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Kinderliebe

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13.07.2006
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Kinderliebe

Kommissar Möller knallte den Hörer auf die Gabel.
Er fixierte das Bild des Führers, der grimmig von der Wand auf den Schreibtisch blickte.
„Verdammte Parteibonzen“, murmelte Möller.
„Da wäre ich aber vorsichtig.“ Der Kommissar zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass Inspektor Widerstritt in der Tür stand.
„Wissen Sie überhaupt, welche Order gerade kam?“ Möller fuhr sich über den kahlen Schädel. „Wir haben eh alle Hände voll zu tun und sollen auch noch Judenkinder einfangen. Das ist ja wohl…“
Der junge Inspektor zupfte an seinem Parteiabzeichen. „Die Gefährlichkeit dieser Rasse ist wissenschaftlich bewiesen.“
Der Kommissar kniff die Lippen zusammen. „Das kann ich nicht beurteilen. Aber es gibt Prioritäten…“
„…die von der Partei fest gelegt werden“, ergänzte Widerstritt.
„Der Spielzeugmacher Blumenthal, Herr Inspektor. Und die anderen zwei jüdischen Familien hier in Treufels. Die sind ganz sicher eine enorme Gefahr.“
„Soll das ein Witz sein?“ Widerstritt lehnte sich auf den Schreibtisch seines Vorgesetzten.
Möller verzog keine Miene. „Wie käme ich denn dazu?“
Der Inspektor nahm einen der Bilderrahmen vom Tisch.
„Hübsche Töchter haben Sie, Volksgenosse.“ Der Inspektor ließ das Bild fallen. Es gab einen lauten Knacks, als das Glas sprang. „Sie sollten gut auf sie achten…“
Möller wurde aschfahl.
„Danke für den Hinweis.“ Seine Stimme zitterte.

Möller stand auf der steilen Treppe, die zur Haustür des kleinen Fachwerkhauses führte und blätterte in seinem Notizbuch. Von seiner Hutkrempe tropfte Regenwasser auf das zerknitterte Papier.
Er hatte die kurze Liste verdächtiger Personen, die er von der Gestapo erhalten hatte, fast durch:
Gewohnheitskriminelle, Kommunisten und Fräulein Wagner. Möller runzelte die Stirn. Was hat die kleine pensionierte Lehrerin in einer Aufzählung von zwielichtigen Gestalten zu schaffen? Gut, sie hatte sich mit Pastor Friedrichs angelegt, der mit der Ortsgemeinde den Deutschen Christen beigetreten war. Möller schüttelte den Kopf. Ja und?
Der Kommissar klopfte gegen die Tür und wartete.
Er wandte sich schon zum Gehen, da wurde geöffnet.
„Ja bitte?“ Fräulein Wagner setzte sich umständlich ihre Brille auf. „Ach, der kleine Karl Möller.“
Der Kommissar hatte plötzlich das Gefühl, in kurzer Hose und mit einem Ranzen auf dem Rücken vor seiner alten Lehrerin zu stehen. Er räusperte sich. „Entschuldigen Sie die Störung…“
Ihr Blick war starr auf einen Punkt über seiner Stirn gerichtet. Hastig zog Möller den nassen Hut vom Kopf.
„Ich bin leider in dienstlicher Angelegenheit…“
„Möchtest du nicht hereinkommen?“
Möller spürte, wie sein Gesicht rot anlief. „Es ist mir wirklich unangenehm. Aber ich muss Ihnen ein paar Fragen…“
„Hier ist es zu kalt.“ Fräulein Wagner schlurfte zurück in ihre Wohnung. Möller trat zögernd in die Eingangsdiele und zog die Tür hinter sich zu.
Es roch nach Kohlsuppe. Im Zwielicht erkannte Möller eine Garderobe, an der ein einsamer Mantel hing. An der Wand hing ein mit Lorbeer geschmücktes Kruzifix.
Eine Tür führte in die Küche, eine Treppe nach oben, eine andere in den Keller. Dort stand Fräulein Wagner und hielt sich am Geländer fest. „Dienstlich bist du hier, so, so…“
„Es geht um Blumenthals Kinder.“
„Aha. Und was haben sie verbrochen?“
Möller drehte den tropfenden Hut in seinen Händen.
„Sie müssen… sie sind… Sie haben sich dem Zugriff der Behörden entzogen. Nun, es sind Juden…“
Sie hob den Zeigefinger. „Karlchen, es sind Kinder. Mehr nicht. Und Kinder habe ich hier nicht.“
Möller erbleichte. „Sie reden sich um Kopf und…“
„Willst du jetzt mich belehren? Auf Wiedersehen, Karl.“
Er setzte den Hut auf und wandte sich so hastig um, dass er den Mantel von der Garderobe riss. „Entschuldigen Sie…“
Sein Blick fiel auf etwas, dass aus der Innentasche des Mantels gefallen war. Es war eine bunte Stoffpuppe.
Er hob sie auf. „Blumenthals Flickenspielzeug?“
„Ein Geschenk.“ Nun war es Fräulein Wagner, die errötete.
„Von einer ehemaligen Schülerin.“
„Ein Geschenk aus einer jüdischen Werkstatt?“
„Und wenn schon.“ Fräulein Wagner schob die Unterlippe vor.
„Haben deine Töchter nicht auch mit Blumenthals Püppchen gespielt, wie fast alle Kinder in Treufels?“
„Gut. Sie haben Recht. Lassen wir das.“ Er tippte gegen die Hutkrempe. In der Tür hielt er kurz inne. „Eine Frage noch. Von welcher Schülerin haben sie die Puppe?“
Die alte Lehrerin zögerte. „Trudie Rother“, sagte sie schließlich. „Eine… Arierin, keine Bange, Karl.“
Er nickte nur und ging zur Straße hinunter.
Nun gab es nur noch eine Adresse auf seiner Liste.
Wenn ich Glück habe, dachte er, kann ich diesen Blödsinn in einer halben Stunde ad acta legen. Der letzte Eintrag lautete auf eine Gertrud Schulte, vorbestraft wegen Rassenschande, verwitwet, wohnhaft in Drillingsdorf. Die Bauernschaft? Meine Güte, das ist bei dem Wetter eine Fahrt von einer Stunde.
Er klappte das Buch zu. In seinem Kopf rastete etwas zusammen. Drillingsdorf? Das waren drei Gehöfte: Hansen, Berndsen und Rother. War da eine Spur?
Kommissar Möller stieg mit großen Schritten die Treppe zum Haus des Fräulein Wagner hoch. Die Tür stand noch offen.
„Fräulein Wagner?“ Er trat in die Diele. Flüsternde Stimmen klangen die Kellertreppe hoch. Er beugte sich über das Geländer. Drei Kinder schauten mit großen, dunklen Augen zu ihm auf. „Was machst du hier?“, kam es von der oberen Treppe. Möller fuhr zusammen. Er hatte die alte Lehrerin nicht kommen hören. Der Kommissar seufzte.
„Die Frage ist eher, was Sie hier machen.“
Sie verschränkte schweigend die Arme vor der schmalen Brust.
Möller wischte sich fahrig durchs Gesicht. „Ich muss das melden. Sie verstoßen damit…“ Er deutete auf die Kinder. „…gegen geltende Gesetze, ob die uns nun passen oder nicht.“
Sie schüttelte den Kopf. „Mein Gott, Karl, weißt du noch, was du mir gesagt hast, warum du Polizist werden wolltest?“
Sie stieg herab und ergriff seine Hände. „Du konntest es nicht ertragen, dass die stärkeren Schüler, die Schwächeren ärgerten.“
Er senkte den Blick. „Aber ich… was soll ich denn tun?“
„Karl, du hast doch selbst Kinder.“ Sie schüttelte seine Hände. „Würdest du wollen, dass denen so etwas passiert?“
Der Kommissar atmete schwer, seine Schultern verkrampften.
Er riss sich heftig los. „Nein!“
Möller beeilte sich, sein Büro zu erreichen, um Meldung zu machen.

 

Hallo Udo

Sehr guter Einstieg in das düstere Kapitel der Geschichte, während der der Mensch meinte, Ideologie als Absolutheit rechtfertige alles. Kurz, prägnant und lebendig, auch das Zusammentreffen von Kommissar Möller mit Fräulein Wagner. Obwohl sie nur mit wenigen Strichen gezeichnet sind, werden ihre Persönlichkeiten spürbar, ihr Verhalten verständlich und erlebbar.

Sie hob den Zeigefinger. „Karlchen, es sind Kinder. Mehr nicht. Und Kinder habe ich hier nicht.“ Möller erbleichte. „Sie reden sich um Kopf und…“

Liebevoll, diese einfache Zurechtweisung der alten Lehrerin an ihren ehemaligen Schüler, dies obwohl beide wissen, wie es sich verhält.

Es ist dir gelungen, aus dieser blutschwarzen Zeit eine sympathische Episode herauszufiltern. Nicht die Mitläufer vorherrschender Meinungen sind es, die in finsteren Kapiteln Licht bringen, sondern eben jene die die Kraft finden, wenn nötig auch gegen den Strom zu schwimmen.

Der Schluss lässt mir offen, was die Meldung von Möller beinhalten wird, und das ist gut so.

Ein Stolperstein sei aber auch erwähnt:

„Die Frage ist eher, was Sie hier machen.“

Hier lautet es sie, gemeint sind ja die Kinder.

Sehr gern gelesen.

Gruss

Anakreon

 

Danke für Deinen Kommentar.
Du siehst die Geschichte positiver als ich erwartet hätte- Während des Schreibens fühlte sie sich bitterkalt an...

„Die Frage ist eher, was Sie hier machen.“
Gemeint war tatsächlich Fräulein Wagner. Aber Du hast recht, es passt deutlich besser, wenn die Kinder gemeint sind...also sie statt Sie...

 

Hallo Udo,

auch mir hat diese kurze Abhandlung aus der NS-Zeit gut gefallen.
Du hast in den wenigen Zeilen sehr viele wichtige Informationen hineingepackt und die auf sehr geschickte Weise durch Dialoge vermittelt.
Eines habe ich nicht ganz verstanden. Was hat Möller veranlasst, noch einmal zu seiner Lehrerin hinaufzugehen? Habe ich da etwas überlesen?

Zwei Fehlerchen möchte ich dir noch aufzeigen:

„…die von Partei fest gelegt werden“, ergänzte Widerstritt.
von der Partei

„Du konntest es nicht ertragen, dass die stärkeren Schülern, die Schwächeren ärgerten.“
Schüler

Viele Grüße
bambu

 

Hallo Udo,

diese unsäglichen Tausend Jahre scheinen mir Dein Thema zu sein, in diesem Falle um die Spannung zwischen Pflicht und Menschlichkeit eines Polizisten, in dem die „Pflichterfüllung“ obsiegt – da ein nachgeordneter Beamter mit einer verschwiegenen Drohung

Der Inspektor nahm einen der Bilderrahmen vom Tisch.
)den „Gefährten“ (nichts anderes bedeutet ursprünglich der „Genosse“) gefügig macht. Ohne großen Aufwand erreichstu, Abhängigkeiten darzustellen und seelische Nöte anhand von Äußerlichkeiten
Möller fuhr sich über den kahlen Schädel. / Der junge Inspektor zupfte an seinem Parteiabzeichen. / Der Kommissar kniff die Lippen zusammen.
usw. anzuzeigen. Denn tatsächlich können wir – selbst wenn Autoren gelegentlich gottgleich sind – einem nur vor’n Kopf schau’n.

Zwo Namen find ich freilich übertrieben in ihrem Symbolgehalt: den des Inspektors

Widerstritt
und den des Ortes.

Mein dann auch noch zwo verbliebene Schnitzer meiner Krämerseele vorzeigen zu können:

Möller verzog keine Mine.
Ja, das wird so sein. Aber gönn dem “Gesichtsausdruck” noch das Dehnungs-e (das sich erst im 18. Jh. bildete zur Abgrenzung von der bis dahin identischen Schreibweise der unverwandten Erzgrube).

Schließlich ist einmal die Leertaste vorm Satzanfang zu nutzen:

… in einer halben Stunde ad acta legen.Der letzte Eintrag lautete …

Gruß

Friedel

 

Danke noch mal für Eure Komentare und Verbesserungsvorschläge.

Die formalen Fehler habe ich gerade korrigiert.

Eines habe ich nicht ganz verstanden. Was hat Möller veranlasst, noch einmal zu seiner Lehrerin hinaufzugehen? Habe ich da etwas überlesen?

Kann sein... ;-) Möller stellt fest, dass die letzte Person auf seiner Liste aus einer Bauernschaft kommt, in der es einen Rother-Hof gibt. Die Verdächtige heißt Gertrud Schulte. Die ehemalige Schülerin, von der Fräulein Wagner die Puppe bekommen hat, wurde Trudie Rother genannt.

Zwo Namen find ich freilich übertrieben in ihrem Symbolgehalt
Hm, tja, in Ordnung. Mir fällt als Ausflucht nur ein, dass die gesamte Zeit, in der die Geschichte angesiedelt ist, ziemlich übertrieben war... okay, das war jetzt ziemlich schwarz...

 

Hallo Udo,

vielen Dank für die Aufklärung!

Viele Grüße
bambu

 

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