Kinder
Kinder. Für B.
„Mit dieser Karte kann ich Ihnen das Medikament nicht ausstellen“, sagte die Verkäuferin mit einer Ruhe, die ihn noch mehr erblassen ließ. Ohnehin war er schon sehr fad im Gesicht geworden, und es mochte wohl nicht mehr lang dauern, bis man ihn nicht mehr erkennen würde. Man würde ihn nicht beachten, nicht unbedingt, weil man das so wollte, sondern wohl eher, weil man nicht anders konnte. Er würde einfach nicht auffallen, weder in einer Menge, noch unter wenigen.
Gestern war er schon in einer anderen Apotheke.
„Nein, so kann ich Ihnen das Medikament nicht verkaufen“, sagte auch dort eine Verkäuferin, deren Gelassenheit bereits drohende Züge annahm. Auch dort rutschte er verschämt mit den Schuhen über den kahlen Boden. Auch dort atmete er unruhig. Auch dort sah er sich um, ob wohl jemand Mitleid haben wollte. Aber auch dort, so wie hier, zeigte niemand Erbarmen. Dort sagte er dann: „Warum nicht ?“
Das war eine Frage, die er hier wiederholte, die auch hier eine knappe Antwort bekam: „Weil dort unten keine Unterschrift des Arztes zu finden ist.“
Er atmete schneller. Seine Augenbrauen, die kaum noch sichtbar waren und in diesem Augenblick endgültig verschwanden, bäumten sich ein letztes Mal auf an die fliehende Stirn. Sie war in den letzten Tagen und Wochen immer größer geworden. Die Stirn runzelte nicht mehr. Sie neigte sich weit über den kahler werdenden Kopf nach hinten, um irgendwo im dürren Genick, das mal dicker war, sich zu verstecken. Kein Haar war mehr an seinem Platz, alles war verschoben oder fort.
„Aber ich brauche es dringend“, sagte er mit leiser Stimme. Sie wäre wohl lauter gewesen, jedoch schien auch sie langsam aber sicher stiller und kaum noch erkennbar zu werden. Er räusperte sich und wartete die Antwort ab: „Das mag so sein. Hier fehlt aber die Unterschrift. Und ohne die kann ich nichts für Sie tun“, sagte die Verkäuferin ruhig. Es war aber nicht die ungewollte Ruhe wie in seinen Worten, sondern die Ruhe einer Person, die sicher war, nichts tun zu wollen, keine Spur von Bedauern zeigen zu wollen.
Wieder rutschten seine kleiner werdenden Füße über den Boden. Gestern noch kaufte er sich neue Schuhe, heute schon sind sie zu groß für die Füße. Auch die Hände waren nicht mehr so, wie sie einst auf die Welt kamen: Wie Fäustlinge, aber sehr klein und dürr, hakten die Hände an seine dünnen Hüften, die sich jeden Tag ein wenig mehr nach innen wandten, bis sie bald nicht mehr da waren. So geschah es vor kurzer Zeit nämlich mit seinem linken Arm. Der war morgens einfach fort. Die Hand blieb. Sie legte sich von selbst an die Schulter und harrte ihrem Entschwinden entgegen.
Die Körperteile, die verschwanden, waren auch nicht mehr zu finden. Am Anfang, als es begann, da konnte er wenigstens sein rechtes Ohr aufbewahren, auch wenn es nicht mehr nutzbar war. Das entstandene Loch schloss sich zwar von selbst, aber kein Arzt der Welt könnte wohl ein Ohr annähen, das am nächsten Tag wieder abfallen würde. Aber dann begann das Verschwinden, und er konnte keine Reste mehr im Bett entdecken.
„Da, da ist doch die Unterschrift“, bemerkte er zitternd. „Nein, die meine ich nicht. Bei der Mengenangabe, da fehlt sie“, sagte die Frau mit verärgertem Tonfall. Wieder schwieg er eine Weile. Auch seine Gedanken ordneten sich nicht mehr so schnell wie früher:
Alles verfing sich seit kurzer Zeit irgendwo im schrumpfenden Kopf, nur noch Restgedanken waren zu finden. Der Kopf hatte etwa die Größe einer Orange, mehr war nicht übrig. Auch das Hirn mochte wohl geschrumpft sein, so wie der Körper insgesamt. Sehr auffällig war die Wirbelsäule, an der bestimmt drei oder vier Wirbel fehlten, denn der Hals war auch schon gegangen.
„Ich kann nicht sein ohne das Medikament“, sagte er verbittert. Keine Antwort. Die Frau bediente den nächsten Kunden, der schon wartete. „Ich werde es dem Arzt schicken müssen“, sagte sie noch, ohne ihn anzusehen.
Die Worte vernahm er noch, dann war das andere Ohr fort. Er hatte es erwartet und war nicht überrascht. Sein Blick war der Blick einer Person, die den Verlust hatte kommen sehen. Er kniff die Augen zusammen und wartete ab. Als er sie öffnete, da sah er nur noch aus einem Auge, das andere war auch gegangen. Einfach so und immer schneller passierte es.
Vor einigen Tagen zum Beispiel fühlte er einen Drang, sich Badewasser einzulassen. Als er im angenehmen Wasser lag, geschah wieder etwas: Sein Darm entleerte sich ohne Ankündigung. Aber das, was er fand, das waren Teile seines Inneren, die zu beschreiben ihm im Augenblick nicht möglich sein würde. Immer leerer fühlte er sich. Morgens verlor er nach und nach seine Zähne. Anfangs platschten sie, vermengt mit Speichel und Blut, ins Waschbecken. Später lösten sie sich einfach auf. Zu Beginn konnte er sie auffangen, dann aber fing er immer ins Leere. Und Leere war genau das Gefühl, welches ihn umgab. Keine Gedanken, immer weniger Körper, nur noch stilles Auflösen war willens, ihn zu töten.
„Ich, ich brauche Hilfe“, weinte er in den Raum. Die anderen Menschen aber ignorierten seinen leisen Ruf. Wahrscheinlich war die Stimme bereits verschwunden, vermutete er. Als er sich umdrehte, um die Apotheke zu verlassen, erinnerte er sich an seinen Besuch beim Arzt:
Den Namen entdeckte er im Telefonbuch. Auf einer ansonsten unbeschriebenen Seite stand er geschrieben. Am gleichen Tag noch, als er den großen Zeh vermisste, stieg er in die Straßenbahn und fuhr bis in die Altstadt. Dort ging es einen Hügel hinauf. Abseits von allen Wegen fand er den Arzt. Ein Wartezimmer gab es nicht. Lediglich ein kleiner Flur führte auf den Dachboden. Dort standen Regale, darin viele Bücher, aber keines der Medizin. Nun, ein wahrer Genius braucht keine geschriebenen Weisheiten, dachte er in diesem Moment. Kurz darauf kam der Arzt, sah ihn an. Er solle sich ausziehen und hinlegen, deutete er an. Also legte er sich nackt auf den morschen Holzboden. Der Arzt rollte ein Maßband aus und untersuchte ihn. Ohne zu sprechen verschrieb er das Medikament, welches er wohl nicht mehr bekommen konnte, dachte er.
Draußen, vor der Apotheke, da war es kalt. Hätte er noch Haar, dann würde es mit ihm zittern. Als er über die Straße ging, da stolperte er. Beide Beine verschwanden. Mühsam kroch er wie ein Insekt auf die andere Seite und legte sich auf eine Bank im Park. Er hoffte, am nächsten Morgen endlich fort zu sein.
Das geschah nicht. Als er sich betrachtete, als die Morgensonne den Tau auf den Wiesen berührte, als der Nebel sich verzog, da war er nur noch ein Stumpf. Selbst der Kopf war gegangen.
Der Stumpf rollte sich von der Bank herunter und purzelte über die feuchten Wiesen. Er vergnügte sich am Anblick spielender Kinder, die das ganze Leben für ihn waren. Still wünschte er ihnen alles Gute, das es auf seiner Welt irgendwo geben würde. Im Angesicht der warmen Sonne waren die Kinder wie eine große Hoffnung für ihn.
Der Stumpf bewegte sich wie ein zertretener Ball auf den Bürgersteig. Die angrenzende Straße war stark befahren. Als die Straßenbahn kam, rollte sich der Stumpf auf die Schienen, um endlich zerstört zu werden.
In diesem Moment, bevor die Bahn ihn erfassen konnte, verschwand er endlich.
Die Sonne stand zu diesem Zeitpunkt bereits hoch am blauen Himmel, der erst sehr spät sich verdunkelte. Auch in der Nacht war es besonders hell, bemerkten die Kinder.