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Kirke
Wann immer Männer das Verlangen nach mir überkam, verwandelten sie sich in Tiere; das war ein Zauber, der mir innewohnte. So hielt ich sie mir vom Leibe, so hatte ich es stets gewollt.
Und jetzt standen da fast zwei Dutzend vor meiner Tür, in abgerissener Kleidung und abgenutztem Harnisch, bewaffnet bis an die Zähne. Sie riefen mich lautstark vom Webstuhl fort, an dem ich singend gesessen hatte, verlangten stürmisch Einlass und ich ließ sie ein, alle, bis auf einen, einen ganz jungen Burschen, der sich abseits hielt, mich misstrauisch beäugte und sich weigerte, mein Haus zu betreten. Vor die anderen stellte ich Speisen, die sie gierig verschlangen. Den Wein, den ich servierte, rissen sie mir fast aus den Händen, soffen ihn schlürfend und grölend. Noch bevor sie satt waren, begannen sie anzüglich zu grinsen, begrapschten lechzend meine Brust und wetteiferten darum, wer mir zuerst unters Gewand fassen würde. Da wunderte es mich wenig, dass sie nach einer Weile unsicher auf vier gespaltenen Hufen grunzten und Ringelschwänze aus ihren borstigen Hinterteilen wuchsen. Doch als ich meine Gäste in den Koben hinter meiner Behausung sperrte, war der argwöhnische Junge, der draußen geblieben war, nirgends zu entdecken. Hatte er alles mitangesehen und dann das Weite gesucht? Ich ging an diesem Abend beunruhigt zu Bett. Aber wenigstens allein.
Die Unruhe verließ mich auch am nächsten Tag nicht. Da halfen weder Webstuhl noch Gesang. Ich versorgte den Garten, fütterte die Tiere, von denen es nach all den Jahren meines Zaubers wegen eine Vielzahl gab – Wölfe, Löwen, Schlangen, Hirsche, Pfauen und verschiedenstes Getier mehr. Immer wieder glitt mein Blick dabei zum Waldrand, lauschte ich auf Schritte.
Aber erst am Abend kam jemand.
Nicht der Junge, nicht eine von ihm angeführte bewaffnete Schar, wie ich befürchtet hatte, nein, ein einzelner Mann trat über die Schwelle. Er war nicht groß, aber kräftig gebaut, mit breitem Oberkörper, muskulösen Armen und sehnigen Beinen. Sein braunes Haar - voll, aber schon vereinzelt silbrig durchzogen – ergoss sich in Locken auf die ausladenden Schultern. Das wird ein Löwe, dachte ich. Aber dann fiel sein scharfer, wacher Blick auf mich, musterte mich prüfend und abschätzend, und ich sah im Geiste schon einen Adler seine Schwingen ausbreiten. Ich bot ihm Wein und Speisen, sah zu, wie er nicht ohne Genuss aber bedachtsam das Gebotene zu sich nahm und mich dabei stets aus den Augenwinkeln beobachtete. Ich ertappte mich dabei, wie ich zu lächeln begann, die Brust herausreckte, mein nacktes Bein des öfteren aus dem Gewand hervorlugen ließ, ich wollte, dass er Verlangen spürte. Stattdessen wuchs meines. So versunken war ich in meinen Bemühungen, seine Aufmerksamkeit zu erregen, dass ich sein Schwert erst wahrnahm, als er es mir unter die Kehle hielt.
„Wo sind sie? Wo hast du sie hingebracht?“, fragte er mit ruhiger Stimme, voller Gewissheit, dass ich wusste, wen er meinte. So war er tatsächlich der, dem der Junge Bescheid gegeben hatte.
Ich deutete auf die rückwärtige Wand, hinter der sich der Koben befand, dabei sorgsam bemüht, nicht den Kopf zu bewegen, denn die scharfe Klinge in seiner Hand ritzte schon fast meine Haut. „Es geht ihnen gut“, sagte ich. „Ich habe sie vor wenigen Stunden gefüttert.“ Und wie zur Bestätigung ertönte von jenseits der Wand ein zufriedenes Grunzen.
Sein Blick verdunkelte sich. „Ich werde dich töten, wenn du sie nicht zurückverwandelst“, drohte er.
„Ich werde sie nicht zurückverwandeln können, wenn ich tot bin“, antwortete ich ihm, nach außen gelassen, und konnte nur hoffen, dass er mir das glaubte. Denn so sicher war ich mir nicht, dass mein Zauber meinen Tod überdauern würde.
Seine Stirn zog sich in Falten; er schien meine Worte sorgfältig zu erwägen. Dann seufzte er und schob das Schwert zurück in die Scheide. Er sah mit einem Mal sehr müde aus und ich dachte daran, dass er von der Küste heraufgekommen war, ein Tagesmarsch in spätsommerlicher Hitze. Da war es nicht mehr nur Begehren, das ich spürte, sondern es wallte Zuneigung in mir auf, eine Regung, die ich, wenn ich sie auch vage erkannte, solange in mir verborgen hatte, dass sie sich fremd und kalt anfühlte und ich mehr Angst vor ihr bekam als vor dem Schwert in seinem Gurt.
Aber unterdrücken ließ sich das Gefühl nicht mehr, also zwang ich mich zu meinem verführerischsten Lächeln, streckte die Hand nach dem Mann aus, der mir wider Willen so gut gefiel, und sagte schmeichelnd: „Hast du nichts anderes, um damit zuzustoßen? Wir können in mein schöngeschmücktes Schlafgemach gehen, da kannst du ein wenig Ruhe finden und viel Vergnügen.“ Ich versuchte, seinen Arm zu fassen, aber er wich vor mir zurück. Und doch sagte mir sein Gesichtsausdruck, in dem plötzlich eine wilde Sehnsucht stand, dass ich auf dem richtigen Weg war. Schon gewann ich meinen Glauben an meinen Zauber zurück. Ich öffnete die Tür zum Gemach, legte den Kopf einladend schräg und ging langsam, mit schwingenden Hüften voraus. Drinnen löste ich die Spangen, die mein Kleid an den Schultern festhielten, und ließ den weichen Stoff zu meinen Füßen fallen.
Er war mir gefolgt und atmete nun schwer, nestelte seinerseits an seinem Gürtel, ließ ihn mitsamt dem Schwert darin auf den Boden fallen, und streifte seinen Harnisch und die Kleidung darunter ab. Nun konnte er die Wirkung, die mein nackter Körper auf ihn hatte, nicht mehr verbergen, aber ein Mensch blieb er trotzdem. Und in diesem Augenblick, beim Anblick seiner Männlichkeit, hätte ich auch nichts anderes ertragen. Er fasste mich mit einer Hand behutsam um die Taille und schob mich vor sich auf die Bettstatt.
Und unter seinen Händen war ich es, die sich zu verwandeln begann. Wo er mich küsste, sprossen flaumige Federn, wo er sanft über mich strich, wallte weiches Fell, meine Haut überzog sich unter seiner Berührung mit silbrig schimmerndem Schuppenkleid. Meine Finger wurden zu Krallen, meine Füße zu Pfoten, mein Mund zum sanftlippigen Maul, der Sprache nicht mehr mächtig. Ich gurrte, bellte, blökte, flötete, pfiff. Hechelnd sog ich den würzigen Duft seines Schweißes ein, leckte sein Gesicht. Ich verlor mich in den tiefsten Tümpeln und durchschwebte die luftigsten Höhen. Er selbst gab keinen Laut von sich, nur stoßweisen Atem, dessen Takt ich übernahm. Erst als es sich warm in mir ergoss, seufzte er kurz, ein Schauder durchlief seinen Körper, er wälzte sich zur Seite, tastete mit der rechten Hand nach seinem Gürtel, und mit den Fingern das Heft des Schwertes leicht berührend, schlief er ein.
Ich blieb wach. Draußen vor dem Fenster schrie ein Pfau, in der Ferne röhrten die Hirsche. Ich wusste, dass nun mein Zauber gebrochen war, dass ich sie, wenn nicht alle, dann zumindest die Schweine, zurückverwandeln müsste. Denn würde ich mich weigern, das war mir klar, würde er nie wieder meinen Mund mit dem seinen bedecken, meine Brüste in seine Hände nehmen, würde mein unstillbares Verlangen nie wieder stillen. Und das durfte nicht sein.
So lag ich, längst wieder Mensch geworden, stumm neben ihm bis zum Morgen, lauschte seinen Atemzügen und bewachte seinen Schlaf.
Als er erwachte, galt sein erster Blick seinem Schwert. Erst dann sah er mich an. Aber wie ich mit innerer Befriedigung bemerkte, blieb der Anblick meines unverhüllten Körpers nicht ohne Wirkung auf ihn.
„Möchtest du Frühstück?“, fragte ich mit feinem Lächeln, „oder lieber ...“, und ich warf einen schelmischen Blick auf das verräterische Körperteil.
Er sah an sich hinunter, brummte unwirsch und erhob sich vom Bett. Während er sich die Kleidung überwarf, ließ er mich nicht aus den Augen. Als er sich gegürtet hatte, zog er das Schwert und kitzelte mir mit der Spitze das Kinn. „Weder noch“, sagte er kalt. „Du weißt sehr gut, was ich will.“
Natürlich wusste ich es, aber noch fehlte mir jede Idee, wie ich die Rücknahme des Zaubers bewerkstelligen sollte. Ich hatte ihn nie bewusst ausgeübt, es war immer einfach passiert. „Darf ich mich vorher anziehen?“, fragte ich nach außen hin kühl.
Er trat einen Schritt zurück und ließ mich vom Bett aufstehen.
Ich wandte mich meiner Truhe zu, aber sofort blitzte wieder Bronze vor meinem Gesicht.
„Zieh doch besser das von gestern an!“, schlug mein Bezwinger vor.
Seufzend hob ich das Gewand auf, das ich am Abend zuvor achtlos hatte auf den Boden gleiten lassen. Und während ich die Schulterspangen befestigte, fragte ich: „Wie ist eigentlich dein Name?“
Er fasste mich an die Schulter, schob mich sanft vor sich her durch die Tür in den Hauptraum und sagte dabei mit freundlicher Stimme, aber eisigem Unterton: „Ich bin Odysseus, Sohn des Laertes, König von Ithaka, und wenn du jetzt nicht sofort meine Männer zurückverwandelst, stoße ich dir mein Schwert in den Rücken.“
Und wirklich spürte ich die kalte Spitze zwischen meinen Schulterblättern.
Wir traten auf den von der Morgensonne durchfluteten Hof, und hatte ich bis dahin noch Bedenken gehabt, ob mein Zauber überhaupt aufgehoben werden konnte, so räumte das erste Tier, das meinen Blick kreuzte, diese Zweifel aus. Denn statt des Pfaus, der soeben noch eitel seine Schwanzfedern gereckt hatte, stand plötzlich ein sehr verwirrter Mann vor mir, der erst staunend seine Hände betrachtete, dann vorsichtig seinen Körper betastete und schließlich mit einem freudigen Satz in Richtung Waldrand rannte. Ähnliches widerfuhr einem Schafsbock, zwei Wölfen und einer Natter.
Ich wandte mich nicht ohne Stolz zu Odysseus um, der schmunzelte, aber sein Schwert nicht senkte.
„Zum Koben“, drängte er.
Ich gehorchte und öffnete die Tür, hinter der es bereits aus einundzwanzig Schnauzen hungrig grunzte. Und bald erhob sich dort ein Mann nach dem anderen aus seiner kriechenden Stellung. Die Zurückverwandelten reckten die Arme, rieben sich die Beine, fuhren sich mit den Händen über das Gesicht und brachen, als sie Odysseus gewahr wurden, in schallenden Jubel aus.
Dieser schob sein Schwert in die Scheide und umarmte seine Männer so herzlich, klopfte ihnen so begeistert auf die Schultern und lachte jeden von ihnen so erleichtert an, dass es mir Tränen der Rührung in die Augen trieb. Auch ein Teil der Männer weinte vor Freude.
Ich drehte mich zum Ausgang, aber Odysseus hielt mich am Arm fest.
Er musterte seine Männer ernst und aufmerksam, dann grinste er und sagte: „Sie sehen ja besser aus als vorher.“
Die Männer protestierten zunächst, schauten sich gegenseitig nachdenklich an und stürzten auf den Hof, um sich im Wasser der Tränke zu betrachten. „Es stimmt“, schrie einer. Und ein anderer: „Meine Narben sind weg.“ Und ein dritter: „Du hinkst ja gar nicht mehr, Perimedes.“ Der so Genannte hüpfte zum Beweis auf dem ehemals kranken Bein wie närrisch umher.
Odysseus sah ihnen zu, mit glänzenden Augen und einem so jungenhaften, befreiten Lachen auf den Lippen, dass ich mir nicht helfen konnte und ihn küssen musste. Er stutzte, lächelte, nahm mich fest in die Arme und erwiderte unter dem Johlen der Männer den Kuss. Dann zog er den Kopf zurück und flüsterte mir ins Ohr: „Jetzt wäre ein Frühstück recht.“ Dabei grinste er so schalkhaft, dass ich lachend zustimmte und alle ins Haus lud.
Wie gesittet sie sich nun benahmen, meine Gäste! Hatte ich ihnen eine so nachhaltige Lehre erteilt oder war es Odysseus' besitzergreifendes Gebaren mir gegenüber, das sie im Zaum hielt? Es scherte mich nicht. Ich tischte auf, schenkte ein, und die einzige Hand, die sich mich zu berühren traute, war die raue, doch sanfte des ithakischen Königs. Und während seine Gefährten aßen und tranken und mich dabei kaum anzusehen wagten, erzählte ihr Anführer mir die Geschichte ihrer Irrfahrten. Er erzählte nicht alles, das merkte ich wohl, und an einigen Stellen mochte er die Wahrheit etwas zu seinen Gunsten drehen, denn hin und wieder hob einer der Speisenden den Kopf und warf ihm einen erstaunten Blick zu. Auch zog wohl manchmal ein Zuhörer scharf den Atem ein oder verzog schmerzlich das Gesicht, wenn von Tod und Unheil die Rede war. Dann beeilte Odysseus sich mit dem Fortlauf der Geschichte. Alles in allem begriff ich, dass es eine schwere, verlustreiche Reise gewesen sein musste, die diese Männer da hinter sich gebracht hatten.
Da musste ich nicht lange überlegen, wie ich den, für den mein Herz schlug, in meiner Nähe halten konnte. „Der Sommer neigt sich“, sagte ich. „Ihr habt bereits einiges durchgemacht, wollt ihr da wirklich, erschöpft und ausgezehrt wie ihr seid, den Herbststürmen trotzen, die in Kürze diesen Teil des Meeres verheeren werden?“
Die Männer wurden unruhig, wisperten miteinander.
Odysseus sah mich nachdenklich an. „Du willst, dass wir bleiben?“, fragte er. Er schaute sich in der großen Halle um, lächelte unwillkürlich, als sein Blick dabei auf die Tür meines Schlafgemachs fiel, schaute aber gleich wieder ernst, als er die Gesichter seiner Männer betrachtete, die erwartungs-, ja hoffnungsvoll zu ihm aufschauten. „Es warten noch zwanzig von uns beim Schiff“, setzte er hinzu. „Das könnte eng werden.“ Und dann zu seinen Gefährten gewandt: „Ihr seid diejenigen, die die Nacht im Schweinekoben verbringen mussten. Was sagt ihr?“
Der, den sie Perimedes genannt hatten, erhob sich und antwortete unter dem Nicken der anderen: „Wir sind dir gefolgt und wir werden dir folgen, wohin immer du uns hinführst, aber die Fahrt war lang und voller Gefahren. Wenn du dies für einen sicheren Ort hältst, dann wollen wir gerne hier mit dir ausruhen. Und was den Schweinekoben betrifft“, fuhr er fort und grinste verlegen, „da werden wir uns wohl einfach besser betragen müssen.“
So wurde beschlossen, dass die Männer beginnen sollten, Unterkünfte zu bauen und Odysseus noch einmal den Gang hinunter zur Küste antreten würde, um den Rest der Mannschaft zunächst das Schiff sichern zu lassen und dann mit ihm zurückzukehren.
Als er drei Tage später wieder erschien, marschierten zwanzig Männer hinter ihm, aber sein Gesicht war hart und ohne Lächeln. Er warf nur ein kurzes Nicken zu mir hinüber, sah der Begrüßung zwischen den ehemals Gefangenen und den Neuankömmlingen ohne Regung zu, dann wandte er sich brüsk ab und inspizierte schweigend die begonnenen Bauten. Meinem fragenden Blick wich er aus.
Natürlich wollte ich wissen, was vorgefallen war, was den Stimmungswechsel verursacht hatte. Unter den Hinzugekommenden fand ich nur ein vertrautes Gesicht, den Jungen, der vor mir geflohen war und von dem ich in der Zwischenzeit erfahren hatte, dass er Eurylochos hieß. Als ich zu ihm trat, erbleichte er, wich einige Schritte zurück und sah sich dann nach allen Seiten um. Erst als er sich vergewissert zu haben schien, dass niemand uns beobachtete, spuckte er verächtlich vor mir aus. Dann rannte er davon.
Ich starrte ihm nach. Zum ersten Mal, seit der Zauber in mir wachgeworden war, wünschte ich ihn willentlich herbei, hätte alles gegeben, diesen unverschämten Burschen in ein Tier meiner Wahl verwandeln zu können. Vergeblich.
„Er mag dich nicht“, hörte ich eine Stimme hinter mir sagen.
Ich wandte mich um. Ein junger Mann, die Wangen gerade erst mit zaghaftem Bartflaum bedeckt, lugte hinter der Wand des Kobens hervor und betrachtete mich bekümmert.
„Ich mag ihn auch nicht“, bekannte ich freimütig. „Ist er der Grund, warum der König so schlechtgelaunt von der Küste zurückgekehrt ist?“
„Eurylochos war dagegen, hier heraufzukommen.“
Das hatte ich bereits geahnt. Ich lächelte dem Jungen ermutigend zu. „Mehr nicht? Das war alles?“
„Er meinte, der König würde uns ins Verderben führen. Wie die Kameraden, die ihm zu Polyphem gefolgt sind. Und dass es doch seltsam sei, dass es immer Odysseus ist, der als einziger unbeschadet zurückkommt.“
Polyphem. Ich erinnerte mich an die Erzählung beim Frühstück. Etwas mit Ziegen und einer Blendung. Ein Streich mit falschen Namen. Und eine Stelle, über die Odysseus hastig hinweggegangen war. Nun wusste ich, weshalb.
Mein Gegenüber sprach weiter: „Das hätte er nicht sagen dürfen. Der König zog auch gleich das Schwert und hätte ihn niedergestochen. Zwei von uns konnten sich dazwischenwerfen.“ Er schüttelte den Kopf und wiederholte leise: „Das hätte er nicht sagen dürfen.“ Dann sah er mich erschrocken an, als würde ihm gewahr, zu viel erzählt zu haben. Er wandte sich zum Gehen.
„Warte!“, rief ich ihm nach. „Wie heißt du?“
„Elpenor. Mein Name ist Elpenor.“
So blieben sie, die Männer in den selbstgezimmerten Hütten, der König im Haupthaus, wo er das Lager mit mir teilte Nacht für Nacht. Meine Speisekammer war gut gefüllt, der Wein floss reichlich, Lieder schallten aus den Baracken, die Männer begegneten mir mit einem Lächeln. Und als der Herbststurm durch die Wälder tobte, da war dem einen oder anderen wohl bewusst, dass sie auf See hätten sein müssen ohne die Unterschlupf, die ich ihnen gewährte, und es traf mich manch dankbarer Blick. Selbst Eurylochos schien sich mit mir abgefunden zu haben und Elpenor verfolgte mich zu Odysseus‛ großer Belustigung gar mit hündischer Hingabe. Aber all das war für mich nichts im Vergleich zur Nähe meines Liebsten, der Berührung seiner Hände, dem Duft seiner Haut, der verzehrenden Leidenschaft, mit der er mich liebkoste. Und während der Winter die Insel im Bann hielt, lag ich in seinen Armen engumschlungen und warm.
Kaum jedoch war der Frühling gekommen, änderte sich das. Die Vorräte wurden spärlicher und die Enge der Behausung ließ die Männer gereizt werden. Manches Mal konnte ich es „Hexe“ zischen hören, wenn ich über den Hof ging, wo sie standen und mich feindselig betrachteten. Odysseus versuchte zu vermitteln, aber seine Worte fielen auf taube Ohren. Als dann noch von denen, die ausgesandt worden waren, das Schiff zu begutachten, die Kunde zurückkam, es sei schwer beschädigt worden im Anprall der Stürme, da verließen seine Gefährten ihre Unterkünfte und schlugen ihr Lager wieder am Strand auf. Bald zog auch er immer öfter hinunter zu ihnen zur Küste und übernachtete dort. Seine Besuche bei mir wurden seltener.
Oft vergingen Tage um Tage, ohne dass er sich blicken ließ, und ich saß stumm am Webstuhl, die Hände untätig im Schoß, und starrte versonnen aus dem Fenster. Wenn er dann doch einmal vorbeischaute und ich ihn fragte, was er denn all die Zeit getrieben hätte, dann erzählte er mir von notwendiger Jagd und den Reparaturen am Schiff, von seinen Gefährten, die nach dem langen Winter des Trainings bedurften, von Streitigkeiten unter ihnen, die er schlichten musste. Oder er sagte gar nichts, sondern nahm nur stumm meine Hände, führte mich ins Schlafgemach und raubte mir den Verstand mit seiner Zärtlichkeit. Doch seine Küsse waren nicht mehr voll hungriger Gier, seine Blicke nicht mehr voll hilflosen Verlangens und bettelnder Sehnsucht. In seinen Augen lag das Meer, sein Haar roch nach Seewind und seine Lippen schmeckten nach Salz.
In diesen Wochen streifte ich oft durch die Wälder, die Küste suchend und doch meidend, und traf hin und wieder auf einen meiner früheren Gäste in Löwen-, Wolfs- oder Hirschgestalt. Dann stand, wenn mein Blick auf ihn fiel, plötzlich ein Mann vor mir, staunend, weil so unversehens zurückverwandelt, aber mit demselben Verlangen, das ihn verzaubert hatte, und ich, jedesmal ein wenig schuldbewusst, weil ich im vergangenen Jahr nicht eifriger bei der Aufhebung meiner Magie gewesen war, schenkte mich ihm am Wegesrand, aber mein Herz war nicht bei der Sache.
Wenn sich mein jeweiliger Gespiele dann mit leisem Schrei oder wohligem Seufzer in mich ergossen hatte, schickte ich ihn mit den Worten ans Meer: „Sag des Laertes' Sohn, wie wenig ich ihn vermisse.“ – in der Hoffnung, den eifersüchtig zu machen, den ich als einzigen liebte.
Aber entweder trauten sich meine Boten nicht, es Odysseus zu erzählen, oder er schenkte ihnen keinen Glauben, denn wenn er das nächste Mal seine Aufwartung machte, war er nicht erhitzter vom Weg, sein Griff nicht fester, seine Stöße waren nicht heftiger und seine Küsse nicht besitzergreifender. Er genoss mich mit dem zufriedenem Gleichmut, mit dem man nach einem üppigen Mahl bereits gesättigt zum Abschluss die süßen Früchte genießt.
Und ich ließ ihn.
„Ich werde ein Fest veranstalten“, sagte ich eines Nachts zu ihm, als wir nach einer Stunde innigsten Vergnügens in behaglicher Erschöpfung nebeneinanderlagen.
Er hatte seine Beine um die meinen geschlungen und hielt meine Taille umfasst. Sanft hatte er an meinem Hals geknabbert und meine Ohrläppchen geleckt, hielt nun aber inne. Er stützte sich auf den Ellbogen und sah mich prüfend an. „Ein Fest?“, fragte er. „Aus welchem Anlass?“
„Es ist nun genau ein Jahr her, dass die Hälfte deiner Männer Ringelschwänze trug“, scherzte ich. „Schweinsbraten wäre wohl unpassend, aber andere Speisen und vor allem Wein wird es in Fülle geben.“
„Klingt gut“, murmelte er träge, vergrub sein Gesicht unter meinen Arm und saugte verspielt am Haar in meiner Achselhöhle. Seine Hände glitten über meine Hüften, fassten die Innenseite meiner Schenkel und zogen sie sanft auseinander. Er schob sich dazwischen und hob den Kopf. „Ich sage den Männern Bescheid, sie werden sich freuen.“
„Wirklich?“, fragte ich. „Ich hatte den Eindruck, sie gehen mir aus dem Weg. Kaum einer verirrt sich noch hierher, und wenn, dann nur, um dich zurück zur Küste zu locken. Was tun sie da unten die ganze Zeit? Und was haben sie ständig mit dir zu bereden?“
Statt zu antworten, nahm er mich zum zweiten Mal in dieser Nacht.
Und so feierten wir den Jahrestag ihrer Ankunft auf der Insel. Es waren nicht alle gekommen – „Die anderen bewachen das Schiff“, hatte mir Odysseus auf meinen fragenden Blick hin zugeflüstert – und die, die gekommen waren, aßen, als wäre es das letzte Mal, rührten aber den Wein kaum an. Und wenn sie nicht schweigend schlangen oder in ihre halbvollen Becher stierten, dann schauten sie erwartungsvoll auf meinen Geliebten, der neben mir saß, mein Knie umfassend, als suchte er Halt. Es war, als warteten alle auf eine Rede von ihm, aber mein sonst so beredter, silberzüngiger Freund blieb stumm.
Enttäuscht und des Schweigens müde, erhob ich mich und gab Odysseus ein Zeichen, die Männer zum Schlafengehen aufzufordern. Dann verschwand ich in mein eigenes Gemach. Nun war von draußen doch noch eine Weile Stimmengemurmel zu hören, es wurde heftiger, brandete sogar kurz fast zum Tumult auf, dann wurde es wieder still.
Als Odysseus den Raum betrat, seine Kleidung ablegte und der Schein des Talglichts auf sein Gesicht fiel, sah ich Tränen in seinen Augen glänzen. Erschrocken zog ich ihn auf das Bett.
„Was gibt es?“, fragte ich.
Er legte seine Hände auf meine Brüste und sah mir nicht in die Augen. Stattdessen beugte er sich über mich und begann meinen Busen mit hungrigen Küssen zu bedecken. Seine Hände gruben sich gierig in meine Taille.
Ich spürte, wie ich feucht wurde, aber ich wollte keine Ablenkung, ich wollte eine Antwort. Ich nahm sein Gesicht in beide Hände und fühlte Nässe auf seinen Wangen. „Was gibt es?“, fragte ich noch einmal mit banger Stimme.
Er legte sich auf mich, nahm mich fest in die Arme und schob sein Kinn auf meine Schulter. Dann sagte er leise: „Sie wollen nach Hause. Sofort. Es ist alles vorbereitet.“
Ich schlang meine Arme um ihn. „Dann lass sie“, flüsterte ich wild.
Er schüttelte den Kopf. „Sie haben für mich die Heimat verlassen, sie sind mir überall hin gefolgt, ich kann sie jetzt nicht einfach fortschicken. Ich bin ihr Heerführer, ihr König; sie sind meine – Freunde.“
„Du willst auch nach Hause“, beschuldigte ich ihn.
Er drehte sein Gesicht mir zu und sah mich traurig an. „Wäre ich besser als ein Tier, wenn nicht?“, fragte er ernst. „Und selbst Tiere zieht es nach Hause.“ Sanft strich er mit den Fingerspitzen die Seiten meines Körpers entlang, sodass es mich wider Willen wohlig durchschauerte. „Du wolltest, dass wir uns hier ausruhen, neue Kräfte, frischen Mut für die Heimfahrt sammeln“, erinnerte er mich. „Es war nie die Rede davon, dass wir hierbleiben. Dass ich hierbleibe.“
Ich küsste seine Wangen und schmeckte wieder Salz.
Er begann sich langsam und drängend auf und ab zu bewegen, rieb fordernd an meiner warmen, weichen Lust, ich konnte nicht anders, ich musste mich ihm öffnen. Da war es endlich wieder, das ungezähmte Begehren unserer ersten Nächte. Und doch, bei all der Hitze, die ich mit seinen heftigen Stößen in mir aufnahm, blieb ein kleiner eisiger Kern in mir, der nicht schmelzen wollte. Er schluchzte, als der Höhepunkt ihn zitternd in mir verharren ließ. Und als die Ekstase mich überrollte und ich schrie, da war es kein triumphierendes Jubilieren wie in den Nächten zuvor, es war ein Schrei der Verzweiflung. Und wie ein Echo hallte hoch über uns ein weiterer Schrei durch die Nacht.
Es weckten mich lautes Rufen, Hammerschläge und das Geräusch zersplitternder Planken. Schlaftrunken drehte ich mich auf dem Lager und fand den Platz neben mir leer. Draußen dämmerte es, die Morgenröte grinste hämisch durch das Fenster.
Odysseus stand breitbeinig am Rande des Gartens und kommandierte den Abriss der Baracken. Er will den Leuten seine Entschlossenheit beweisen, dachte ich. Und mir die Endgültigkeit des Abschieds.
„Wir hinterlassen dir eine Menge Brennholz“, sagte er, als ich neben ihn trat.
Ich schwieg.
Blieb stumm, als sie sich ohne weiteren Appell formierten, sagte keine Wort, als sie ihren Abschied murmelten und sich bedankten, und bedachte den, den ich liebte, mit keinem Blick. Der seufzte und ließ die Arme sinken, die er zur Umarmung schon erhoben hatte.
Ich wartete, bis sie den Waldrand fast erreicht hatten, dann schrie ich ihnen hinterher: „Fahrt doch zur Unterwelt, alle miteinander!“ Niemand wandte sich um.
Einen Tag später fand ich Elpenors Leiche. Er musste nach der Feier aufs Dach gestiegen sein, aus Kummer, aus Trunkenheit, oder um der drückenden Schwüle in den Baracken zu entgehen, und war dann wohl im Schlaf herabgestürzt. Nun lag er mit weit aufgerissenen Augen und gebrochenen Genick in den Büschen hinter der Wand meines Schlafgemachs. Erst dann, als ich den steifen, kalten Körper des jungen Mannes in den Armen wiegte, wich meine Erstarrung und ich überließ mich den bitteren Tränen. Fortgesetzt schluchzend zog ich den Leichnam in sicheren Abstand vom Haus, legte ihm eine Münze in den Mund, bekränzte ihn mit Blumen, schichtete Bretter und Latten um ihn – fürwahr, sie hatten mir genügend Brennholz hinterlassen – und entzündete den Feuerstoß. Ich ließ die Flammen lodern, bis sie aus Mangel an Nahrung erloschen.
Als ich Tage später die Asche bestattete, begrub ich mit ihr auch die Hoffnung, Feuerschein und Rauchsäule hätten den zur Umkehr bewegen können, der mich verlassen hatte.
Niemand kam wieder.
Keiner kehrte zurück.