- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Klänge
1. Take the A-Train (Duke Ellington)
Der Mann pfeift ähnlich verspielt, wie der Wind an diesem Tag die Blätter verweht, ein Lied. Kalt ist es geworden, wie Klarinetten und Oboen das Geschehen zelebrieren, am Klavier, da ist ein Verrückter, und der Regen klimpert dazu. Im selben Takt.
Blätterfegeswingend sorgt er für Ordnung, jemand muss es tun, und bevor sich die Nachbarn beschweren, entdeckt er die Überreste einer Maoamverpackung auf dem Boden, nimmt sie auf und legt sie vorsichtig auf die Mauer, die sein Grundstück umgibt. Ach, gestern ist ja Halloween gewesen, schön, dass man für manche Dinge sofort eine Erklärung findet, traurig, dass man für solch etwas Banales überhaupt eine sucht. Als hätte man nichts anderes zu tun - und schon ist er gedanklich wieder beim A-Train, bei Duke Ellington, und im Takt fegt er den Rest zusammen, Autos fahren vorbei, doch er hört sie gar nicht, wieder und wieder fallen Blätter von dem großen, alten Kastanienbaum, mit dem scheinbar riesigen Stamm, und so umtanzt er diesen maulwurfsblind und wie in Trance, fängt die Blätter einzeln, in allen Farbtönen des Herbstes, braun und restgrün, rostgelb und rot und schillernd. Zu dem Trompetensolo erfasst er die Umgebung, das Leben in Zeitraffer und im Einklang des Jazz, alles Glück dieser Welt im Moment des Herbstes und als der Regen einsetzt, macht es ihm gar nichts aus. Denn es ist ja noch warm genug, und während das Lied langsam verklingt und er wieder etwas zu sich kommt, sieht er, dass einige Leute von der anderen Straßenseite herüberschauen und den Kopf schütteln. Die Maoampackung ist längst vergessen, während Jazz unvergänglich ist.
2. Canon in D (Pachelbel)
Und so wird es Winter. Nach den Blättern fällt der Schnee, bedeckt die Straße und langsam entsteht eine Geschichte über das Fegen. Wieder sorgt der Mann an seinem Grundstück für Ordnung, im Anflug einer Vorweihnachtsstimmung hört er vermehrt Klassik, es beruhigt ihn, ist tragend und irgendwie auch
(bedrohlich)
weihnachtlich. In langen, getragenen Schritten gleitet er zu Pachelbels Canon draußen über den Weg, am Gitter des Gullis hängt etwas orange Leuchtendes: Das Katzenauge eines Fahrrads. Er sieht es an, als hätte er einen Geist gesehen, an irgendetwas
(strahlend blaue Augen, verblassend)
erinnert ihn das – dass man zu Weihnachten aber auch immer melancholisch werden muss, die dunkle Zeit, die dunkle Zeit.
Und dann wird der Schneefall heftiger, er legt den Reflektor auf die Mauer und muss schmunzeln, dann geht er langsam ins Haus zurück, schaut aus dem Fenster und sieht den Flocken nach, wie sie zu Pachelbel fallen, in wirren Bahnen, immer hin und her, niemals gleichmäßig.
Zeit ist so endlos, wenn man über die vertrockneten
(toten)
Blumen in der Fensterbank hinwegsieht, raus, in den Winter, in den Dezember, in die Weihnachtszeit, in der am Tage alles Grau durch die schillernden Farben und Lichter all der geschmückten Weihnachtsbäume und Leuchtketten, all der Gesänge, der Musik und dem Geruch nach Kerzen und Lebkuchen verdrängt wird, bis der verklärte Blick auf das Vergangene von der Gegenwart abgelöst wird. Leute gehen schnellen Schrittes, gepeinigt von Whams "Last Christmas", Tüten von Karstadt und Saturn in beiden Händen, und eigentlich geht es nur noch darum, das alles möglichst schnell hinter sich zu bringen, was für ein Frohes Weihnachtsfest.
Eine Träne der Wut
(Verzweiflung)
will seine Wange herunterlaufen, doch er überlegt, dass sie zu schade ist, geht ans Regal, nimmt wahllos ein Buch heraus, "Die Pest" von Camus.
Zu einer schönen Tasse Tee setzt er sich in seinen Schaukelstuhl, isst ein bisschen von dem Weihnachtsgebäck (für Diabetiker geeignet) und denkt darüber nach, dass sich die Zeiten gar nicht so sehr geändert haben.
3. Jesus just left Chicago (ZZ Top)
Manchmal hört man Lieder die einem tagelang nicht aus dem Kopf gehen. So geht es ihm mit "Jesus just left Chicago", ein Lied, das irgendwie so gar nicht zu Weihnachten passt. An diesem Tag findet er eine Art Werkzeug auf der Straße und legt es auf die Mauer. Maoam, das Katzenauge, jetzt das – und alles liegt nebeneinander, Dinge bleiben eben liegen, wenn sie niemand will, sich niemand damit beschäftigt, so wie alte Menschen allein sind. Eine Art Blues bis zur Selbstaufgabe, Great Self – Depression, denkt er und lacht. Der Fall ist immer schneller als der Aufstieg, ein Fall für Zwei, ein Colt für alle Fälle, der Fall des Hauses Usher, ich lös' den Fall auf jeden Fall.
Und während er fast anfängt, Tränen zu lachen, weil er all das laut vor sich her gesagt hat und ein Teil der umstehenden Leute sich nicht zwischen Bestürzung, Verachtung und Mitleid
(Ignoranz)
entscheiden kann, denkt er wieder an dieses Lied, "Jesus just left Chicago", es hilft ihm den starrenden, gaffend-geifernden Blicken der lieben Nachbarn zu entgehen, na, sollen sie ihn für verrückt halten, für sonderbar.
Wen interessiert es, was sie denken, doch ist das Interesse für etwas nicht schon da, wenn man nur feststellt, dass es einen nicht interessiert?
Er wirft einen Blick zurück, die meisten sind schon gegangen, einige schütteln nur verständnislos den Kopf, seltsamerweise scheinen die Kinder aus der Nachbarschaft das alles gar nicht so sonderbar zu finden, und dann wendet er in Richtung seiner Haustür, tritt seine Füße sorgfältig auf der Fußmatte ab, „Willkommen“
(wie immer allein)
steht in dunkler Schrift darauf. Ein eigenartiges Gefühl steigt in ihm auf, Fragen.
(bist du glücklich?)
(bin ich wichtig?)
(wo bist du jetzt?)
Und in all diesen Gedanken ist es plötzlich für ihn, als hört er die Stimme eines Mädchens, und als er sich umdreht, leuchtet die Stadt wie ein Lichtermeer – und die drei Gegenstände fügen sich zusammen, na klar, nur so kann es sein. Ein Mädchen, sie sieht den alten Mann, manchmal, wenn sie mit ihrem Fahrrad vorbeifährt, wenn er fegt.
Jesus just left Chicago – and the truth is out there.
Is there anybody out there?
4. Since I lost you (Genesis)
Und nur so kann es gewesen sein. Das Mädchen fährt regelmäßig bei ihm vorbei, sieht ihn auf der Straße. Manchmal grüßt sie ihn und lächelt, er hält kurz inne, lächelt zurück, und dann fährt sie mit wehenden Haaren davon. An Halloween lässt sie erstmals eine Botschaft zurück, das Maoam, ein kleines Geschenk für ihn. Später das Katzenauge, orange leuchtend, eine Erinnerung an den Tag, als sie in der Kurve vor seinem Haus gestürzt war. Schürfwunden am Knie und an den Händen, er leistet erste Hilfe
(Pflaster mit lustigen Gruselgeistern und ein bisschen gut zureden)
und sie sieht ihn dankbar an, verschwindet aber wieder ohne viele Worte.
Und das Werkzeug, weil er ihr mal geholfen hat den Reifen zu flicken, bruchstückhaft setzt sich seine Erinnerung zusammen, und neben der Musik waren diese wenigen Momente die glücklichsten für ihn.
Und so steht sie nun hinter ihm, lächelnd, ein kleines Päckchen in der Hand, „Für dich“, wird sie sagen, und „Frohe Weihnachten“, er wird sie anlächeln, es auspacken und sich über den kleinen Stoffrosch freuen, er wird sie hereinbitten, zu Keksen, Spekulatius und Lebkuchen, er wird die alte "White Christmas" auflegen, "Frosty the Snowman" und das einzige Lied von Genesis, das wie ein Weihnachtslied klingt, "Since I lost" you, bei dem er oft an seine Frau denkt, an die Zeiten, als er nicht so allein war, und während Tränen seine Wangen herunterlaufen, löst sich das Ganze wie eine Seifenblase in Nichts auf. Nur die Stille und er ist allein.
Life fading out.
5. Rainbow in the Dark (Dio)
Dinge lassen einem keine Ruhe, diese drei seltsamen Gegenstände müssen ja einen Grund haben. Oft steht er am Fenster und wartet ab, was geschieht, diese rote Packung leuchtet genau so schön wie der Reflektor, wenn die Sonne drauf strahlt, und manchmal sogar nachts, bei Vollmond, wirkt das wie ein Funkeln in der Dunkelheit - Sternenschein und Kälte.
(allein)
Der Winter hat angezogen, es friert fast immer und es ist diese seltsame, stillstehende Zeit zwischen Weihnachten und Silvester, zwischen den Jahren nennt sich das auch. Er schläft nicht mehr, sieht nach draußen, das alles verkommt zu einer wahnhaften Idee, fast wie bei Dürrenmatts Versprechen. Wenn er solche Gedanken hat, fühlt er sich immer wie der einzige Intelligente zwischen all den Dummen auf der Welt, eine Arroganz, die er sich leisten kann, als nur sich selbst treu ergebener Mittelstandsfreelancer.
Und dann erinnert er sich plötzlich...
Gedanken holen ihn ein.
So plötzlich und unerwartet wie ein Regenbogen bei Nacht.
Um alle traurigen Gedanken zu verdrängen, singt und tanzt er durch die Wohnung. Stürzt sich auf Fotoalben und verbrennt sie im Kamin, knisterndes Feuer.
Dazu alles was ihn sonst erinnert, Sessel, Stühle, Bilderrahmen. Die Bücher, blau-schwarze Rauchwolken im ganzen Raum, Teile seiner Plattensammlung, "Dark Side of the Moon", das Album von Jethro Tull mit "Hymn 43", Queens "Bohemian Rhapsody", seine Vergangenheit lässt er nun zurück, und während überall Bescherung ist, lässt er dem Weihnachtsmann keine Chance durch seinen Kamin zu klettern und ihn zu beschenken.
Und so zerschlägt er seine Erinnerungen.
Nach einigen Stunden legt er sich völlig geschafft und verrußt schlafen. Aber das kümmert ihn nicht mehr, denn in dem Moment ist er glücklich und während des Einschlafens denkt er an sich, seine Vergangenheit, die nur noch dieses eine Mal wie ein strahlender Regenbogen in der Nacht aufleuchtet.
Die Zeit früher.
(wish you were here)
Und ein Glück, das genauso vergänglich ist, wie ein verblassender Regenbogen.
Seine Erinnerung verblasst nur kaum.
In dieser Nacht schneit es.
ENDE
Anmerkung:
Um die Stimmung des Textes zu untermalen, wäre es gut, die entsprechenden Lieder beim Lesen zu hören.
Take the A – Train, written by Billy Strayhorn, 1941
Canon in D, written by Johann Pachelbel, 1680
Jesus just left Chicago, written by Billy Gibbons/Dusty Hill/Frank Beard, 1973
Since I lost you, written by Tony Banks/Phil Collins/Mike Rutherford, 1991
Rainbow in the Dark, written by Ronnie James Dio, 1983