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Kinderschlaf
Mein Vater ist 1,82 Meter groß. Er hat braune, kurze Haare. Sie sind weicher als nötig und unnötigerweise habe ich sie geerbt. In seinem Gesicht hängt ein verschmitztes Lächeln. Seine Gestalt ist, je nach körperlicher Betätigung, mal muskulöser, mal hagerer, dick war mein Vater nie. Seine Hände sind schwer und ungelenkig, ein Resultat aus vielen Jahren Bauarbeit. Wenn er versucht sie zu Fäusten zu ballen, glaubt man, sie könnten platzen, jeden Moment. Das Metall um seinen Ringfinger bildet eine Aura an der Stelle, an der das Fleisch dem Material zu entweichen versucht, eine Farbe von liegengelassener Mayonnaise. Sein Gang ist langsam, nichts Trolliges, wohl schlichte Gelassenheit. Ein dreckiger Humor, den er anschleppt, unzumutbar, selbstironisch, gnadenlos. Auch das habe ich von ihm geerbt. Für den Preis, dass niemand je über meine Witze lacht. Ich amüsiere mich köstlich, bin meine eigene Unterhaltung, ein gutes Geschenk für die Wiege. Mein Vater als einziger König, aber unheilig.
Das ist mein Vater.
Ich habe ihn verlassen.
Im Laufe der Ehe mit meiner Mutter begann er zu trinken, wurde Trinker und blieb dabei. Manchmal konnte sich seine nächtliche Heimkehr, der bloße Gang durch die Tür, über Minuten hinziehen. In einem Kinderleben sind Bruchteile der Zeit Bruchteile einer Ewigkeit. Sobald der Schlüssel das Schloss berührte, kauerte ich in der Horizontalen, zerquetschte meine Füße, bis das Blut streikte. Manchmal traf er das Loch nicht, oft nicht, lange nicht, und so kratzte Stahl an Stahl für eine Ewigkeit, eine Kinderewigkeit, meine Füße ganz taub. Noch heute werde ich aus dem Tiefschlaf gerissen, sobald jemand meine Türklinke berührt. Und wenn jemand unpräzise beim Aufschließen einer Tür ist, habe ich das Bedürfnis, den runden Knochen seines Schädels zu fragmentieren.
Eines Tages war ich es, die den Schlüssel ins Schloss steckte. Meine Mutter lag auf dem Tisch, aus ihrem Mund bildeten sich Blutblasen und platzten. Ich kannte diesen Mechanismus von dem Plastikring, durch welchen ich sonst Seife pustete. Ihre Augen starrten reglos zur Decke. Ich schrie hysterisch um Hilfe. Mir hätte wenigstens jemand sagen können, ob ich wegen einer Toten schrie. So viel Gerechtigkeit stand mir zu, dachte ich.
„Hol mir ein Bier“, sagte er eines Tages. Ich war sechs. „Hol dir dein scheiß Bier doch selbst.“
Ich gehorchte ihm, aber versklaven lassen wollte ich mich nicht. Kinder wissen instinktiv um Abstraktes der menschlichen Natur. Den Hunger konnte ich beim Namen nennen, aber nie ein Gefühl. Für später sollte ich aus den Texten meiner Philosophieliteratur lernen, dass man solche Dinge „Wille“ nennt, oder „Stolz“.
Er erhob sich über mich, deutete eine Ohrfeige an und zischte, seine Gestalt für mich ein Koloss. Ich flitzte. Und brachte ihm ein Bier.
Ich konstruiere den Koloss heute auf dunklem Hintergrund und sehe meinen Vater als Schattengestalt. Nicht seiner selbst, dafür reicht sie nicht. Ein Schatten.
So hab ich ihn verlassen, meinen Vater. Nach zehn Jahren kehre ich zu ihm zurück. Er fragt mich, was ich gemacht habe in den letzten zehn Jahren. Darauf kann ich nicht antworten. Ich weiß es nicht mehr. Auch weiß ich von gestern nichts mehr. Aus Bruchstücken einer Ewigkeit werden Bruchstücke. Heute habe ich die Worte, aber kein Gefühl parat.
Drei kleine Kinder wirbeln um ihn herum, ihr Lärm vernebelt mich. Ich muss die Stirn runzeln, um bei der Sache zu bleiben, muss mich konzentrieren, um etwas zu sehen. Ein kleiner Junge von fünf Jahren fragt mich, wie denn sein Vater mein Vater sein kann. Er gibt sich große Mühe, zu verstehen. Mit einem Vater, seinem Vater, kann doch nur eine Frau Kinder bekommen. Er ist fest von seiner Theorie überzeugt. Seine Mutter ist nicht meine Mutter, das weiß er. Wie bin ich dann zu Stande gekommen?
Das zweite Kind, ein Mädchen, ist sechs. Sie hat bereits längere Haare, als ich sie bislang je wachsen lassen konnte. Dunkle Locken, wie Gummifedern auf Zement bei jedem ihrer Hüpfer. Sie liebt Fleisch, am liebsten direkt vom Knochen. An ihre Ausraster gewöhnt man sich schnell. In heimlicher Stille bin ich mit mir selbst einig: Ich würde sie gerne ohrfeigen.
Das andere Mädchen ist zehn. Ein zarte Gestalt, zerbrechlich, isst nie und hustet immer. Niemand weiß warum, ihre Lungen sind tadellos. Oft lügt sie, ohne ersichtlichen Grund. Man sieht ihr dabei keinen Spaß an, warum tut sie es? Auch ich log. Doch mit diabolischer Freude an den entsetzten Gesichtern. Konnte mich erquicken an kreisförmigen Augen. Den Humor hat niemand geerbt, er gehört nur mir.
Mein Vater lässt das Potpourri zu, seine Gelassenheit unverändert. Anders seine Augen. Sie sind nicht mehr glasig, nicht mehr rot. Die Wandlung eines körperlosen Schattens zum Schatten eines Körpers, hin zum Körper selbst. Zurückdefiniert.
Ich muss mich setzen. Eine Familie habe ich nie vermisst. Nie habe ich das Mitleid der Menschen verstanden, gehasst habe ich es. Bemitleidet, wegen Absenz einer Schutzhülle, die nie vorhanden war. Für mein Empfinden fehlte es mir an nichts. Nun war ich hier und spürte das Gefühl ganz deutlich. Das analoge Vokabular: Schmerz. Ich konnte die Dinge beim Namen nennen, war fähig dazu, doch Wille verließ mich, Stolz verließ mich. Man kann nie alles gleichzeitig haben. Diese Kinder hatten alles, ich hatte nichts. Im kosmologischen Urprinzip verklären sich solche Verhältnisse als „ausgleichende Gerechtigkeit“, übertragen wir sie auf unsere Anthropologie. Auch das habe ich aus meinen Philosophiebüchern gelernt.
Ich bündle mich, entscheide mich für Parade. Ich werde zum Tambourmajor deklariert. Mir ist nicht danach, aber ich gebe jedem ein Stück von mir. Lasse mich versklaven, es spielt keine Rolle. Später schauen wir einen Film, mein Vater und ich. Er legt seinen Kopf auf meinen Bauch. Spät gehen wir schlafen, er weicht mir nicht von der Seite. Ich darf es nicht wagen, meine Hand von seiner loszureißen, davon wacht er auf. Ich billige ihm den Schlaf. Schenke ihn ihm, seit ich das Interesse daran vor zehn Jahren verlor. Neben mir, auf der anderen Seite, der kleine Junge. Ich habe zwei Kinder an den Händen, darf mich nicht wälzen, um keinem davon wehzutun.
In der Nacht darauf reden wir, mein Vater und ich. Ich erzähle ihm von meinen Männergeschichten, von Liebeskummer, verkackten Schuljahren. Von Hilflosigkeit und Betäubung. Erzähle ihm von einem Nichts, das verführerisch meinen Namen ruft. Schlimmeres davon verschweige ich ihm.
„Mein Mädchen“, er versucht stark zu sein. „Ich hatte ja keine Ahnung.“
Ich habe ihn verlassen, meinen Vater. Ein zweites Mal. Das erste Mal aus Stärke. Geblieben ist davon nichts. Jetzt gehe ich, weil Stärke fehlt.
Ich bin müde geworden. Viel Schlaf, den ich nachholen muss.