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Kindheit
Sascha ging langsam den Flur entlang. Er kam zum Wohnzimmer und sah seinen geliebten, alten Schaukelstuhl am Fenster stehen. Als er ihn erreichte setzte er sich gemächlich in die weichen Polster, in denen er nun schon so oft gesessen hatte. Er schaute aus dem Fenster und dachte nach. Das Leben war so kurz. Gerade erst war er noch ein Kind und jetzt saß er im Schaukelstuhl als alter, gebrechlicher Mann. Ja, er war alt, viel zu alt. Nur langsam hatte er die Veränderungen bemerkt. Sascha bekam Falten im Gesicht und überhaupt fiel ihm nicht alles so leicht. Wie gerne dachte er an die Kindheit zurück. Die Schule hatte ihm nicht sonderlich Spaß gemacht, und er war auch nicht gerade einer der besten Schüler gewesen, doch als die Schule plötzlich vorbei war und Sascha auf eigenen Beinen stehen mußte, da hätte er am liebsten noch mal ganz von vorne angefangen. Doch dann sollten seine schönsten Jahre kommen. Er wurde selbständig, bekam seine erste Arbeit und eine Frau, die er sehr liebte. Natürlich gab es in dieser Zeit auch häufig Probleme, doch ohne die wäre das Leben nicht so interessant geworden, hatte Sascha sich immer gesagt.
Auch wenn er das eine oder andere Mal aufgeben wollte und nicht weiter wußte, so hatte er sich doch immer wieder aufgerappelt und nach vorn geschaut. Dann hatte er seine ersten Kinder großgezogen und wieder eine neue Erfahrung gesammelt. Und als sie zur Schule gingen, da war es ihm fast so vorgekommen, als sähe er sich selbst. Wie er das erste Mal mit der Schultüte in der Hand dem Schulgebäude entgegen blickte. Doch dann war es passiert!! Eines seiner Kinder war im Alter von 15 Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Jahrelang hatte er damit zu tun gehabt, über diesen Schock wieder hinwegzukommen. Es schien ihm immer, als sei ein Teil seines Lebens verloren gegangen, doch dann schenkte ihm bald eines seiner anderen Kinder einen Enkel. Von diesem Moment an spürte Sascha, daß er älter geworden war. Die Zeit war nie stehengeblieben, und er hatte nicht bemerkt, wie schnell sie verging. Seine Enkel nannten ihn stets Opa Sascha. Das hatte ihm zuerst nicht gefallen, weil er nicht glauben wollte, daß er wirklich schon so alt war, doch dann hatte er sich allmählich daran gewöhnt. Er hatte so viel erlebt. Sascha hatte sich sein Leben Schritt für Schritt aufgebaut. Und nun saß er in einem Schaukelstuhl und dachte an die vergangene Zeit. Seine schönsten Zeiten waren vorbei, das war ihm klar, doch in seinem Innern erlebte er diese wunderbaren Jahre wieder und wieder. Tief in seinem Herzen war er ein Kind, das gerade anfing, die Welt mit seinen eigenen Augen zu sehen. Fotos hatte er keine. Sascha hatte Bilder noch nie gemocht. Er brauchte sie nicht. Seine Erinnerung war das einzige, was ihm wichtig war. Sascha wußte nicht warum er gerade heute so intensiv über seine Kindheit nachdachte, aber irgendwie hatte er so eine Vorahnung. Er wußte heute würde er sterben, doch er war nicht traurig, denn er war sich dessen gewiß, das Kind in ihm würde weiterleben. Noch einmal dachte er an seine Frau, seine Kinder und seine Enkel. Dann spürte er, wie die Kraft ihn verließ. „ Lebe Wohl, mein geliebter Schaukelstuhl „ ,waren Saschas letzte Worte. Er schloß die Augen und verschwand im Nebel der Erinnerung.