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Kinderaugen

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22.08.2012
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Kinderaugen

Ich muss zwei oder drei Jahre alt gewesen sein, als mein Urgroßvater starb. Aufgrund seiner Körpergröße nannte ich ihn immer den kleinen Opa, denn die anderen meiner Großväter überragten ihn bei weitem. Das Haus, in dem wir damals wohnten, gehörte zu einem der Bauernhöfe, die unsere Vorfahren in dieser Gegend des Thüringer Schiefergebirges gegründet hatten, und bot genug Zimmer, dass, mehr oder weniger bequem, sieben Personen darin leben konnten, unter denen sich auch der kleine Opa befand. Mir ist nicht bekannt, wie der kleine Opa unser Zusammenleben empfand, wohl aber, dass ich oft auf seinem Schoss gesessen habe, was aber nicht als Zeichen einer tiefen geistigen Verbundenheit gedeutet werden sollte, sondern wohl eher meinem Status als kleinsten der Familie, dem Einzigen, der kleiner war als er, geschuldet war.

Das Haus, in dem wir lebten, hatte eine Eigenart, die mir tatsächlich erst jetzt, in der Erinnerung, bewusst wird. Die Räume wurden kleiner je weiter sie von der Dorfstraße entfernt waren. Das heißt, am Giebel der zur Straße gewandten Seite waren die Wohnzimmer der Familienoberhäupter untergebracht und nach hinten gab es verschiedene Schlafzimmer sowie Rumpel- und Speisekammern. Im letzten Schlafzimmer, gegenüber der kleinsten Speisekammer, in die der frischgebackene Kuchen kam, lebte der kleine Opa. Zur Eigenart der kleiner werdenden Zimmer kam, dass diese zusätzlich auch noch schwerer zu beleuchten waren, also irgendwie immer düster wirkten. Das lag einerseits an den Fenstern, die ebenfalls nach hinten hin kleiner wurden und an der engen Bebauung, die kaum Abstand zum Haus des Nachbarhofes oder zur eigenen Scheune hergab.

In meinem Alter bereitete mir dies in Gesellschaft immer Unbehagen, wenn ich aber alleine dort hingemusst hätte, wäre es furchtbare Angst gewesen, denn der Weg in den hinteren Teil des Hauses war ein langer, fensterloser Flur mit einem ächzenden Dielenfußboden, gesäumt von Türen auf beiden Seiten, der sich nicht nur optisch über die Länge verjüngte, sondern tatsächlich schmaler wurde. Das letzte Stück aber war vom Flur durch einen schweren Vorhang unbestimmter Farbe abgetrennt, durch den man hindurch musste, um den kleinen Opa zu besuchen. Es war als ginge man von der klaren Dunkelheit einer Straße in die schwarze Finsternis des untersten Dickichts eines Märchenwaldes, obwohl man eigentlich nur in eine Kammer stolperte, vollgestellt mit unhandlichen Möbeln, durch die man sich zu den letzten drei Türen des Hauses nur schlängeln konnte.

Meinen Urgroßvater störte das nicht, aus Erzählungen weiß ich, dass er ein sparsamer und pragmatischer Mensch war, der versuchte logisch an die Dinge heranzugehen und dem der Zusammenhalt in der Familie sehr wichtig war. Sein hohes Alter und die verschiedenen Gebrechen, die damit einhergingen, verhinderten allerdings, dass er eine große Hilfe auf dem Feld oder beim Bewirtschaften der Tiere sein konnte. Viel Zeit verbrachte er deshalb mit dem Versuch, möglichst niemanden zur Last zu fallen, hatte dabei aber immer ein offenes Ohr für die Probleme und Fragen seiner Mitmenschen.

Am Tag seines Todes wurde ich von meinem Vater geweckt, dass ganze Haus war schon im Aufruhr, man wartete auf den Bestatter, der Arzt war gerade schon weg und alle machten eine ernste Miene. Als mir auf sanfte Weise erklärt wurde, was geschehen war, verstand ich es, obgleich weniger den Verlust, als die Tatsache an sich. Der kleine Opa lag noch in seinem Zimmer, draußen im Hof standen mein Vater und ich sowie ein paar Nachbarn. Der Leichnam sollte „Nach Hinten raus“ gebracht werden, das war eine Holztür aus Brettern zusammengenagelt, nur durch einen einfachen Riegel zu verschließen, die genutzt wurde, um auf den Dachboden des Hauses zu kommen oder um die Speisekammer aufzufüllen. Großvater und Großmutter, als nächste Verwandte, hatten mittlerweile den Bestatter durch Flur und Vorhang geführt, der sich den Verstorbenen und seine Räumlichkeit genau besah und feststellte, dass da kein Sarg hinein- oder hinausginge.

Ein bisschen ratlos müssen sie gewesen sein, als sie überlegten, wie sie den Sarg zu dem kleinen Mann in dem kleinen Zimmer, durch den dunklen Gang und die enge Kammer, bekommen sollten. Praktisch veranlagt, wie meine Familie nun einmal ist, vereinfachten Sie das Problem gewissermaßen, in dem Sie überlegten, wie denn nun vielleicht der kleine Mann aus dem kleinen Zimmer, durch die enge Kammer, in den Sarg zu kriegen sei.

Draußen wurde das Publikum schon geschwätzig und verkannte den Ernst der Situation drinnen. Denn die Würde des Verstorbenen stand auf dem Spiel und nicht zu denken, wie der Tratsch aussähe, sollte der Bestatter herauskommen und verkünden, dass er den Leichnam unter diesen Umständen unmöglich würde mitnehmen können. In der Welt meines Urgroßvaters war seine Körpergröße nie ein Problem gewesen, in der Welt aller anderen war er kaum noch sichtbar, bis er ganz diese Welt verlassen wollte und zu einer Art Korken in der Flasche wurde. Großmutter war unterdessen in Tränen ausgebrochen und wollte meinen Vater gerade zur Hilfe holen, man würde eine Wand einbrechen müssen, oder sämtliche Möbel hinaustragen müssen, sagte sie, als sich die Brettertür „Nach Hinten raus“ plötzlich öffnete und in ihr einer stand, der aussah als wärs der kleine Opa selbst.

Ich schaute hin und für mich war es wie immer; mit dem kleinen Unterschied, dass ich ja schon wusste, dass der kleine Opa heute in den Himmel kommt. Gestützt vom Bestatter und von Großvater. Den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet, um ja nicht die letzten sechs Stufen zu stolpern, und sehr bedächtig, aber nicht so als wäre er ein Tattergreis, ging er zum Leichenwagen. Dieser war extra nah herangefahren worden und wartete schon mit offener Tür und offenem Sarg. Ohne ein Wort des Abschieds, kein Nicken und kein Zwinkern, löste er sich aus dem stützenden Griff seiner Helfer und kletterte ins Auto, in den Sarg.

Ich stelle mir vor, wie sie im Zimmer des kleinen Opas ins Schwitzen kamen und weder ein noch aus wussten, bis einer, ich denke mein Großvater wars, so etwas gesagt hat wie: „Dann muss er eben jetzt noch mal selber gehen.“ Worauf er den kleinen Opa erst vorsichtig, schließlich aber kräftiger, an der Schulter rüttelte, bis der seine Augen noch mal öffnete.

 

Hey Morphin,

zuerst Mal vielen Dank für die schöne Kritik und ich bitte um Verzeihung, dass ich erst jetzt auf Deinen Kommentar antworte. Privat gab es gerade jede Menge Jubeltrubelheiterkeit, was den Weg zu einer ruhigen Minute am Computer etwas ausgebremst hat.

Beim Thema Schachtelsätze kann ich Dir nur beipflichten, diese verschnörkelte Schreibweise ist irgendwo tief in mir verwurzelt und sobald ich selbst etwas mehr Abstand zur Geschichte gewonnen habe, kann die Entschachtelung beginnen.

"Neues aus Uhlenbusch" kannte ich bisher noch nicht, klingt aber interessant. So wie Du es beschreibst wirds mir gefallen. Werde gleich mal danach recherchieren. Passt scheinbar wirklich gut zu dem Umfeld das ich mir Vorgestellt habe.

Beste Grüße

Lem Pala

 

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