da hob er schon wieder zu Sprechen an.
„Also der Dr. Heinzl hat ja damals schon gsagt: Aus dem Klaus wird noch mal ganz was gescheits. Auch wenn er jetzt in Deutsch eine solche Flaschn ist.“
Aha, von der Schule kannte ich ihn also. Dreißig Jahre her. Mindestens. Kommt drauf an aus welcher Klasse. Wahrscheinlich Oberstufe, aber der Name?
„Du sag amal, da müssen wir ja fast drauf trinken. Auf die alten Zeiten. Gehn mer doch rüber zum Donisl. Da kann ma jetzt ganz gut essen und auch net so teuer.“ Er lachte wieder. „Bist immer noch so sparsam beim Essen, ha?“ Er blickte auf meinen Körper. Verglichen mit ihm war ich ein Bulimist. Jedoch könnte ich nicht behaupten, dass ich nicht gern und gut, vor allem gerne gut aß. Und wenn es schmeckte durchaus auch mal reichlich.
Donisl, war das nicht das Lokal wo vor Jahren ...?
Wieder unterbrach er meine Gedankengänge, legte mir die Hand um die Schulter und nahm mir mit der anderen das Buch aus der Hand um es irgendwo auf einen Stapel mit anderen Büchern zu legen.
„Sowas solltest du net lesen, nicht vor dem Essen, hahaha“, dröhnte es in meinem rechten Ohr. Ich war heilfroh, als wir die Buchhandlung verließen. Er, laut vor sich hin erzählend und Fragen an mich stellend, die er aber alle gleich selbst beantwortete, sodass ich gar keine Möglichkeit hatte, ihn durch Befragen meinerseits näher kennenzulernen. Ich hingegen, in seinem Klammergriff neben ihm hertrottend und verzweifelt auf der Suche nach irgendwelchen Assoziationen, die der schnauzbärtige Dicke in mir hervorrufen würde. Nun, auf diese Weise, durch sein ununterbrochenes Reden, erfuhr ich von ihm wenigstens einige Details die mir später, wenn ich mal zu Wort kommen würde, in der Unterhaltung sicher helfen würden.
„ ... und die Rosi, kennst du die auch noch, erinnerst dich? Die hab ich letzthin am Viktualienmarkt getroffen. Die ist auch ganz schön auseinander gegangen. Sag amal, bist du mit der net mal zusammengewesen? Du sei froh, dass daraus nichts geworden ist ... “
Meine Frau heißt Rosemarie. Ich nenne sie Rosi, freilich nur dann wenn ich sie ärgern will, aber ich kenne sie erst seit, wart mal, wie lange? Nein von der Schule her kenne ich sie nicht. Das kann also nicht meine Rosi, äh Rosemarie sein. Jetzt habe ich ihn. Er muss mich verwechseln. Als ich gerade zu einem Satz ansetzen will, stehen wir auch schon vor dem Donisl.
„ ... aber vielleicht täusch ich mich auch“, hör ich ihn gerade sagen. Da er mittlerweile etwa zwanzig weitere Sätze gesagt hat, weiß ich nicht, ob sich seine vermeintliche Täuschung auf mein von ihm vermutetes Verhältnis mit Rosi bezieht, das zumindest so, wie er es geschildert hat, nie stattgefunden hat, oder auf etwas anderes, was ich wegen meiner gedanklichen Abwesenheit nicht mitbekommen habe.
Ich will gerade wieder etwas sagen, da sitzen wir schon an einem Tisch, im ersten Stock im Donisl und es naht schon eine Kellnerin.
„Einen Fisch gibt's hier leider nicht“, sagt er mit einem bedauernden Blick zu mir. Woher weiß der Mensch, dass ich Fisch mag? Er wendet den Kopf zur Bedienung und ruft: „Für mich das übliche, und a kleines Bier diesmal. Und der Herr?“, grinst er mich wieder an, „der Herr Klaus?“ Jetzt lacht er wieder, ziemlich aufdringlich wie mir scheint, aber das fällt im Donisl nicht weiter auf. Jedenfalls weniger als vorhin in der Buchhandlung. Die Kellnerin stimmt gleich ins Lachen mit ein, nennt mich ebenfalls Klaus, so, als ob sie mich schon Ewigkeiten kennen würde und meint ebenso: „Ja, an Fisch ham mer net. Zumindest net heit. Aber den Hirsch könnt ich empfehlen. Und auch a kleines Bier? Oder ein großes für den Kleinen, weil der große Herr eine Kleines bestellt hat!“ Beide prusten los, als hätten sie den Witz des Monats erzählt. Ich sehe mich unsicher um, will gerade nach der Speisekarte fragen, da ich, wenn es schon keinen Fisch gibt, doch gerne selbst entscheiden will, was ich esse, da ist die Kellnerin schon auf und davon. Der Dicke gegenüber beginnt sofort wieder zu reden.
Er erzählt von unserer gemeinsamen Schulzeit, von Ausflügen ins Schullandheim und ins Schilager, von verschiedenen Schulstreichen und von Abenteuern mit Mädchen. Da müssen noch andere als die Rosi gewesen sein, manchmal meine ich wirklich, mich erinnern zu müssen. Aber sein Redeschwall erlaubt mir keine klaren Gedanken zu fassen. So kenne ich jetzt, ungefähr eine halbe Stunde, nachdem wir uns getroffen haben, immer noch nicht seinen Namen. Dafür fallen mir mehr und mehr Geschichten aus meiner späten Schulzeit ein.
„ ... und der Loibl Toni, der ist letztes Jahr gestorben. Hast des gewusst? Du warst ja gar net auf der Beerdigung ... “
Der Toni? Ich erschrak. Mein bester Schulfreund hieß Toni, damals vor über dreißig Jahren, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Aber ob er Loibl hieß, mit Nachnamen? Soso, der weilte jetzt also auch nicht mehr unter uns. Ich versuchte mich an unser letztes Klassentreffen zu erinnern, aber das war auch mit Sicherheit schon zehn Jahre her. Der Toni war damals dabei, jetzt wo ich darüber nachdachte, konnte ich mich auch an eine Rosi erinnern. Auch einige andere Namen, die mein Freund genannt hatte, kamen irgendwie in mein Gedächtnis zurück.
Gerade als ich ihn etwas fragen wollte, kam die lustige Kellnerin wieder, stellte ein kleines Bier vor meinen neuen namenlosen Freund und ein Großes vor mich und raunte uns zu, als dürften es die anderen Gäste nicht hören, „Der Hirsch kommt gleich. Sie müssen noch s' Geweih abschrauben in der Küch'.“
Mein Gegenüber und sein weiblicher Counterpart brüllten abermals vor Lachen, derweil ich mich in irgendeinem unbekannten Theaterstück wähnte, wahrscheinlich einer Satire oder einem Drama. Verstohlen blickte ich umher und suchte die versteckte Kamera, während mein namenloser früherer Klassenkamerad weiter erzählte und mich mit Fragen löcherte, die ich zum einen nicht beantworten konnte, weil ich die Antwort nicht wusste, zum anderen, weil er mich gar nicht zu Wort kommen ließ.
Wir stießen an, er sagte Prost und hatte sein Bier fast in einem Zug ausgetrunken, sodass mir selbst in dieser trinkbedingten Redepause keine Zeit blieb auch nur ein einziges Wort anzubringen. Außerdem hatte ich jetzt auch Durst, obwohl ich kaum, ach was, überhaupt noch nichts geredet hatte. Ich nahm einen kräftigen Schluck, setzte das Glas ab und bemerkte, dass die Kellnerin bereits ein zweites, wieder kleines Bier vor meinen Freund gestellt hatte. Ich musste beim Trinken wohl kurz die Augen geschlossen haben, jedenfalls war mir das gar nicht aufgefallen.
Ich versuchte, die Hand zu heben, in der Absicht nochmal nach der Speisekarte zu fragen, weil ich eigentlich absolut keine Lust auf Hirsch hatte. Sonst eigentlich schon, aber heute nicht. Außerdem bestellte ich in der Regel mein Essen selbst.
„ ... das war ja damals wirklich eine peinliche Geschichte, gell?“, hörte ich ihn gerade sagen, „Hat sie sich wenigstens bei dir entschuldigt? Naja, man sieht sich ja immer zweimal im Leben.“
Ich musste dem Schnauzbärtigen zustimmen, gedanklich, nicht verbal, während ich überlegte, was er gerade erzählt hatte und welche Situation er gemeint hatte. Ich erinnerte mich an einige peinliche Situationen in der Schule, aber konnte mich jetzt an keine Konkrete erinnern. Das Gedächtnis filtert mehr als dreißig Jahre danach dankenswerterweise gewisse Dinge aus.
Noch während er von irgendeiner Schulfaschingsfeier schwadronierte und übergangslos auf die Abiturfeier zu sprechen kam, brachte die Kellnerin zwei Teller mit dampfendem Hirschgulasch und je zwei dicken Knödeln in einer braunen Soße, wie man sie normalerweise so nur auf Werbeplakaten sieht. Das ganze roch doch ziemlich würzig, obwohl ich wie gesagt heute eigentlich keinen Appetit auf Hirschgulasch hatte. Ich hob in einem letzten verzweifelten Versuch die Hand, um nochmal zu intervenieren, hörte aber die Kellnerin nur flöten, „Jaha, ich bring ja gleich noch ein Bier.“ Mein Glas war noch zu zwei Drittel gefüllt und ich war es eigentlich nicht gewohnt, so früh am Tag - wie spät war es eigentlich? - schon zwei Bier zu trinken. Ich blickte verstohlen auf meine Armbanduhr. Elf Uhr vormittags! Vor zwei Stunden hatte ich gefrühstückt und jetzt saß ich hier vor einer Riesenportion Hirschgulasch mit Knödel und Blaukraut, hörte mir Geschichten aus einer mir unbekannten Zeit von einem mir unbekannten Mann in einem mir unbekannten Lokal an.
Ich sollte langsam die Initiative übernehmen und jetzt wirklich versuchen, den Dialog mehr in meine Richtung zu lenken. Welchen Dialog eigentlich? Zuerst musste ich einen Grund, irgendein Argument oder einen Ansatzpunkt finden um Dings, na, wie hieß er doch gleich, der ... , den Dings ..., ist ja auch egal, zu unterbrechen, um ihn endlich fragen zu können, woher wir uns kennen.
„Nein“, sagte er laut, als hätte er meine Gedanken erraten. Oder hatte ich etwa doch gesprochen und, da es so lange her war, dass ich meine eigene Stimme gehört hatte, es gar nicht bemerkt?
„Nein“, sagte er nochmal laut und vernehmlich und diesmal drehte eine ältere Dame am Tisch schräg gegenüber den Kopf in unsere Richtung. Gott, wie peinlich.
„Nein, nein und nochmal nein. Hab ich Recht?“
Ich wollte gerade mit ja antworten, ich wollte ihm wirklich Recht geben, da erschien die Kellnerin, lachte uns lauthals entgegen und stellte mir das zweite, nicht bestellte Bier vor die Nase. Das zweidrittel volle Glas hingegen nahm sie kommentarlos mit.
„Also Prost“, sagte der Mann der mich Klaus nannte, so wie ich ja auch heiße, mir ansonsten aber völlig unbekannt war, mit der Ausnahme, dass er lauter Geschichten aus meiner, oder besser gesagt aus unserer gemeinsamen Schulzeit erzählte, von denen ich die meisten wiedererkannte.
Also lag der Fehler eindeutig auf meiner Seite. Es war nicht das erstemal, dass ich jemanden sah oder gar traf und mir nicht gleich sein Name einfiel. Meisten kam er mir dann aber nach ein paar gewechselten Sätzen doch noch in den Sinn. Aber dieses Mal. Wie abgeschnitten.
Ich sagte ... nein, ich sagte ja gar nichts. Ich meinte einen Moment, meine eigene Stimme vernommen zu haben aber ich hatte mich vermutlich getäuscht. Es war auch schwer möglich, da ich mittlerweile den Mund mit Hirschgulasch voll hatte. Ich wusste gar nicht mehr, dass Hirsch so gut schmeckte, auch wenn man keinen Hunger hat. Zwischendrin trank ich ein paar Schlucke Bier, sah meinen Gegenüber interessiert an, nickte zustimmend wenn er etwas erzählte dem ich zustimmen konnte oder schüttelte verblüfft den Kopf, wenn er eine gar zu tollkühne Bemerkung gemacht hatte.
Wir amüsierten uns köstlich. Das heißt, er amüsierte sich und mich störte es inzwischen nicht mehr, dass ich weder seinen Namen kannte, noch irgendeine Silbe oder auch nur ein Räuspern zu dem Gespräch beitragen konnte.
„ ... der Obermaier Johannes, dieses Mistvieh, der hat doch immer bei mir abgeschrieben. Die ganzen Mathearbeiten von ihm, war alles mein Werk, weißt du was der heute macht? „
Ich wusste es nicht, aber er würde es mir sicher erzählen. Ich wusste wenigstens, dass wir einen Johannes in der Klasse hatten, der allerdings meiner Erinnerung nach ein Mathegenie war.
„Der ist bei der Landesbank. Leiter vom Rechnungswesen. Leiter vom Rechnungswesen!“, brüllte er jetzt wieder so laut, dass selbst der Akkordeonspieler, der seit einigen Minuten die wenigen Gäste mit Volksmusik zu unterhalten versuchte, sein Spiel kurz unterbrach.
Erstaunlich, wollte ich gerade sagen, da tauchten plötzlich zwei Männer neben uns am Tisch auf, die mit finsteren Blicken zuerst auf mich, dann mit einem sichtlich erleichterten, und fast erheiterten Blick auf ... auf ..., Dings, naja auf den Herrn mir gegenüber blickten.
„Ja, da ham wir ihn ja! Grüß Sie Gott. Na hat's heut' wieder Hirsch gegeben?“ Beide Männer lachten, sie schienen ihn zu kennen. Mein Schulfreund war inzwischen ruhig geworden, angesichts der beiden Herren in ihren uniformähnlichen Anzügen. Er blickte die Beiden geistesabwesend an und sagte von nun an kein Wort mehr. Es war als hätte man aus einem Spielzeugroboter die Batterien entfernt.
„Ja, dann geh ma jetzt wieder heim, oder?“, meinte der andere Typ, ohne den Mann beim Namen zu nennen. Er legte dem dicken Menschen beinahe freundschaftlich aber doch mir einem gewissen Nachdruck die Hand auf die Schulter.
„Und ihnen wünsch mer noch ein guten Appetit“, meinte sein Begleiter freundlich an mich gewandt. Der Dicke stand auf, als wäre er ferngesteuert. Die beiden Männer nahmen ihn in ihre Mitte und verschwanden grußlos. Jeder hatte eine Hand auf eine seiner Schultern gelegt.
„Na, ihr Freund hat aber schnell wegmüssen.“, hörte ich plötzlich die Bedienung neben mir sagen.
„Darf ich abkassieren, ich hab dann nämlich Feierabend. War aber nett, dass sie ihren alten Freund zum Essen eingeladen haben. Wenn ma sich scho so lang nimmer gesehn hat, hat ma sich viel zum erzählen, gell? So, das macht dann 28,50. Zwei große, drei kleine Bier und zweimal Hirsch. Hats ihnen gschmeckt?“ Ich nickte, zückte meinen Geldbeutel, entnahm ihm einige Geldscheine, deren Wert ich nicht wirklich erkannte und überreichte sie ihr geistesabwesend.
Dann hörte ich eine leise Stimme, die sich anhörte, als wäre sie etwas aus der Übung, sagen: „Der Rest ist für Sie.“