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Kinderschlaf

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19.01.2013
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Kinderschlaf

Mein Vater ist 1,82 Meter groß. Er hat braune, kurze Haare. Sie sind weicher als nötig und unnötigerweise habe ich sie geerbt. In seinem Gesicht hängt ein verschmitztes Lächeln. Seine Gestalt ist, je nach körperlicher Betätigung, mal muskulöser, mal hagerer, dick war mein Vater nie. Seine Hände sind schwer und ungelenkig, ein Resultat aus vielen Jahren Bauarbeit. Wenn er versucht sie zu Fäusten zu ballen, glaubt man, sie könnten platzen, jeden Moment. Das Metall um seinen Ringfinger bildet eine Aura an der Stelle, an der das Fleisch dem Material zu entweichen versucht, eine Farbe von liegengelassener Mayonnaise. Sein Gang ist langsam, nichts Trolliges, wohl schlichte Gelassenheit. Ein dreckiger Humor, den er anschleppt, unzumutbar, selbstironisch, gnadenlos. Auch das habe ich von ihm geerbt. Für den Preis, dass niemand je über meine Witze lacht. Ich amüsiere mich köstlich, bin meine eigene Unterhaltung, ein gutes Geschenk für die Wiege. Mein Vater als einziger König, aber unheilig.

Das ist mein Vater.

Ich habe ihn verlassen.

Im Laufe der Ehe mit meiner Mutter begann er zu trinken, wurde Trinker und blieb dabei. Manchmal konnte sich seine nächtliche Heimkehr, der bloße Gang durch die Tür, über Minuten hinziehen. In einem Kinderleben sind Bruchteile der Zeit Bruchteile einer Ewigkeit. Sobald der Schlüssel das Schloss berührte, kauerte ich in der Horizontalen, zerquetschte meine Füße, bis das Blut streikte. Manchmal traf er das Loch nicht, oft nicht, lange nicht, und so kratzte Stahl an Stahl für eine Ewigkeit, eine Kinderewigkeit, meine Füße ganz taub. Noch heute werde ich aus dem Tiefschlaf gerissen, sobald jemand meine Türklinke berührt. Und wenn jemand unpräzise beim Aufschließen einer Tür ist, habe ich das Bedürfnis, den runden Knochen seines Schädels zu fragmentieren.

Eines Tages war ich es, die den Schlüssel ins Schloss steckte. Meine Mutter lag auf dem Tisch, aus ihrem Mund bildeten sich Blutblasen und platzten. Ich kannte diesen Mechanismus von dem Plastikring, durch welchen ich sonst Seife pustete. Ihre Augen starrten reglos zur Decke. Ich schrie hysterisch um Hilfe. Mir hätte wenigstens jemand sagen können, ob ich wegen einer Toten schrie. So viel Gerechtigkeit stand mir zu, dachte ich.

„Hol mir ein Bier“, sagte er eines Tages. Ich war sechs. „Hol dir dein scheiß Bier doch selbst.“

Ich gehorchte ihm, aber versklaven lassen wollte ich mich nicht. Kinder wissen instinktiv um Abstraktes der menschlichen Natur. Den Hunger konnte ich beim Namen nennen, aber nie ein Gefühl. Für später sollte ich aus den Texten meiner Philosophieliteratur lernen, dass man solche Dinge „Wille“ nennt, oder „Stolz“.

Er erhob sich über mich, deutete eine Ohrfeige an und zischte, seine Gestalt für mich ein Koloss. Ich flitzte. Und brachte ihm ein Bier.

Ich konstruiere den Koloss heute auf dunklem Hintergrund und sehe meinen Vater als Schattengestalt. Nicht seiner selbst, dafür reicht sie nicht. Ein Schatten.

So hab ich ihn verlassen, meinen Vater. Nach zehn Jahren kehre ich zu ihm zurück. Er fragt mich, was ich gemacht habe in den letzten zehn Jahren. Darauf kann ich nicht antworten. Ich weiß es nicht mehr. Auch weiß ich von gestern nichts mehr. Aus Bruchstücken einer Ewigkeit werden Bruchstücke. Heute habe ich die Worte, aber kein Gefühl parat.

Drei kleine Kinder wirbeln um ihn herum, ihr Lärm vernebelt mich. Ich muss die Stirn runzeln, um bei der Sache zu bleiben, muss mich konzentrieren, um etwas zu sehen. Ein kleiner Junge von fünf Jahren fragt mich, wie denn sein Vater mein Vater sein kann. Er gibt sich große Mühe, zu verstehen. Mit einem Vater, seinem Vater, kann doch nur eine Frau Kinder bekommen. Er ist fest von seiner Theorie überzeugt. Seine Mutter ist nicht meine Mutter, das weiß er. Wie bin ich dann zu Stande gekommen?

Das zweite Kind, ein Mädchen, ist sechs. Sie hat bereits längere Haare, als ich sie bislang je wachsen lassen konnte. Dunkle Locken, wie Gummifedern auf Zement bei jedem ihrer Hüpfer. Sie liebt Fleisch, am liebsten direkt vom Knochen. An ihre Ausraster gewöhnt man sich schnell. In heimlicher Stille bin ich mit mir selbst einig: Ich würde sie gerne ohrfeigen.

Das andere Mädchen ist zehn. Ein zarte Gestalt, zerbrechlich, isst nie und hustet immer. Niemand weiß warum, ihre Lungen sind tadellos. Oft lügt sie, ohne ersichtlichen Grund. Man sieht ihr dabei keinen Spaß an, warum tut sie es? Auch ich log. Doch mit diabolischer Freude an den entsetzten Gesichtern. Konnte mich erquicken an kreisförmigen Augen. Den Humor hat niemand geerbt, er gehört nur mir.

Mein Vater lässt das Potpourri zu, seine Gelassenheit unverändert. Anders seine Augen. Sie sind nicht mehr glasig, nicht mehr rot. Die Wandlung eines körperlosen Schattens zum Schatten eines Körpers, hin zum Körper selbst. Zurückdefiniert.

Ich muss mich setzen. Eine Familie habe ich nie vermisst. Nie habe ich das Mitleid der Menschen verstanden, gehasst habe ich es. Bemitleidet, wegen Absenz einer Schutzhülle, die nie vorhanden war. Für mein Empfinden fehlte es mir an nichts. Nun war ich hier und spürte das Gefühl ganz deutlich. Das analoge Vokabular: Schmerz. Ich konnte die Dinge beim Namen nennen, war fähig dazu, doch Wille verließ mich, Stolz verließ mich. Man kann nie alles gleichzeitig haben. Diese Kinder hatten alles, ich hatte nichts. Im kosmologischen Urprinzip verklären sich solche Verhältnisse als „ausgleichende Gerechtigkeit“, übertragen wir sie auf unsere Anthropologie. Auch das habe ich aus meinen Philosophiebüchern gelernt.

Ich bündle mich, entscheide mich für Parade. Ich werde zum Tambourmajor deklariert. Mir ist nicht danach, aber ich gebe jedem ein Stück von mir. Lasse mich versklaven, es spielt keine Rolle. Später schauen wir einen Film, mein Vater und ich. Er legt seinen Kopf auf meinen Bauch. Spät gehen wir schlafen, er weicht mir nicht von der Seite. Ich darf es nicht wagen, meine Hand von seiner loszureißen, davon wacht er auf. Ich billige ihm den Schlaf. Schenke ihn ihm, seit ich das Interesse daran vor zehn Jahren verlor. Neben mir, auf der anderen Seite, der kleine Junge. Ich habe zwei Kinder an den Händen, darf mich nicht wälzen, um keinem davon wehzutun.

In der Nacht darauf reden wir, mein Vater und ich. Ich erzähle ihm von meinen Männergeschichten, von Liebeskummer, verkackten Schuljahren. Von Hilflosigkeit und Betäubung. Erzähle ihm von einem Nichts, das verführerisch meinen Namen ruft. Schlimmeres davon verschweige ich ihm.

„Mein Mädchen“, er versucht stark zu sein. „Ich hatte ja keine Ahnung.“

Ich habe ihn verlassen, meinen Vater. Ein zweites Mal. Das erste Mal aus Stärke. Geblieben ist davon nichts. Jetzt gehe ich, weil Stärke fehlt.

Ich bin müde geworden. Viel Schlaf, den ich nachholen muss.

 

Hallo,

ein wirklich gut geschriebener Text, der mich in sich hineingenommen hat.

Die Beschreibungen, äußere, innere, machen die Gefühle der Erzählerin größtenteils nachvollziehbar. Es bleiben ein paar Unklarheiten bei mir: Was war schließlich mit der Mutter damals, hat (auch) sie den Vater verlassen? Wieso scheitert der Versuch einer Wiederannäherung an den Vater in der Gegenwart?

Aber im Ganzen: wirklich gut!

Schöne Grüße,

Eva

 
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Servus Schnittmenge,

deine ungewöhnliche Art zu schreiben fiel mir schon in deinen ersten Texten auf, die gefällt mir ausgesprochen gut, du haust mir da zum Teil wirklich starke Sätze um die Ohren. Und auch diese neue Geschichte finde ich stilistisch wieder ganz stark geschrieben.

Sein Gang ist langsam, nichts trolliges, wohl schlichte Gelassenheit. Ein dreckiger Humor, den er anschleppt, unzumutbar, selbstironisch, gnadenlos. Auch das habe ich von ihm geerbt. Für den Preis, dass niemand je über meine Witze lacht. Ich amüsiere mich köstlich, bin meine eigene Unterhaltung, ein gutes Geschenk für die Wiege. Mein Vater als einziger König, aber unheilig.

Deine Sprache taugt mir wirklich sehr, das sind kraftvolle, eindeutige Sätze, trotzdem lässt du mir zwischen den Zeilen genügend Platz, um den mit eigenen Gedanken und Bildern zu füllen, aber zum Glück verzichtest du hier auf so unauslotbare Abgründe wie in deinem kryptischen Text Wolfshunger.
Diesmal bietest du mir kein Rätsel, sondern eine echte Geschichte, oder vielmehr den stabilen Rahmen für eine Geschichte, mit viel Freiraum darin für meine eigene Deutung.

Ich schrie hysterisch um Hilfe. Mir hätte wenigstens jemand sagen können, ob ich wegen einer Toten schrie. So viel Gerechtigkeit stand mir zu, dachte ich.

Will ich, dass du mir erzählst, was mit der Mutter geschah? Will ich mir selber was ausdenken? Möchte ich es wirklich wissen? Ich weiß es nicht, genauso wenig wie ich weiß, ob ich aus der Geschichte gar Mißbrauch durch den Vater herauslesen will, oder lieber nicht … Auf jeden Fall bin ich beim Lesen berührt.

So hab ich ihn verlassen, meinen Vater. Nach zehn Jahren kehre ich zu ihm zurück. Er fragt mich, was ich gemacht habe in den letzten zehn Jahren. Darauf kann ich nicht antworten. Ich weiß es nicht mehr. Auch weiß ich von gestern nichts mehr. Aus Bruchstücken einer Ewigkeit werden Bruchstücke. Heute habe ich die Worte, aber kein Gefühl parat.

Und in diesem kurzen Absatz steckt eigentlich das halbe Leben deiner Icherzählerin, da brauchst du mir gar nicht mehr davon zu erzählen. Ich spüre, dass sie verletzt und geschunden und gleichzeitig sehr stark ist. Wie sehr allerdings das eine oder das andere, hängt von meiner jeweiligen Stimmung beim Lesen ab, gestern so, heute so.

Ganz wunderbar beschreibst du die Stiefgeschwister, wie es dir mit ganz wenigen Sätzen gelingt, die drei Kinder zu charakterisieren, ist echt große Klasse.
Für mich ist das eine sehr gut und sehr stark geschriebene Geschichte, ja, die ist mir richtig nahegegangen.

Nur eine Kleinigkeit hat mich gestört:

Und wenn jemand unpräzise beim Aufschließen einer Tür ist, habe ich das Bedürfnis [Komma] den runden Knochen seines Schädels zu fragmentieren.

Ich will dir diese originelle, blumige Formulierung nicht schlechtmachen, aber für mich war sie die einzige, die mir nicht in den Text zu passen schien, die klingt mir irgendwie zu bemüht (halb)lustig.
… habe ich das Bedürfnis, ihm die Fresse einzuschlagen, … ihn zu vernichten,… ihn zu ermorden, …ihn zu töten, was weiß ich, was richtig lakonisch Derbes gefiele mir hier besser.
Aja, und trolliges, gehört für mein Gefühl groß geschrieben, glaub ich.


Bitte mehr davon.

offshore

 
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Hallo Schnittmenge,

deine anderen Geschichten haben mir besser gefallen. Diese ist mir zu analytisch, was eindeutig zu Lasten der Dynamik geht. Es gibt viel Innen und wenig Außen in deiner KG. Dein Stil ist interessant und man spürt jederzeit den Willen, ausgelatschten Trampelpfaden der Beschreibungen und Formulierungen ausweichen zu wollen. Das gelingt dir. Meisten jedenfalls. Aber die sehr überschaubare Handlung bekommt mächtig viel analytische und selbstreflektierende Beschreibungen aufgebürdet, da stimmt für mich als Leser irgendwas in der Gewichtung nicht. So habe bei diesem Text stellenweise das Gefühl, dass diese Beschreibungen teilweise wie Ballast auf der Handlung liegen, ohne sie wirklich voranzubringen. Das Wesen einer Kurzgeschichte, jedenfalls nach meiner Auslegung, ist in der Hauptsache das Vorwärts, während du auf eher romanhafte Weise die Tiefe suchst, in der Vaterfigur und in der Beziehung Vater/Tochter. Oder, um es mal in einer Sportmetapher auszudrücken: Deine Beschreibungen spielen sich in der eigenen Hälfte gekonnt aber ohne jeden Raumgewinn den Ball zu, während ich mich über einen schnellen Angriff und einen Torschuss freuen würde ;-)

Es wäre schöner, dir gelänge Beides. Tiefe und Vorwärts.

Was mir auffiel:

Der erste Absatz ist gut gemeint, aber die Personenbeschreibung ist für die Kürze des Gesamttextes zu viel. Wozu so ausführlich? Ja, du willst den Vater als Figur einen großen Schatten geben, aber die Kunst wäre es, dass in deutlich weniger Worten hinzukriegen.

Zitat: Im Laufe der Ehe mit meiner Mutter begann er zu trinken, wurde Trinker und blieb dabei.

Nach meinem Empfinden wäre der Satz stärker, wenn du auf "wurde Trinker" verzichten würdest.
Dass er zu trinken begann, beinhaltet diese Entwicklung bereits, die du mit der Aussage "blieb dabei" eh noch bestätigst. Das macht die Information, dass er zum Trinker wurde, doppelt entbehrlich und zu einem echten Störenfried in diesem Satz.

Zitat: Noch heute werde ich aus dem Tiefschlaf gerissen, sobald jemand meine Türklinke berührt.

Meinst du nicht eher "bewegt"? Ich glaube nicht, dass man bereist aus dem Schlaf gerissen wird, wenn jemand eine Türklinge berührt.

Zitat: Ich kannte diesen Mechanismus von dem Plastikring, durch welchen ich sonst Seife pustete.

Bei deiner Fähigkeit, gut und klug zu Formulieren, sticht das als eher suboptimal hervor. Schon klar, welches Bild du erzeugen willst, aber warum so umständlich? Im Grunde genommen meinst du doch, dass es aussah, wie blutige Seifenblasen. Das würde ich mehr in dieser deutlicheren Richtung beschreiben, als mit "Mechanik" und "Plastikring", das sind zwei ungeeignete Wörter, um eine gut Metapher zu erzeugen. Und meiner Meinung pustet man da nicht Seife hindurch, sondern eine Seifenlauge. Aber je genauer man diesen Vorgang zu erklären versucht, desto blöder verzettelt man sich da wahrscheinlich.

Ansonsten fand ich viele Stellen eindringlich und interessant, und deine Art, Geschichten ungewöhnlich und anders anzugehen, gefällt mir.

Rick

 

Hallo Schnittmenge!

mir hat die Geschichte sehr gut gefallen!

Es gibt sehr viele Leute, die nervend flache Erzählungen schreiben und dass du geschafft hast, das nicht zu machen, finde ich echt entspannend zum Lesen!

Nur-wenn ich mir das bei meiner Neuheit herausnehmen darf- ist sie doch ein wenig zu komplex für meinen Geschmack bzw. betont unbestimmt und offen. Das ist zwar ein gewisser edler Stil, aber stiftet auch ein bisschen Verwirrung.

Die Tipps von Rick fand ich eigentlich echt gut, aber sonst ist die Erzählung toll!

alles liebe,

eatpraylove

 

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