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Kinder haben Schutzengel (Trilogie II.Teil)
„Mum, fahren wir jetzt zu Mrs. Scott? Du hast es versprochen Mum, bitte, bitte, bitte…“ in einem nervtötenden Singsang erinnert Kimberly Jones ihre Mutter an deren Weckruf. „Wenn du nicht in zwei Minuten fertig angezogen in der Küche stehst, fahren wir nicht zu Mrs. Scott.“ Und so warf sich das junge Mädchen aus ihrem Bett und rannte mit Unterwäsche bekleidet zu ihrer Mum in die Küche, wo es nach warmen Kakao duftete. Wenn sie die Kleine am Nachmittag vom Kindergarten holen würde, fuhren sie zu Mrs. Jones und schauten, ob es wohl eine neue Lieferung gegeben hatte.
Mrs. Jones war Mitbesitzerin des größten und schönsten Spielwarengeschäftes der Stadt. Nach dem Krieg hatte sie Paul Scott kennen gelernt, der zu Kriegszeiten Sanitäter war und auf der Krankenstation nebenbei die Lagerstätten des Lazaretts betreute. Hier verstaute man auch das herrenlose Spielzeug, das gefallene Soldaten - ob nun Amerikaner oder Alliierte – ihren Töchtern und Söhnen zu Hause versprochen hatten. Auf Anfrage bekam Mr. Scott die großen Säcke voll mit Puppen, selbstgeschnizten Holzspielzeug, Kuscheltiere und Spielautos. Diese Accessoires verkaufte er billig auf dem Wochenmarkt seiner Heimatstadt und als ihm der Job begann Spaß zu machen, wollte er ihn zum Hauptberuf machen. Schnell orderte er Spielzeug über Spielzeug, eröffnete einen Laden in der Harborstreet und musste bald sogar umziehen in ein schönes altes Geschäftshaus in der Mainstreet. Es war groß und hatte schöne Schaufenster. Als er es zusammen mit seiner neuen Frau Nicole einrichtete, achtete er darauf, dass Puppen und andere Spielsachen für Mädchen auf der linken Seite waren und dass die Jungs auf der rechten Seite Spielautos, Modelle und Plastrevolver vorfanden. In der Mitte fand man Kuscheltiere und Malzeug. Zur Eröffnung des neuen Geschäftsgebäudes hatten seine treuen Kunden ein wenig Geld zusammengelegt und so schenkten sie ihm ein großes weißes Blechschild auf dem in knallroten Buchstaben
P. Scott
stand. Von nun an wollte er sich nur noch um das Formelle kümmern, seine Frau wollte im Laden verkaufen. Sie konnte so wunderbar mit Kindern umgehen, auch, wenn es mit eigenen Sprösslingen nie klappen sollte.
Zu den treuen Kunden wurden auch Diana Jones mit ihrer zauberhaften Tochter Kimberly. Diana war ein Großstadtkind doch ihre Kinder wollte sie nie in dem Smog und den Gefahren der Metropole aufwachsen lassen. Beide, Mutter und Tochter waren fasziniert von dem bunten Spielzeugladen und von Mrs. Scotts Geschichten. Ihre Tochter war verrückt nach Barbies, doch wenn Mum mal in der Boutique auf der gegenüberliegenden Straßenseite war, spionierte Kimberly auch die „feindliche Seite“ aus. Mit was Jungen wohl spielten? Und so sah sie die bunten Modellbaukartons an und probierte die kleinen Spielautos auf Fahrtüchtigkeit.
Durch das Schaufenster beobachtet Nicole Scott mit ihrem sanften Blick wie Mrs. Jones und die kleine Kimberly auf den Laden zugehen. Sie hatte schon in weiser Voraussicht Tee angesetzt, denn heute war Dienstag, Liefertag, und da kamen die beiden regelmäßig um zwei Uhr nachmittags vorbei.
„Hallo Mrs. Scott!“ Kimberly wirft der alten Dame mit dem weißen Haar und den tiefen aber entspannten Falten einen flüchtigen Blick zu und läuft nach links in die Ecke, in der Barbies sich auf einem Podest wie Models präsentieren und wo die neue Kollektion fein säuberlich aufgereiht im Regal steht.
„Kann ich sie hier lassen, ich will nur kurz drüben bei McKenzies schauen ob bei deren Bestellung meine neue Bluse dabei ist.“
„Aber sicher doch, ich werde ihren solang Tee warm halten.“
„Danke Mrs. Scott.“
Als sich die Tür öffnet und die junge dunkelhaarige Frau das Spielwarengeschäft verlässt, wendet sich Mrs. Scott der kleinen Kimberly zu.
„Na junge Dame, hast du schon was gefunden?“
Wie gebannt starrt Kimberly mit offenem Mund und glänzenden Augen auf den viereckigen, durchsichtigen Plastkarton in dem man ein großes weißes Pferd eingesperrt hat. Es trägt rosafarbenes Zaumzeug und hält den Kopf stolz nach oben. Seine Ohren sind aufgestellt und es blickt aufmerksam und erwartungsvoll in Richtung Kimberly.
„Ist heute mitgekommen, willst du es ansehen?“ Lächelnd verschwindet die schlanke Lady hinter einem Vorhang und als sie zurückkommt trägt sie das weiße Pferd ausgepackt in ihren Händen.
Immer noch in ihrer Starre stehend streckt Kimberly ihre Arme in Richtung des weißen Barbie-Pferdes aus. Als sie es in Händen hält, berührt sie fasziniert den weißen Schweif, der zum ersten Mal nicht aus Plaste, sondern aus echtem Haar ist.
„Wiiiiiiihh!“
Mrs. Scott beobachtet voll Freude das hübsche Mädchen mit den süßen Zöpfen. Sie war die Tochter, die sie sich immer gewünscht hatte. Seit Kimberly und ihre Mutter zum ersten Mal in ihrem Geschäft waren, war sie fasziniert von den großen braunen Augen des Mädchens, die so viel Begeisterung ausstrahlten, wie nur Kinderaugen dies zu vermögen scheinen.
Als Kimberly den wiehernden Ansporn der netten alten Dame hört, kichert sie ein fröhliches Kinderlachen und bringt das weiße Spielzeug in der Luft zum Galoppieren. Auf und nieder bewegt sie schöne Tier, solange, bis sich das glänzende Haar bewegt.
Wäre dieses Pferd ihr eigenes, könnte sie ihre Lieblingsbarbie nehmen und diese darauf reiten lassen, dachte Kimberly begeistert. Zwar hatte sie das Pferd schon öfter in Mrs. Scotts Katalogen gesehen, doch es in den Händen zu halten brachte ihre kleine Welt ins Wanken.
„Na los komm, setz dich doch, ich habe dir Pfefferminztee gekocht und wenn deine Mum kommt, dann reden wir mit ihr, vielleicht schenkt sie dir das Barbie-Pferd.“
„Ja, gleich, ich gehe Mum holen, sie muss das sehen, ich bin gleich zurück.“
„Aber Kimberly, die Straße ist gefährlich!“
Doch auch dieser Ausruf der besorgten Mrs. Scott hilft nichts mehr. Die kleine Kimberly legt das Pferd auf einen mit roter Sitzfläche bezogenen Stuhl und rennt freudestrahlend in Richtung der großen Tür. Mit ausgestreckten Armen erfasst sie die große Klinke und sieht durch die Scheiben in der Tür und durch das große Schaufenster der Boutique auf der anderen Straßenseite ihre Mum, die mit dem Verkäufer redet.
Die alte Mrs. Scott war durch die Kinder zwar immer jung geblieben, doch ein so fideles Mädchen konnte sie nicht einholen. Sie hatte geschwollene Finger und ihre Knöchel wollten auch aus den Schuhen platzen. An manch einem Tag hatte sie Angst, dass Kinder sich vor ihr ekeln konnten, doch die lieben Kleinen liebten sie. Vorallem Kimberly. Kimberly, die wie eine Tochter für sie und ihrem Mann war und wenn beide einmal nicht mehr wären, würde Kimberly einen Brief in ihrem Postkasten finden der ihr das Geschäft mitsamt den Einnahmen überschreibt, die in all den Jahren zu einem fünfstelligen Betrag wachsen werden. Kimberly würde dann eine junge Frau sein und verheiratet. Sie wird den Laden weiterführen, trotz der Trauer, nach dem Tod von Mr. Scott auch die geliebte alte Dame zu verlieren.
„Muuum, Muuum!“ aufgeregt rufend steigt Kimberly hastig die drei Stufen bis zum Bürgersteig hinunter. Mit nur fünf Schritten ist sie an der Bordsteinkante und mit einem Satz auf der Straße.
„Muuum!“
Im Laden auf dessen großen Fensterscheiben „McKenzies“ geschrieben steht, dreht sich ihre Mutter erstaunt um. Sie reißt den Mund auf drückt dem Verkäufer beiläufig die Bügel mit verschiedenen Blusen darauf in die Hand und wendet sich stolpernd der Tür zu. Ihr Mund öffnet sich doch Kimberly versteht nicht, was ihre Mum ihr zurufen will. Der Verkehrslärm ist ihr einfach zu laut und so rennt sie ihrer Mumy einfach ein Stück entgegen. Auch der junge Verkäufer mit den schwarzen zurückgekämmten Haaren und der großen krummen Nase registriert nicht, dass die neuen Sachen nun auf dem Boden liegen (Diana hatte seine Hände nicht erreicht als sie ihre Hand mit den Bügeln ausstreckte und diese achtlos aus der Umklammerung durch ihre Finger löste).
Er setzt den ersten Schritt an, um Kimberlys zu Tode erschrockenen Mutter zu folgen, während er auf dem Bürgersteig der anderen Seite Mrs. Scott zu Fall kommen sieht, die scheinbar mit ihren kaputten Beinen die Treppenstufen verfehlt hatte. Die alte Frau prallt auf den Bürgersteig, rührt sich jedoch gleich wieder und sieht mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
Als der junge Mann im Türrahmen steht hört er das laute Quietschen zweier Autobremsen. Er sieht, wie das kleine hübsche Mädchen mit den akkurat geflochtenen Zöpfen und einem Lachen auf den Lippen mit ausgestreckten Armen zu seiner Mum läuft.
Das Lachen von Kimberly verstummt jedoch, als sie, mitten auf der Fahrbahn stehend in die Richtung schaut, in die ihre Mutter mit beiden Händen gestikuliert.
Diana Jones springt auf die Straße und rennt ihrer Tochter entgegen. Die drei Meter die sie trennen bilden eine Schlucht zwischen Mutter und Tochter und als das laute Quietschen einsetzt, dass die gekreischten „Stop“-Rufe von Kimberlys Mutter übertönt, fängt das Mädchen an zu weinen. Sie rührt sich nicht mehr von der Stelle, streckt jedoch immer noch energisch die Arme in Richtung ihrer Mum aus. Diese löst sich aus ihrer Starre, in die sie verfallen war, als sie versucht hatte, den Autofahrer auf das Kind aufmerksam zu machen. Sie macht drei Sätze auf ihre Tochter zu, greift dieser unter die Arme, zieht sie mit einem Schwung an sich und hält eine Hand nun schützend auf Kimberlys Kopf und drückt diesen in ihre Halskuhle während sie mit der anderen Kimberlys Körper abstützt.
Mrs. Scott, die sich wieder aufgerichtet hatte starrt wie gebannt auf das rote Auto das in Richtung der beiden kleinen Menschen auf der großen Straße rutscht. Ihre Beine schmerzen und in ihrem Kopf hallt das Quietschen der Reifen auf dem Asphalt wieder. Das rote Auto kommt nur einen Fuß weit von Diana Jones zu stehen, die ihre Tochter aufgelöst und mit aller Kraft an sich drückt. Sie sieht die Tränen in Diana Jones’ Augen aufsteigen und das geschockte Gesicht der kleinen Kimberly wird sich ihr restliches Leben lang in ihr Gehirn einprägen. Kimy, die eben noch so euphorisch gelacht und in der Luft die Bewegungen eines galoppierenden Pferdes nachgeahmt hatte.
Der junge Verkäufer tritt aus seiner Ladentür und wendet seinen Blick von den wie zu Staturen erstarrten Menschen ab, die wie durch ein Wunder auf der Straße stehen, nur ein paar Zentimeter von einem roten Mercedes entfernt, dessen Stern sich in den Magen des kleinen Mädchens gebohrt hätte.
Als der blaue Pick-Up in den Mercedes prallt schlägt dessen Fahrer mit dem Gesicht auf dem Lenkrad auf. Als er aufblickt ist seine Nase blutig und scharlachrot, er öffnet hektisch die Tür seines Fahrzeugs und läuft verstört auf die Frau zu, die auf die Straße gerannt war um ihr Mädchen zu retten.
Das Mädchen, dass eben noch in der Luft die Linien einen galoppierenden Pferdes nachgezeichnet hatte und nun von einem Schutzengel auserkoren war, auf dieser Straße in den Händen ihrer Mutter zu sein und so viel Liebe wie noch nie in ihrem Leben zu spüren.
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