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Kieselsteine
Bei Gewitter saß Oma in der Küche, Koffer auf dem Schoß, Hände auf dem Koffer. Die Finger fest ineinander verschlungen. Weiße Knöchel unter rissiger Haut, hier und da kleine Kratzer von den Stachelbeeren im Garten. Donner rollte über das Haus, hinüber zum Stall, verlor sich im Feld.
Sie saß nur da und wartete auf den Knall.
Ich sehe die Szene wie im Film.
INNEN – KÜCHE - TAG
Nahaufnahme des Gesichts meiner Oma. Zwischen den Augenbrauen eine steile Falte. Der Mund ein feiner Strich.
Manchmal erinnert sie mich an einen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. So schmal. Auch ein wenig plusternd, wenn sie sich aufregt.
Langsam zieht sich die Kamera aus der Küche zurück. Gleitet den Flur entlang und durch die Haustür hinaus. Regen trommelt aufs Gehäuse.
SCHNITT
Fette Tropfen klatschen in braune Pfützen. Die Kameradrohne schwebt ein paar Meter über der Einfahrt. Sie verweilt kurz, fängt den Blitz ein, der sich im dreckigen Wasser spiegelt. Dann fliegt sie Richtung Himmel, gibt den Blick frei, Stück für Stück, auf den Hof meiner Großeltern.
Er liegt auf der rechten Seite der Dorfstraße, gleich hinter der kleinen Brücke beim Ortseingang. Früher stand hier nur ein schmales Haus, der Laden meiner Urgroßeltern. Sie verkauften Dinge, die man gebrauchen konnte. Die verfügbar waren.
Hundert Jahre, meine Familie, genau hier.
Irgendwann bauten sie Stallungen für Schweine und Hühner. Sie beackerten das Land, hauptsächlich Kartoffeln und Kohl. Der Laden wurde zum Wohnhaus, dahinter entstand der Obst- und Gemüsegarten mit dem Gewächshaus am Ende der Beete.
Auf diesem Hof ist Opa geboren.
Er war mal ein Baby.
Ein simpler Satz, den ich selten kapiere.
Der jüngste von vier Söhnen. Von seinem Vater hat er nicht mehr viel mitbekommen. Kurz nach Opas Geburt wurde mein Urgroßvater eingezogen. Landete in russischer Kriegsgefangenschaft und kehrte 1948 schwer krank zurück. Er schlürfte rohe Eier und Rotwein. Den ganzen Tag. Dann starb er. Gleich dort in dem Haus, hinter der kleinen Brücke rechts.
In meiner Erinnerung gibt es nur eine Straße, die den Ort durchquert, gesäumt von Gehöften und Feldern. Keine Abzweigungen, Seitenarme oder verwinkelte Gässchen. Eine Straße. Ein winziger Strich auf der Landkarte mit kaum sichtbaren Punkten auf beiden Seiten. Nach einer langgezogenen Linkskurve das durchgestrichene Ortsschild. Ab hier ewige Alleen, flackerndes Sonnenlicht zwischen Baumstämmen.
Bis zur Ostsee.
Das Gittertor vor der Hofeinfahrt ist geschlossen.
Mein Onkel hatte damals Stress mit ein paar Typen aus der Schule. Sie standen auf der anderen Straßenseite und brüllten zu ihm herüber, er solle sich nur vom Hof trauen, dann würden sie ihm schon zeigen. Mama hörte den Lärm bis in die Küche und flitzte hinaus. Sie schrie, lasst meinen Bruder in Ruhe, ihr Doofköppe, aber keiner der Vierzehnjährigen beachtete sie. Da öffnete sie das Tor, bewaffnete sich mit Kieselsteinen, die am Wegrand lagen, und warf. Immer wieder von neuem füllte sie die kleinen Hände und schleuderte ihre Ladung auf die Gegner. So lange, bis die Halbstarken sich verzogen, wenn auch eher deshalb, weil mein Opa schließlich über die Einfahrt gestiefelt kam und polterte, dass jetzt hier ma Schluss is.
Danach hat er meine Mutter geschimpft. Du kannst doch nich mit die Steine auf die Jungs werfen, Lüdde!
Doch, konnte sie.
Konnte sie sehr wohl.
Seit ich diese Geschichte kenne, funkelt meine Mutter bunter. Welche Farben gibt es da noch? Bevor sie meinen Vater traf, bevor ich in ihr heranwuchs und danach mein Bruder – als es nur sie gab, ohne uns.
Ich müsste mich bücken, um das Tor rechts aus der Verankerung im Boden zu heben und es aus dem Weg zu schieben.
Opa hat das immer gemacht, wenn wir zu Besuch kamen. Ich bin vom Rücksitz aus dem Auto geklettert, durch die Lücke geschlüpft, während Opa noch am Schieben war, und den schmalen Steinweg zum Haus gerannt. Oma stand auf der Schwelle, oft mit ihrer Gartenschürze um die schmalen Hüften, und beugte sich mir entgegen.
Meine Mutter hat mir die Geschichte erzählt.
Die von Oma, dem Koffer und dem Gewitter.
Seitdem kriege ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Wie sie dasitzt, die Schultern hochgezogen. Bei jedem Blitz zuckt sie zusammen. Ihr Blick hetzt durchs Fenster raus in den Garten, zurück in die Küche, hinauf zur Zimmerdecke, dann zur Tür. Wenn er einschlägt, müssen wir sofort raus, sagt sie.
Die Tür zum Wohnhaus steht offen. Dunkel liegt der Flur vor mir. Braune Fliesen, auf denen Stiefel stehen. An der Garderobe hängt Opas schwerer Mantel, daneben Omas Regenjacke, nur halb so groß.
Oben haben wir geschlafen, mein Bruder und ich. Die schmale Treppe hinauf, unterm Dach zwei schmale Betten, so weich, dass ich Angst hatte, ich würde im Schlaf verschluckt.
Jedes Mal, wenn ich am Kopf der Treppe vor der Tür zur Kammer stehe, will ich den Riegel zur Seite schieben. Opa hat die Fleischbrocken dort aufgehängt. Ich lege die Hand aufs Holz, warte, rieche. Nur, wenn Opa bei mir ist, öffne ich die Tür. Ich bleibe auf der Schwelle stehen, während er drinnen das Fleisch in Augenschein nimmt, mir erklärt, worauf man beim Räuchern achten muss. Manchmal nehmen wir ein Stück mit hinunter, manchmal nicht.
Vom Flur aus geht es links ins Bad. Ich laufe geradeaus. Eine Stufe führt in die Küche. Vor dem Fenster steht der schwere Tisch. Durch dünne Gardinen kann man den Garten sehen. Am liebsten war ich im Gewächshaus, wo Oma mit mir Tomaten gepflückt hat. Ich hab immer am Strunk gerochen, hab dabei die Augen geschlossen. Um mich herum warme und dicke Luft. Oma hat gelacht. Du bist schon ein Persönchen, hat sie gesagt.
Jetzt sehe ich sie da sitzen, an dem Tisch vor dem Fenster, auf ihrem Schoß der Koffer. Drei Mal hat sie erlebt, wie der Blitz bei den Nachbarn einschlug, ein Mal war das Haus noch zu retten, zwei Mal nicht. Meine Mutter ist bei ihr in der Küche, aber sie denkt, Mama übertreibt. Sie rutscht auf dem Stuhl hin und her, die Beine baumeln in der Luft. Was ist da drin, fragt sie. Alles, was wichtig ist, sagt Oma. Draußen prasselt der Regen, drückt Feuchtigkeit durch Ritzen, klamm und erdig.
In meinem Geldbeutel steckt ein Foto.
Ich dachte, ich hätte es verloren, beim Auszug, nach der Trennung, habe stundenlang Kisten durchwühlt. Bis ich es wieder in den Händen hielt. Auf dem Bild ist meine Mutter sechzehn. Sie lehnt an einem Felsen, das linke Bein angewinkelt.
Ihr Sommerkleid türkis, der dünne Stoff bauscht sich auf bei jedem Lufthauch. Hinter ihr unbestimmtes Grün, vielleicht eine Wiese, ein Flussufer. Gelbe Sonnenstrahlen, fein und pastellig, fallen auf ihr Gesicht.
Ich bleibe an ihrem Blick hängen. Fordernd, trotzig. Sie hat früher oft den Mund gehalten, genau wie Oma. Weil die Stimme meines Opas so gepoltert hat, sie sich dem Lärm nicht entgegenstellen konnten. Ich erkenne beide Frauen in den Zügen meiner Mutter, ihrer Haltung, dem sanften Mund. Wie viele Worte in ihrem Kopf stecken. Wie sie darauf drängen, ausgespuckt zu werden.
Manchmal ist da ein bitterer Geschmack, wenn Mama von Opa spricht. Von der Härte seines Gangs, der Wucht, mit der er mit einem Satz die Familie zum Schweigen brachte. Ich spüre ihre Wut, auch wenn sie vorüber ist. Als sie ein junges Mädchen war, hat Opa Oma betrogen. Vielleicht sogar mehrfach - was Mama weiß, ist vage.
Mein Opa, ein ordinärer Betrüger.
Ein Mann, der Fehler gemacht hat.
Mit dreizehn färbe ich mir die Haare kastanienbraun, trage schwarzen Nagellack und höre Garbage. Beim Weihnachtsbesuch steige ich aus dem Auto, zusammengepresster Mund, only happy when it rains. Ich lasse mich von Oma und Opa umarmen, schweige bei Kaffee und Kuchen, verkriech mich unterm Dach.
Vor der Bescherung gehen wir spazieren. Ein langer Feldweg, vorbei an dem Hof meiner Uroma.
Drei Männer hat sie verloren und eine Tochter. Wenn ich an ihr Gesicht denke, durchzogen von tiefen Falten, sehe ich nie Groll. Keine scharfen Züge, kein beißendes Wort. Sie war dem Leben nicht böse. Oma hat das von ihr geerbt. Oma, die keine Kindheit hatte, als älteste von drei Schwestern. Ich staune jedes Mal über ihre zierlichen Hände. Während ich hinter der Turnhalle mit dem Kerl aus der Neunten rumknutsche, hat meine Oma den Hof bewirtschaftet, die Kleinen versorgt, an der Seite meiner Urgroßmutter auf den Feldern geackert.
Heute verfällt das Haus. Bis sie neunzig war, fuhr Uroma jeden Tag mit dem Fahrrad ins Dorf. Zum Einkaufen und Schnacken. Ich hab sie nur ein paar Mal gesehen. Hab sie kaum verstanden, so platt war ihr Deutsch.
Opa und ich fallen ein Stück hinter den anderen zurück. Ich seh zu ihm rüber, kicke Kieselsteine ins Gras. Er legt mir den schweren Arm auf die Schulter und sagt, is schon gut. Du machst dat schon.
Ich stelle mir gern vor, wie er heute sagen würde, wenn dat Kind keine Lüdden will, dann is dat so. Und wenn dat Kind erstma die Schnauze voll hat von die Männer, dann hat se die Schnauze nun ma voll. Ohne in Frage zu stellen, was andere ständig hinterfragen.
Ich drehe der Küche den Rücken zu, verlasse das Haus und überquere den Hof. Die Tür zum Schweinestall klemmt. Ich zerre sie auf, betrachte die leeren Boxen. Es riecht noch immer nach ihnen, obwohl Opa die Tiere schon lange verkauft hat. Rechts führt eine zweite Tür hinaus zu den Kaninchen.
In einem Sommer bin ich früh morgens hierher geschlichen. Die ganze Nacht habe ich mich auf die ersten Geräusche des Tages gefreut, darauf, dass der Himmel endlich sein Schwarz verliert, damit ich zu den Kaninchenbabys zurück kann. Opa hatte sie mir am Abend zuvor gezeigt, winzige nackte Gestalten, die sich in meiner Hand versteckten.
Jetzt, ein paar Stunden später nur, sind sie weg. Ich öffne den Käfig, greife vorsichtig hinein, hebe die Mutter hoch, spähe in die Ecken.
Nichts.
Im Haus klappert Geschirr. Ich presche in den Flur, Opa, die Babys sind verschwunden, warum sind die nicht mehr da? Er sagt, dass sie krank waren. Dass ihre Mutter sie deshalb gefressen hat. Ich kann nicht fassen, wie ruhig er ist. Renne erneut zum Gehege, suche in den anderen Käfigen nach den Kleinen. Das kann doch nicht sein, sage ich, als Opa nach draußen kommt. Wieso hat sie das gemacht? Sie ist doch ihre Mama. Und warum macht dir das überhaupt nichts aus? Er sieht zu mir herunter, ich zu ihm hinauf, wische mir Tränen aus den Augen. Lüdde, so is dat Leben, sagt er und legt mir seine große Hand auf den Kopf.
Die Grauzonen.
Bloß kurz sehe ich sie in diesem Moment. Starre in den Käfig. Ich will nicht akzeptieren, dass. Ich will nicht begreifen, warum. Es macht mich stinksauer, dass in mir drin etwas sagt: Ist okay.
Ich verlasse den Stall, überquere den Hof und steige über das niedrige Tor auf die Dorfstraße. Deutsche Soldaten haben hier die Kriegsgefangenen durchgetrieben, als mein Opa ein kleiner Junge war.
Ein paar Mal habe ich versucht, mit meinen Großeltern über den Krieg zu sprechen, über die Zeit danach. Kind, das ist lange her, hat Oma gesagt. Ihre Lippen haben gezuckt. Opa hat aus dem Fenster gesehen, die Hände über dem Bauch gefaltet und geschwiegen.
Die Geschichte von den Kriegsgefangenen kenne ich nur, weil Opa sie meiner Mutter erzählt hat. Erst letztes Jahr ist das gewesen. Ich hab ihn noch nie so erlebt, hat sie gesagt. Er hat sich furchtbar geschämt.
Die Gefangenen waren gefesselt, an Hand- und Fußgelenken. Mit Stricken oder Ketten, Opa kann sich nicht mehr genau erinnern. Sie liefen gebeugt, Augen tief in den Höhlen, fahle Haut, abgezehrt bis auf die Knochen. Opa und seine Brüder standen hinterm Tor, sahen sie schon von Weitem kommen und rannten zum Komposthaufen. Als der Zug den Hof passierte, warfen die Jungs den russischen Männern verfaulte Kartoffeln zwischen die Beine. Lachten darüber, wie sie strauchelten. Die Männer bückten sich, sammelten die Knollen auf und bissen hinein. In rohe, stinkende Kartoffeln. Da haben wir nicht mehr gelacht, hat Opa gesagt. Er lief ins Haus, versteckte sich in der Küche, bis sie hinter der kleinen Brücke verschwunden waren.
Der Zug fährt in den Bahnhof ein.
Mama wartet auf dem Vorplatz, winkt und zieht an ihrer Zigarette. Möwen fliegen über unsere Köpfe, der Wind trägt das Meer umher, Algen und Salz.
Ein Taxi fährt uns aus der Stadt. Ab hier ewige Alleen, flackerndes Sonnenlicht zwischen Baumstämmen.
Bis zum Hof meiner Großeltern.