Kinder der Sonnenblume
Kinder der Sonnenblume
Frau Poelske wird von neuen Hausbewohnern gewöhnlich für die Hauswartsfrau gehalten, obwohl es in der kleinen Wohnanlage eigentlich keinen Hauswart gibt. Aber jeder Handwerker, jede verirrte Post, jeder Klatsch und jede Beschwerde findet den Weg unweigerlich zu Frau Poelske. Vielleicht liegt es an der Art, wie sie die Sonnenblumenkerne, Reste des Vogelfutters der alten Frau Haak, mit angewidertem Gesicht vom Vorgartenweg kehrt, oder wie sie die Hände auf den Besen abstützt und ruft:“Bitte das Gartentor schließen, der Herr!“ und nach oben zu den Fenstern gewandt:“ Steht doch schließlich dran!“. Wenn sie die Messingknäufe im Treppenhaus wienert oder dort die Blumen gießt, putzen dich die Hausbewohner artig die Schuhe auf der Matte ab, die sie der Gemeinschaft gespendet hat.
Frau Haak wohnt schon länger als die Poelskes im Hause, über sechzig von ihren siebenundachtzig Lebensjahren. Sie nimmt sie sich die Freiheit, Frau Poelskes Vorwürfe zu ignorieren, wenn sie sommers wie winters die Vögel auf ihrem Balkon füttert, obwohl die Reste nicht nur den Weg sondern auch die Fensterbretter der Poelskes unter ihr beschmutzen.
Dennoch helfen diese ihr. Besonders in der letzten Zeit, seit Frau Haak andeutet, dass sie wohl nicht mehr lange leben wird. Herr Poelske schnauft mit den Alditüten zu ihr hinauf und wenn die Alte morgens nicht aufstehen mag und auf kein Klingeln reagiert, so nimmt Frau Poelske den Schlüssel unter dem Blumentopf im Hausflur hervor und sieht nach ihr. So ist es verabredet, aber die Poelske beklagt sich gern bei den Nachbarn. „ Wir tun unser Bestes, aber sie wird immer schlimmer...Letzte Nacht ist ihr die Wärmflasche ausgelaufen. Das nasse Zeug musste in die Waschmaschine, alles neu bezogen werden.Die Putzhilfe kommt ja erst morgen. Jetzt will sie eine neue Flasche“. Frau Poelske wedelt mit der Gummiflasche.“Wo krieg ich sowas nun her?Früher gab’s das bei Eisen-Meyer.“
Eisen-Meyer gibt es nicht mehr. Um das Fahrgeld zu sparen ist Frau Poelske drei U-Bahnstationen gelaufen und nun? Über dem alten Laden steht auf einem handgemalten Schild:“ Buchoase“ und darunter: Inhaberin: Elke Danowski. An der Seite des Schaufensters ist noch in verblassten Buchstaben „Haushaltswaren“ zu erkennen. Es weht ein scharfer Wind. Unschlüssig steht die Frau vor dem Schaufenster. Auf dunkelrotem Samt sind Bücher, Messingmünzen, Perlen und Schälchen mit Kräutern dekoriert. Sie kann damit nichts anfangen. Ihre Nase ist schon taub vor Kälte. Sie öffnet die Tür und betritt den Laden.
Es gibt nicht viele Bücher, nur zwei schmale Regale an der Rückwand neben einer Tür mit Samtvorhang. In der Mitte des Raums steht ein niedriger Tisch mit unterschiedlichen Sitzgelegeheiten. Der Ladentisch ist eine Glasvitrine mit Kristallen, Ketten und Anhängern darin. Oben drauf steht ein Vogelkäfig aus Bambus. Er ist leer.
Kein Mensch ist zu sehen. Frau Poelske wendet sich zum Gehen, da fragt jemand hinter ihr:
„Was wünschen, bitte?“
Sie dreht sich um. Ein winziges Männchen von asiatischem Aussehen hockt auf dem Tisch, ein Miniaturwesen im grauen Anzug, die nackten Füße in Flip-Flops baumeln von der Tischkante, grau-schwarze Haaresind zu einem dünnen Pferdeschwanz gebunden.
Frau Poelske ist so perplex, dass sie ihre Redeferigkeit im Stich läßt. Sie räuspert sich. „ Eisen-Meyer?“ bringt sie schließlich hervor.
„Keine Ahnung, keine Ahnung“, zwitschert der kleine Mann. „Aber bitte, Platz nehmen!“ Er wedelt mit dem Jackenärmel Staub vom Sessel. Dann zaubert er eine Keksdose unter dem Tisch hervor.
„Bitte nehmen“, trällert er und hält die Dose mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Frau, als wolle er eine Katze anlocken. Vorsichtig kommt sie näher. In der Dose sind Sonnenblumenkerne.
Das Männchen kichert, zieht die Dose mit einem Ruck zurück und balanciert sie auf drei Fingern, wie ein Kellner . Über dem Tisch kippt er sie mit Schwung um, so dass die Kerne über die Glasplatte schlittern und hüpfen.
„Bitte näher treten! Alte chinesische Weisheit. Alles, was Sie wollen, bitte fragen.“ Kinder von Sonnenblume antworten.“
Ersthaft sieht der Kleine die Frau an, kreuzt die Arme und wartet.
Im Laden ist es sehr warm. Frau Poelske schwitzt in ihrem Mantel. Die Kerne auf dem Tisch glänzen als wären sie poliert. Sie knöpft den Mantel auf und setzt sich. Den Beutel mit der Wärmflasche hängt sie an den Stuhl.
„Wie alt bin ich?“ fragt sie herausfordernd.
„Keine gute Frage. Aber egal.“ Er schiebt die Kerne zu einem Häufchen zusammen, nimmt dann einige in beide Hände, schüttelt sie und läßt sie auf den Teppich fallen. Dann springt er vom Tisch, hockt sich nieder und betrachtet eine Weile das Ergebnis. Dabei spitzt er die Lippen und fiept leise.
Schließlich gibt er gleichmütig bekannt: „58“.
„Ha!“ schreit Frau Poelske. Stimmt nicht. 57!“
„Ai, in Deutschland sagen 57 aber in China sagen wir Jahr in Leben. Sie in Jahr 58!“
Er springt auf den Stuhl, hockt sich auf die Lehne und ist jetzt mit ihr auf Augenhöhe. „Jetzt richtige Frage bitte!“
Frau Poelske zieht den Mantel aus. Sie rückt ihren Stuhl näher an den Tisch. Sie beugt sich vor: „ Gut. Dann sagen Sie mir, wem meine Nachbarin ihr Geld aus dem Verkauf der Wohnung vererbt.“
Der Chinese pfeift schrill. „Die Frage für andere Person. Geht nicht. Oder muss Gegenstand von die Person hier sein.“
„Na dann...“ hastig und verlegen steht die Frau auf, greift Mantel und Beutel. Da fühlt sie die Gummiflasche im Beutel. Sie zögert. Hat sie nicht ein Recht darauf zu erfahren, was von den Andeutungen der Alten zu halten ist? Sie setzt sich wieder und holt die Wärmflasche hervor.
Der Chinese wendet die Flasche hin und her. „Schöes Ding“, sagt er und füllt einige Sonneblumenkerne hinein. Er hüpft vom Stuhl, nimmt den Flaschenhals in den Mund und schüttelt das Ding hin und her. Dann schüttet er die Kerne wieder auf den Boden. Sie blden einen kleinen Kegel.
„ Aha! Gutes Geld. Bald für gute Frau und guten Mann.“
„Ist das sicher?“
Kinder von Sonnenblume lügen nicht.“
Als Elke Danowski nach ihrer Mittagspause zu ihrem Buchladen zurückkehrt, findet sie die Tür unverschlossen vor. Aber sie hatte sie doch zugeschlossen...oder? Nachdenklich tritt sie in den Laden. Zwitschern begrüßt sie. Auf dem Käfig hockt ein grau-schwarzer Vogel und blickt sie mit geneigtem Kopf an. Vor ihm liegt eine Gummiwärmflasche auf dem Tresen.
Elke nimmt sie in die Hand.“Wo kommt das denn her?“ Der Vogel hüpft hin und her, schlägt mit den Flügeln und pfeift.
„Ruhig, Jao“, sagt Elke.„Man kann dich nicht allein lassen, ohne dass du was anstellst. Und dein Futter hast du auch überall herumgstreut“.
Der Vogel hüpft in den Käfig und schließt mit dem Schnabel das Türchen. Elke hört ihn hinter sich kichern, als sie die Wärmflasche in den Mülleimer wirft.
Auf dem Nachhauseweg gönnt sich Frau Poelske eine U-Bahnfahrt und kauftim Bahnhof noch ein Alpenveilchen für Frau Haak. Sie rennt fast nach Hause und vergisst das Gartentörchen zu schließen. Als sie vor Frau Haaks Tür steht, fällt ihr ein, dass sie keine neue Wärmflasche gekauft hat. Ärgerlich eilt sie die Treppe wieder hinunter.
Frau Haak steht im Morgenrock hinter der Gardine und wundert sich. Was ist mit der Poelske los? Rennt raus durchs offene Gartentor.
Kopfschüttelnd setzt sich die alte Frau wieder an den Küchentisch. Ein wenig zittert ihre Hand, als sie ihre Unterschrift unter die Überweisung setzt. 130.000 Euro an den internationalen Vogelschutzbund, da bleiben immer noch 10.000 auf dem Konto für ihre Beerdigung. Gleich morgen kann der Poelske den Brief zur Bank bringen. Auf dem Rückweg könnte er noch noch neue Sonnenblumenkerne kaufen.