Was ist neu

Klang der Sehnsucht

Mitglied
Beitritt
12.04.2016
Beiträge
10

Klang der Sehnsucht

Das Cello weckte eine Erinnerung in ihr, die seit Jahrzehnten vergessen war. Von der Tribüne aus hatte sie nicht nur einen besonders guten Blick auf die Bühne, sondern auch eine hervorragende Akustik. Das Opernhaus war so groß wie eine Kirche und so gebaut, dass der Klang der Saiten fast magisch auf die Ohren der Zuhörer traf.
Sie versuchte erst gar nicht die Tränen zu unterdrücken die empor stiegen sondern ließ sie einfach zu. Der feine, dunkle Lidstrich verschwamm und färbte die Tränen schwarz, die ein dünnes Rinnsal auf ihrer von der Zeit gezeichneten Wange hinterließen.
Es war das Tau der Schuld, das sich immer fester um ihr Herz schnürte. Für den Moment, indem das Musikstück andauerte, stand die Welt für sie still. Gäbe es irgendeine Möglichkeit die Zeit zurück zu drehen oder Geschehenes ungeschehen zu machen, sie hätte ohne zu zögern ihr Leben dafür gegeben. Mehr als ein halbes Jahrhundert war seit jenem Tag vergangen. So viele Jahre die sie nur lebte, weil sie ihn zurückließ. Dabei hatte sie ihn geliebt. Mehr als alles andere auf der Welt.
Sie schloss ihre Augen und sah sein Gesicht so deutlich, als stünde er tatsächlich vor ihr. Der Moment, als er ihr noch einmal zuzwinkerte, kurz bevor sie ihm den Rücken kehrte. Seine zotteligen, braunen Haaren und das Freche in seinen Augen, das ihn ewig jung wirken ließ. Fast hätte sie gelächelt. Sie musste immer lächeln wenn sie ihm tief in die Augen gesehen hatte. Seine frohe Natur steckte stets alle Menschen an.
Doch es erlosch für immer.
Jede Note die der alte Künstler spielte war echt. Das Lied erzählte eine sehr alte und traurige Geschichte von Liebe und Schmerz, von Geborgenheit und Sehnsucht, vom Sterben und dem Leben danach. Die alte Frau dachte zurück, an die längst vergangene Zeit.

Sie hatten sich immer heimlich unter der Brücke an der Flussenge unten im Tal ihres Heimatdorfes getroffen. Es war der sicherste Ort gewesen, den sie gekannt hatten. Niemand hätte dort nach ihnen gesucht. Der jüdische Junge und sie hatten eine verbotene Liebe in einer verbotenen Zeit gelebt. Doch es war ihnen egal gewesen. Ihr war es egal gewesen. Selbst die Rückhand ihres Vaters hatte sie nicht von ihren Gefühlen abgehalten. Sie hatte bei ihm sein wollen.
Jener Tag, an dem sie ihn verloren hatte, hatte regnerisch und kalt begonnen. Ihr Vater war in seiner Uniform am Frühstückstisch gesessen und hatte sie angeschrien. Er hatte sie nach draußen und über die Straße zu dem Haus in dem ihr Geliebter wohnte gezerrt. Vor der Tür hatte bereits ein Wagen der SS gehalten und auf sie gewartet. Der Junge war von zwei der Soldaten gestützt worden. Sein Gesicht hatte Blessuren in verschiedenen Farben und die aufgeplatzten Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen, als er sie erkannt hatte. Das Mädchen hatte gewusst, was nun geschehen würde. Sie hatte in diesem Moment begriffen, dass sie ihn zum letzten Mal sehen würde. Sie hätte ihn in ihre Arme schließen können, ihm wie versprochen überallhin folgen können, jedes Leid teilen, doch sie hatte es nicht getan.
In ihrem Herzen war etwas zerbrochen, das wie aus Glas hätte sein können und hatte ihr die Kraft zum Atmen geraubt. Sie war gestorben... und es sollte ein sehr langsamer und qualvoller Tod werden.

Heute, so dachte sie, würde sie ihm sogar in den Tod folgen, wenn sie dann nur für alle Ewigkeit mit ihm verbringen würde.
Die Musik wurde lauter und der Rhythmus schneller. Der alte Mann führte den Bogen nicht länger zart über die Saiten sondern wirbelte geradezu damit über das Instrument, wie ein Fechter, der seinen Degen in das Herz seines Gegners stach.
Das Musikstück gewann an Härte und Wut. Die Zeit dehnte sich zunehmend und die alte Frau gab den inneren Kampf um die Beherrschung ihrer Gefühle auf. Sie konnte fühlen, was der Komponist fühlte. Sie spürte den gleichen Schmerz wie der Mann, der das Cello spielte. Wie einem stummen Ruf folgend stand die Dame auf und lief zur Brüstung. Das Haus war voll. Jeder lauschte ergriffen den Klängen des alten Künstlers.
Doch nur sie spürte es.
Mit dem letzten Moll-Ton, den er mit dem Bogen zog und das Lied beendete sah er zu ihr auf.
Ihre Blicke trafen sich und der alte Mann mit den grauen zotteligen Haaren und den frechen Augen zwinkerte ihr zu.
Genau wie damals.

 

Hallo Link,

ich fange mal mit dem Sprachlichen an:

Sie versuchte erst gar nicht die Tränen zu unterdrücken[Komma] die empor stiegen[Komma] sondern ließ sie einfach zu.

Dieser Satz hier hat mir gefallen:
Der feine, dunkle Lidstrich verschwamm und färbte die Tränen schwarz, die ein dünnes Rinnsal auf ihrer von der Zeit gezeichneten Wange hinterließen.
Hier bekomme ich ansatzweise ein Bild von der Frau. Sie schminkt sich sorgfältig, denn ein feiner Lidstrich, das muss man erstmal können. Da hatte ich das Bild einer mondänen Dame im Kopf.

So viele Jahre die sie nur lebte, weil sie ihn zurückließ.
Ich nehme an, dass sie ihn zurückgelassen hat, ist schon einige Jahre / Jahrzehnte her, oder? Da fände ich die Vorvergangenheit besser. Also: So viele Jahre, die sie nur lebte, weil sie ihn zurückgelassen hatte.

Sie musste immer lächeln[Komma] wenn sie ihm tief in die Augen gesehen hatte.
Hier wiederum würde ich in einer Zeit bleiben, also: Sie musste immer lächeln, wenn sie ihm tief in die Augen sah.

Hier habe ich eine Frage:

Doch es erlosch für immer.
Auf was bezieht sich dieses "es"?

Jede Note[Komma] die der alte Künstler spielte[Komma] war echt.
Was willst du hier genau sagen? Was meinst du mit "echten" Noten?

Es war der sicherste Ort gewesen, den sie gekannt hatten.
Den zweiten, fett markierten Satzteil würde ich streichen.

Ich würde mir überlegen, diesen zweiten Absatz komplett im Präteritum zu schreiben. Das ist eines der vielen Dinge, die ich von Friedel lernen konnte, das Plusquamperfekt klingt einfach sehr sperrig mit seinen vielen "hatte"-Konstruktionen. Ich habe mal im Kopf den Absatz gelesen und die Zeit mit dem Präteritum ersetzt und es klang irgendwie geschmeidiger, schneller.

Er hatte sie nach draußen und über die Straße zu dem Haus[Komma] in dem ihr Geliebter wohnte[Komma] gezerrt.

Sie war gestorben... und es sollte ein sehr langsamer und qualvoller Tod werden.
Viel zu sperrig. Warum nicht so etwas wie: Sie starb an diesem Tag. / Innerlich starb sie an diesem Tag. Doch der Schmerz zog sich durch ihr gesamtes Leben. Oder irgendwie so etwas.

Der alte Mann führte den Bogen nicht länger zart über die Saiten[Komma] sondern wirbelte geradezu damit über das Instrument, wie ein Fechter, der seinen Degen in das Herz seines Gegners stach.

Mit dem letzten Moll-Ton, den er mit dem Bogen zog und das Lied beendete[Komma] sah er zu ihr auf.

Ihre Blicke trafen sich und der alte Mann mit den grauen zotteligen Haaren und den frechen Augen zwinkerte ihr zu.
Genau wie damals.
Ui. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Also lebt er noch? Ja Holla die Waldfee!

Ich finde, da steckt noch viel drin. maria hat recht, die Frau bleibt konturenlos (bis auf das kleine Bild, das ich anfangs kurz von ihr hatte). Vielleicht würde es beide lebendiger machen, wenn du eine Situation zwischen ihnen beschreibst. Das muss nicht mega kitschig oder lang gestaltet sein - gar nicht. Sondern ein Treffen zwischen ihnen, das beschreibt, wie nah sie sich sind. Eigenheiten, die sie haben. Irgendetwas, dass sie mir, als Leserin, näher bringt.

Ich hoffe, du kannst damit etwas anfangen.

Viele Grüße
RinaWu

 

Ja die Kommaregeln.... zählt zu meinen absoluten Stärken.... ^^

Das timmt, man bekommt kein Gesicht der Frau zu sehen. In meiner Vorstellung war das irgendwie anders. Ich habe es, so blöd das auch klingt, vergessen zu schreiben.

Die Vorschläge sind Klasse. Gefallen mir gut!

Danke für eure Kritik!

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom