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Klarer Blick
Ich sehe mein Gesicht im Spiegel und es macht mir Angst. Blass wie Kreide und mit Augenrändern, tief und dunkel wie ein Meeresgraben, bin ich dem Tod näher als dem Leben. Eine abartige Mischung aus Galle und Jägermeister tropft von meinem Kinn in das Waschbecken. Ich würge erneut und ein Schwall gelber Flüssigkeit ergießt sich aus meinem Mund. Ein beißender Gestank liegt in der Luft und es fällt mir schwer, zu atmen. Ich öffne das Badezimmerfenster, hole tief Luft und verfluche innerlich meine Schwäche. Während der frische Sauerstoff meine Lungen durchflutet, erlebe ich einen dieser seltenen, wirklich klaren Momente. Ich beobachte den stillen Tanz der Blätter im Hof und obwohl ich vor Sekunden noch das Gefühl hatte sterben zu müssen, fühle ich mich auf einmal seltsam lebendig. Es ist , als ob meine Gedanken endlich wieder einen Sinn ergeben würden, fernab von berauschten Hirngespinsten und vernebelten Phantasien. Ich falle auf die Knie und fange an zu lachen. Ich lache über mich, über das was ich bin und was ich hätte sein können. Ich lache über die Welt und darüber, dass die Menschen sich so wichtig fühlen. Ich lache über meine Erkenntnis, dass es weder Gott noch Teufel, weder Paradies noch Hölle gibt und, dass der Tod einfach nur Dunkelheit bedeutet. Ich lache über die Liebe, über das Bedürfnis zu ficken und über die Tatsache, dass wir auch nur Tiere sind, die den Zwang verspüren, sich zu vermehren. Ich schmecke den salzige Geschmack von Tränen und mein Lachen wird zunehmend hysterischer, es zerreist mir die Bauchmuskulatur, verrenkt mir den Kiefer. Ich krieche auf allen Vieren ins Wohnzimmer, immer noch wiehernd wie ein Pferd. Ich grabe meinen Kopf in die Kissen des Sofas und beginne zu weinen. All mein Leid fließt durch die Tränendrüsen in die dreckigen Kissenbezüge. Ich schluchze nun genauso laut, wie ich eben noch gelacht habe. Mühsam raffe ich mich auf und wische mir mit dem Ärmel den Rotz aus dem Gesicht. Ich stolpere zu dem vollbeladenen Wohnzimmertisch und mit zitternden Händen schüttele ich an den verschiedenen Flaschen, in der Hoffnung, noch einen rettenden Tropfen Alkohol aufzutreiben. Ich finde nichts als Frust. Ich werfe den Tisch um, taumle ins Badezimmer zurück und schnappe mir eine Flasche „4711“ Kölnisch Wasser. Ich setze an und schlucke, ohne mich an den seifigen Geschmack zu stören. Es brennt in meiner Speiseröhre und ich spüre wieder einen Anfall von Übelkeit. Ich halte mich am Waschbecken fest, kämpfe gegen das Gefühl, würgen zu müssen. Mein Blick fällt wieder in den Spiegel aber diesmal wende ich mich angewidert ab. Ich komme mir vor wie ein Stück Dreck. Aber was soll’s; das Leben geht weiter.
[Beitrag editiert von: Querschläger am 14.03.2002 um 11:21]