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Khan
Im Mondlicht wirkte Lasses Gesicht älter. Die Falten auf seiner Stirn und der hektische Blick gaben Tobias das Gefühl, mit einem Fremden im Auto zu sitzen.
Lasse stellte den Motor ab und löschte das Licht. Jetzt waren sie unsichtbar.
„Wir gehen da vorne um die Ecke“, sagte er und deutete die Straße entlang. „Dann sind es noch drei Häuser. Wenn wir rennen, brauchen wir höchstens eine Minute.“
Anspannung drang aus ihren Körpern und hing als Schweißgeruch in der Luft. In seinem Kiefer spürte Tobias sein Herz schlagen. Am liebsten wäre er umgekehrt, doch dafür war es lange zu spät.
„Verdammte Bonzengegend“, murmelte Lasse. „Wird Zeit, es denen mal heimzuzahlen.“
Tobias antwortete nicht.
„Was ist los?“, fragte Lasse. Es wirkte übertrieben entspannt, als versuche er, seine Nervosität zu überspielen. Selbst für ihn war das hier etwas Neues. „Schiss?“
„Geht so. Bin froh, wenn wir es hinter uns haben.“
„Du solltest dich freuen. Wir werden uns richtig amüsieren.“
So siehst du aus, dachte Tobias. „Wir machen es so, wie wir besprochen haben. Keine Überraschungen. In Ordnung?“
„Keine Überraschungen“, wiederholte Lasse, und Tobias versuchte, hinter seinem Gesicht eine Regung zu erkennen.
„Wir bleiben höchstens zwanzig Minuten drin. Höchstens. Wenn was passiert, womit wir nicht rechnen, hauen wir auf der Stelle ab.“
Eine Wolke schob sich vor den Mond, und Lasse verschwand in der Finsternis. „Was soll schon passieren? Das sind zwei alte Säcke. Die sind wehrlos. Die haben nicht mal einen Hund.“
Und weil Tobias nicht an böse Vorahnungen glaubte, schob er das Gefühl, das seine Brust zusammendrückte und ihm den Atem raubte, auf seine Unruhe.
„Also“, sagte Lasse und zählte an seinen Fingern ab, „erstens, sie sind alt. Und schwach. Der Mann ist außerdem fett. Zweitens, sie sind allein. Und drittens, sie schlafen jetzt und rechnen nicht mit uns. Es gibt also keinen Grund, nervös zu sein.“ Mit diesen Worten zog sich Lasse seine Stoffmaske über das Gesicht. Tobias zögerte, doch als er an seinen Vater dachte – ertrunken im eigenen Erbrochenen, aufgedunsen und stinkend – bedeckte auch er sein Gesicht mit einer Maske. Sie war warm und kratzig.
Lasse legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ganz ruhig. Diesmal sind wir diejenigen, die über Schicksale entscheiden.“
Da Tobias Lasse kannte, machte ihm genau das Angst, doch ein weiteres Mal wollte er ihn nicht an ihren Plan erinnern, wollte nicht wie ein Feigling wirken.
Geräuschlos stiegen sie aus dem Wagen und bewegten sich wie Schemen durch die sternenlose Nacht.
Jemand rüttelte an Georgs Schulter. Heftig.
Renate? Wie ein Blitz schoss dieser Gedanke durch sein Bewusstsein, und sofort war er wach.
Er riss die Augen auf, wollte sich erheben, doch etwas drückte ihn zurück ins Kissen und presste sich auf seinen Mund. Ein Schatten schwebte über ihm, kalter Stahl berührte seine Kehle.
„Ein Mucks, und du bist tot. Verstanden?“
Er hörte jedes Wort, und weil die Gestalt über ihm keinen Mund besaß, kam es ihm so vor, als habe die Dunkelheit selbst gesprochen. Einen Augenblick dachte er an den Schwarzen Mann, von dem er seinen Kindern erzählt und den er sich immer ohne Gesicht vorgestellt hatte.
Neben sich hörte er das gedämpfte Stöhnen von Renate, und aus den Augenwinkeln heraus erkannte er schwarze Umrisse, die sich bewegten.
„Bist du wach?“
Die Stimme klang dumpf, und erst jetzt erkannte Georg, dass der Mund der Person, die zu ihm sprach, durch eine Maske bedeckt war.
„Bist du wach?“
Er nickte.
„Gut. Ich werde jetzt meine Hand wegnehmen. Wenn du schreist, schneide ich, und ich schneide tief. Verstehst du?“
Erneut nickte er, und als sich die Finger aus seinem Gesicht entfernten, schnappte er nach Luft. Sein Körper verkrampfte, und immer wieder atmete er stoßweise ein.
„Raus aus dem Bett.“
„Bitte, was wollen Sie?“ Das Sprechen fiel ihm schwer, seine Lungen gierten nach Sauerstoff.
Der Angreifer schlug ihm ins Gesicht, und Georgs Kopf schleuderte nach rechts. Neben ihm schrie Renate in die Hand ihres Peinigers. Übelkeit stieg in Georg auf, sein Blick verschwamm.
„Jetzt hör mir zu, du Arschloch. Ich will, dass du machst, was ich sage und keine Fragen stellst. Also steig aus dem Bett.“
Georg gehorchte. Als er die Decke zurückschlug, umschloss kalte Luft seinen Körper und ließ seine Benommenheit verschwinden.
„Hol sie raus“, sagte der Mann, an seinen Partner gewandt. Dieser riss Renate aus dem Bett, ohne die Hand von ihrem Mund zu nehmen. Sie weinte.
Der Angreifer packte Georg an der Schulter und stieß ihn nach vorne. „Wir gehen ins Wohnzimmer“, sagte er. „Du voraus.“
Georg stolperte in Richtung Flur, in dem Licht brannte.
Wie sind die hier reingekommen?
Fieberhaft überlegte er, ob er rennen sollte. Sicherlich hätte er den Vorteil, sich in seinem eigenen Haus auszukennen. Er könnte beispielsweise in das Badezimmer am Ende des Flurs flüchten und abschließen. Doch was dann? Da drin gab es kein Telefon – ein Fenster zwar, doch sie befanden sich im ersten Stock. Und was sollte aus Renate werden?
Wieder gab ihm der Maskierte von hinten einen Stoß. „Schneller.“
Georg spürte einen reißenden Schmerz in seinem rechten Knie, das ihm seit Jahren Probleme bereitete. Er stöhnte, humpelte allerdings weiter. Nein, an eine Flucht war nicht zu denken.
Sie erreichten die Treppe, und Georg drehte sich um. Mit dem Messer bedeutete ihm der Eindringling, nach unten zu gehen.
Was wollen die nur?
Der andere hielt seine Hand immer noch auf Renates Mund gepresst und schob sie vor sich her, trug sie beinahe.
Langsam schritt Georg die Treppe hinunter, beide Hände an das Geländer geklammert. Verschiedene Überlegungen zuckten durch seinen Kopf wie Lichtblitze bei einer Sportveranstaltung – vielleicht konnte er den Angreifer mit einem Gegenstand niederschlagen. Oder einen Herzanfall vortäuschen. Oder nochmals auf ihn einreden.
Er verwarf sämtliche Möglichkeiten, und die Erkenntnis über seine Hilflosigkeit schwächte ihn zusätzlich.
„Mach Licht an“, befahl der Maskierte, als sie unten angekommen waren. Georg gehorchte, und helles Licht durchflutete das Wohnzimmer und den angeschlossenen Essbereich.
Hätten wir doch nur die Rollläden oben gelassen, überlegte er, dann hätte man uns jetzt von draußen sehen können. Keine sehr wahrscheinliche Möglichkeit – die Uhr auf dem Kaminsims zeigte viertel nach drei.
Der Eindringling entfernte sich, holte zwei Stühle vom Esstisch und stellte diese – Lehne an Lehne – mitten ins Wohnzimmer.
„Ihr setzt euch jetzt da hin“, sagte er, „und haltet die Schnauze. Dann seid ihr auf dem besten Weg, die Nacht ohne Schmerzen zu überstehen. Klar?“
Der andere hatte Renate inzwischen losgelassen. Georg trat zu ihr und nahm ihre Hand, die noch stärker zitterte als seine eigene.
„Bitte, wenn Sie Geld wollen, wir haben -“
„Ich will“, unterbrach ihn der Mann, „dass ihr eure Ärsche auf diese verdammten Stühle setzt und das Maul haltet.“
Georg streichelte Renate über das Gesicht, gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Keine Angst, es wird alles gut“, flüsterte er. Dann traten beide zu den Stühlen und setzten sich Rücken an Rücken.
„Hände hinter die Lehne“, befahl der Maskierte. Anschließend zog der andere eine aufgerollte Schnur aus seiner Jackentasche und band die Handgelenke der beiden erst aneinander, dann zusätzlich an die Lehnen der Stühle. Renate stöhnte, und auch Georgs Schultern schmerzten. Die Schnur schnitt tief in seine Haut. Als sie verknotet waren, konnte er seine Arme nicht mehr bewegen.
„Gut“, sagte der Mann, der Georg sein Messer an den Hals gehalten hatte und die Kommandos gab. Er trat vor Georg.
„Wie heißen Sie?“
Georg überraschte die Frage. Er hatte erwartet, dass die beiden – jetzt, da er und Renate gefesselt waren – beginnen würden, das Haus zu durchsuchen.
„Was?“
Wieder schlug ihm der Mann ins Gesicht. Georgs Kopf knallte nach hinten und prallte gegen den seiner Frau, die erneut zu weinen begann.
„Ich sag es dir jetzt zum letzten Mal, du blöder Schwachkopf. Du machst, was ich sage. Wenn ich dir eine Frage stelle, dann antwortest du. Hast du das jetzt endlich verstanden? Also, nochmal. Wie heißen Sie?“
„Georg Kleinert“, antwortete Georg. Selbst unter der Maske konnte er das Grinsen des Mannes sehen.
„Sehr gut“, sagte er. „Geht doch. Wie alt sind Sie?“
„Sechzig.“ Etwas Warmes floss in seinen Mund, und er schmeckte Blut.
„Welchem Beruf gehen Sie nach?“
„Ich – ich bin Angestellter bei einer Bank.“
„Bei welcher Bank?“
„Bei der Deutschen Bank.“
„Und in welcher Funktion arbeiten Sie da?“
„Ich leite eine Filiale.“
Der Eindringling ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. „Und das scheint sich auch zu lohnen, wenn ich mich hier so umsehe. Sie scheinen vorzüglich zu leben – von dem Geld anderer Leute.“
Georg antwortete nicht. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust, seine Knie schlotterten so stark, dass sie aneinander schlugen.
„Nun, Herr Kleinert, ich teile Ihnen hiermit mit, dass wir gekommen sind, um Sie anzuklagen. Die Anklage lautet auf Zersetzung des gesellschaftlichen Friedens, unrechtmäßige Bereicherung durch Diebstahl an Staatsvermögen, Unterstützung eines kriminellen Finanzsystems und Mord.“
Mord?
Der Maskierte beugte sich hinunter, und zum ersten Mal konnte Georg ihm direkt in die Augen sehen. Es war, als blickte er in ein Schwarzes Loch.
„Und das Gute daran ist“, sagte der Fremde, „dass wir nicht nur Ankläger sind.“
Irgendwo tief in diesem Loch rotierte ein Wirbel, ein Sog nach unten.
„Denn wir sind gleichzeitig auch Richter und Vollstrecker.“
Endlich, endlich konnte er die Angst genießen.
Die kritische Phase – das Eindringen in das Haus und das Überwältigen der Bewohner – war geschafft, jetzt saßen der Fettsack und seine knochige Frau vor ihm, bewegungslos, ausgeliefert. Sie stanken nach Furcht; Schweiß und selbst Blut flossen über ihre Gesichter.
Ja. So hatte er sich das vorgestellt. Er, den sie normalerweise nicht einmal mit dem Arsch angesehen hätten, war zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden. Ihre einzige Qual, ihre einzige Hoffnung.
„Was sagst du jetzt, Kleinert?“, fragte er, den Augenblick auskostend. Die Maske störte ihn beim Sprechen, und er ärgerte sich, dass er kein Modell mit freiliegendem Mund gewählt hatte. Er stand leicht nach vorne gebeugt, da seine Blase entsetzlich drückte.
„Sprachlos? Das kenn ich von dir gar nicht.“
Kleinert schüttelte den Kopf. „Bitte, lassen Sie meine Frau aus dem Spiel. Lassen Sie sie gehen.“
„Um deine Frau geht es hier nicht. Wenn sie brav ihren Mund hält, passiert ihr nichts. Wir sind wegen dir hier, Kleinert. Du bist derjenige, der heute zur Debatte steht.“ Er hielt das Messer direkt vor Kleinerts Gesicht und empfand Genugtuung, als sich dessen Augen weiteten.
„Bitte, Sie haben doch gesagt, dass Sie uns nichts tun -“
„Nun, weißt du, manchmal ändert sich die Wahrheit eben.“ Kleinerts Frau stöhnte.
„Sie können Geld haben. Ich habe mehrere tausend Euro Bargeld im Haus. Und Schmuck. Wir haben Schmuck! Nehmen Sie den und gehen Sie.“
Lasse blickte ihn lange an. Aus all den Eindrücken, die von Kleinert ausgingen – seinem bebenden Körper, der zitternden Stimme, dem sauren Atem – versuchte er, die Angst zu filtern und in ihrer reinsten Form zu genießen. Schon immer faszinierte ihn das pure Wesen der Furcht.
„Weißt du“, sagte er irgendwann, „Leute wie du sind es gewohnt, sich rauszukaufen. Das kotzt mich bei euch Typen am meisten an. Immer glaubt ihr, alle Probleme mit Geld lösen zu können. Deshalb bringt es auch nichts, euch die Autos abzufackeln. Ihr kauft euch einfach Neue mit eurem vielen Geld. Und wenn ihr selbst keins mehr habt, holt ihr es euch bei denen, die sich nicht wehren können. Ist es nicht so, John-John?“
Er schaute zu Tobias. Dieser wirkte verkrampft, ungeduldig. Offenbar hatte er kein Gespür für die Quelle des Entsetzens, die sich vor ihnen auftat. „So ist es“, brachte er schließlich hervor.
„Und diese Leute saugt ihr aus, ihr nehmt ihnen alles weg, ihre Wohnungen, ihre Zukunft, und am Ende ihre Existenz. Und wenn sie nichts mehr als ihr Leben haben, seid ihr immer noch nicht zufrieden, ihr saugt und giert und wollt mehr, immer mehr. Bis sie euch auch ihr Leben lassen. Richtig, John-John?“
Diesmal gab Tobias keine Antwort, doch das hatte Lasse auch nicht erwartet. An seinem Blick erkannte er, dass er in Gedanken bei seinem Vater war.
„Und was macht ihr mit all dem Geld, das ihr zusammenrafft? Ihr kauft euch beschissene Häuser, schottet euch ab, versteckt euch vor denen, die ihr bestohlen habt. Und dann leistet ihr euch unnütze Scheiße, wie, wie -“ Lasse breitete die Arme aus, zeigte auf das Wohnzimmer.
Erst jetzt sah er das Bild, das über dem Kamin hing. Er erstarrte mitten in seiner Bewegung.
„Was ist das denn?“
Das Gemälde war zu großen Teilen in dunklen Grün- und Grautönen gehalten. Es zeigte eine Unzahl Menschen, die am Fuße eines Felsens in mehreren Schichten aufeinander lagen. Ihre Körper waren verschlungen, die Gliedmaßen auf unnatürliche Weise verdreht, und ihre grünen Gesichter drückten Schmerz und Trauer aus. Einige reckten hilfesuchend die Arme in die Höhe. Auf dem Felsen selbst stand eine schwarze Gestalt, von der nur die Umrisse zu erkennen waren. Ein Lichtkranz umgab sie.
„Was ist das für ein Bild?“, fragte Lasse. Es beunruhigte ihn, auch wenn er nicht direkt hätte sagen können, weshalb. Vielleicht, weil es wie ein Schmutzfleck wirkte.
„Es stammt aus Indien“, antwortete Kleinert.
Wie ein Hinweis auf Untiefen, die sich unter dieser so sauberen Welt befinden mochten.
„Ein Geschäftspartner hat es mir geschenkt“, fuhr er fort, offenbar erleichtert über die Unterbrechung von Lasses Monolog. „Der Künstler, der das Bild gemalt hat, heißt Ishwar Khan.“
Lasse drehte sich langsam um. Das Bild störte ihn, hatte ihn aus dem Konzept gebracht.
„Und du selbst siehst dich als der Typ auf dem Fels? Der über allen anderen steht?“
Kleinert schüttelte den Kopf. „Nein.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe und verteilte dabei sein eigenes Blut. „Was mir an dem Bild gefällt, ist die Ambivalenz der Gottheit. In ihrer Verzweiflung flehen die Menschen eine höhere Macht an, doch die ist gleichzeitig hell und dunkel. Man weiß nicht, ob sie Erlösung oder Verdammnis bringt.“
„Ist das so?“ Lasse hielt sein Messer in die Höhe. „Dann kannst du ja von Glück sagen, dass ich weniger ambivalent bin. Denn ich bringe nur Zerstörung.“
Mit einem Wutschrei fuhr er herum, bohrte die Klinge seines Messers in die Leinwand und schnitt sie entzwei. Kleinert und seine Frau schrien auf. Als sich Lasse zu ihnen drehte, sah er, dass selbst Tobias erschrocken war.
„Da sagst du nichts mehr, was?“ Er packte das Bild am Rahmen und riss es von der Wand. Mit einem Krachen landete es vor dem Kamin, sein Rahmen zerbrach. Hinter dem Bild befand sich, eingelassen in die Wand, ein schwarzer Safe mit einem Nummernblock auf der Tür.
„Was ist da drin?“, fragte Lasse keuchend. Durch die Maske fiel ihm das Atmen schwer, und er begann, darunter zu schwitzen.
Schmerz in Kleinerts Gesicht hatte die Angst verdrängt. Mit verzerrtem Mund blickte er auf die Überreste seines Gemäldes. „Warum – warum haben Sie das getan?“
„Weil ich es wollte.“ Lasse war froh, das Bild nicht mehr sehen zu müssen. „Was ist in dem Safe?“
Kleinert schüttelte den Kopf. „Nichts.“
Lasse ging drei Schritte auf ihn zu und hielt ihm erneut das Messer ins Gesicht, in der Hoffnung, es würde wie ein Magnet die Angst wieder anziehen. „Was willst du mir erzählen? Dass du einen Safe im Wohnzimmer versteckst, in dem nichts drin ist?“
„Nur ein paar Papiere. Unterlagen. Nichts von Interesse.“ Kleinert wich Lasses Blick aus.
„Gib mir die Kombination.“
Doch der alte Mann schwieg, und Lasse rückte das Messer wieder in sein Blickfeld.
„Sie sagten doch, Sie haben kein Interesse an Geld.“
„Als ob in dem Safe Geld wäre. Was ist da wirklich drin?“
Innerlich jubelte er. Die Situation hatte eine interessante Wendung genommen. Wie jeder Mensch liebte Lasse jene Spiele, die nur er gewinnen konnte.
Er ging in die Knie, um sein Gesicht auf die Höhe seines Gegenübers zu bekommen, und blickte ihn direkt an. „Komm schon, Kleinert. Wenn da Geld drin wäre, hättest du die Kombination schon längst ausposaunt. Also sag jetzt, was versteckst du vor mir?“
Tobias tippte ihm von hinten auf die Schulter. „Vielleicht sollten wir -“
„Pst!“ Lasse hob seine linke Hand. „Erst will ich die Kombination. Ich will sein kleines Geheimnis sehen.“
Kleinerts Lippen zitterten, sonst war keine Regung in seinem Gesicht erkennbar. Zum ersten Mal war es im Wohnzimmer absolut still.
„Sind es vielleicht Pornos? Irgendwelche Fetischscheiße?“
Keine Antwort.
„Oder stehst du eher auf Kinder? Bist du ein Kinderficker, Kleinert?“
Keine Bewegung.
„Sag schon, was ist dein Geheimnis?“
Bis auf das Zittern seiner Lippe.
Schnell, und noch bevor er sich dessen richtig bewusst war, zuckte Lasses Hand mit dem Messer nach vorne. Er fuhr damit quer über die Stirn von Kleinert, der nicht schnell genug zurückwich. Ein dunkelroter Strich erschien über seinen Brauen; sofort quoll Blut daraus hervor.
Kleinert brüllte.
„Scheiße“, rief Tobias. „Was tust du denn da?“
Lasse stand auf. Gegen sein Temperament war er schon immer machtlos gewesen.
„Ich will nur die Kombination von diesem Safe“, sagte er tonlos, als sei nichts geschehen. Seine Stimme übertönte kaum Kleinerts Heulen, und er bedauerte, dass er nun jede Möglichkeit verspielt hatte, in Kleinerts Gesicht noch einmal die süße Angst zu sehen. Diese wurde nun von körperlichen Qualen verdeckt; ferner entstellte es ein Rinnsal von Blut.
„Sie elender Mistkerl“, schrie Kleinerts Frau. Es war das erste Mal, dass Lasse sie reden hörte. „Es sind unsere Jahrgänge. Eins – neun – fünf – eins – eins – neun – fünf – fünf. Und jetzt hören Sie endlich auf, uns zu quälen.“
„Renate, verdammt“, brachte Kleinert hervor.
Lasse nickte. „Na bitte. Geht doch.“
Er trat zu dem Safe und gab die acht Ziffern ein. Ein grünes Lämpchen leuchtete, und die Tür sprang auf.
„Jetzt bin ich aber mal gespannt“, sagte Lasse und griff in den Safe.
Er war außer Kontrolle.
Tobias hatte befürchtet, dass es so weit kommen würde. Lasse war ein Halt gewesen, ein Freund, den er nach dem Selbstmord seines Vaters gebraucht hatte. Er hörte zu, als Tobias alle und jeden beschuldigte – den Alkohol, den Arbeitgeber, die Politiker. Zuletzt die Banken. Lasse zeigte nicht nur Verständnis, sondern fachte die Wut in Tobias an; er säte Hass, der auf fruchtbaren Boden fiel. Als dieser Samen keimte und erste Triebe bildete, fassten sie den Plan, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Immer ziehen sie ihren Kopf aus der Schlinge, wetterte Lasse, wenn er sich nicht gerade über das Finanzsystem, den Kapitalismus oder Lobbyisten, die Politiker kauften, aufregte. Diesmal nicht. Lass uns nicht den Schwanz einziehen, wie all die anderen Feiglinge.
Und der Hass in Tobias wuchs, nährte sich von diesen Worten und der Hoffnung, zumindest einen Bruchteil des Preises für den Tod seines Vaters einzutreiben. Doch als er sich der Sinnlosigkeit ihres Vorhabens bewusst wurde und die Pflanze der Feindseligkeit in seinem Inneren langsam verdorrte, war es bereits zu spät. Wie eine Lawine drängte Lasse auf die Durchführung, und Tobias hatte nicht die Kraft, ihn aufzuhalten.
Sein Temperament war unberechenbar. Und jetzt war er gemeinsam mit ihm, bewaffnet und maskiert, in das Haus eines Bankers eingebrochen. Fassungslos starrte er in Kleinerts Gesicht, das über und über mit Blut bedeckt war. Das ging weit über den Strafenkatalog aus Zerstörung und Demütigung hinaus, den sie erarbeitet hatten. Lasses Plan, dessen Höchststrafe die letzte Stufe der Erniedrigung sein sollte.
„Was ist das für eine Scheiße?“, fragte Lasse.
Tobias hatte nicht geschaut, was sich in dem Safe befand. Erst jetzt drehte er sich zu Lasse und meinte im ersten Moment, einen kleinen Zettel in seiner Hand zu sehen. Lasse kniff die Augen zusammen und las: „Gunnar Graf.“
Nein, kein Zettel.
Er blickte auf. „Wer soll das sein?“
Ein Personalausweis.
Lasse warf ihn Kleinert vor die Füße und wandte sich wieder dem Safe zu. Tobias bückte sich, um den Ausweis zu betrachten. Das Foto zeigte einen Mann mittleren Alters. Mit seinen kantigen Gesichtszügen und den kurzgeschorenen grauen Haaren wirkte er wie ein Ausbilder bei der Bundeswehr.
„Verdammt, was ist das für Zeug?“ Lasse hatte verschiedene Papiere aus dem Safe geholt. „Sozialversicherungsausweis, Geburtsurkunde – alles von diesem Gunnar Graf. Wer ist das?“ Die Selbstsicherheit aus seiner Stimme war verschwunden, und Tobias spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
Lasse trat vor Kleinert, doch dieser blickte auf den Boden. „Warum habt ihr diese Unterlagen in einem Safe? Wer ist der Mann?“
Tobias' Oberschenkel begannen zu zittern. Das Gefühl, das in seinen Körper kroch und Kälte darin verbreitete, war schlimmer als die Anspannung zu Beginn oder sein Entsetzen, als Lasse Kleinert verletzt hatte.
„Was habt ihr mit ihm gemacht?“
Das Ehepaar schwieg, sie wirkten beide erschöpft. Ertappt. Schuldig.
„Lass uns abhauen“, flüsterte Tobias. „Jetzt. Sofort.“ Ihm kam es so vor, als hätten sie eine Luke geöffnet, aus der Verwesungsgeruch strömte.
Lasse schaute hoch, fragend, verwirrt.
In diesem Augenblick erklang ein Stöhnen, so durchdringend und quälend, dass sich jedes Haar auf Tobias' Körper aufrichtete.
Lasses Augen weiteten sich, und Tobias sah, wie Erkenntnis in seinen Blick strömte.
Im Haus hielt sich noch jemand auf, und wenn ihn seine Wahrnehmung nicht täuschte, befand sich diese Person unter ihnen.
Im Keller.
Die Klagelaute umströmten Lasses Herz und pressten es zusammen. Sämtliche Kraft wich aus seinem Körper. Seltsamerweise musste er in diesem Augenblick an einen Traum denken, den er als Kind gehabt hatte, den einzigen, an den er sich überhaupt erinnerte: Er stand vor einem Tümpel, so trüb, dass unter der Oberfläche kaum etwas zu erkennen war. Doch als er sich tiefer hinunterbeugte und genau hinsah, konnte er schwarze Schemen beobachten – bis plötzlich einer dieser Schatten nach oben sprang, strampelte und schrie.
Das Stöhnen verklang.
„Was ist da im Keller?“, flüsterte Lasse.
Tobias packte seinen Arm. „Lass uns verschwinden, bitte.“
„Ist das dieser Gunnar Graf?“, fragte Lasse, doch es machte nicht den Anschein, als würde Kleinert antworten. Er schnaufte schwer und blickte weiterhin auf den Boden.
„Ist er das im Keller? Was habt ihr mit ihm gemacht?“
Lasse packte Frau Kleinert, schüttelte sie. „Was habt ihr mit ihm gemacht?“
Schweigen.
Er richtete sich auf, versuchte, seine Stimme wieder zu beruhigen. „Was seid ihr für kranke Arschlöcher?“
„Komm schon, Mann, lass uns abhauen“, flehte Tobias.
Lasse schüttelte den Kopf. „Nein. Da unten im Keller braucht jemand Hilfe.“
„Dann rufen wir eben die Polizei, wenn wir weg sind.“
„Bist du bescheuert?“
„Wir rufen anonym an. Sagen, dass sie jemanden im Keller festhalten.“
Wie aus einem Albtraum erklang das Stöhnen erneut, es zog sich in die Länge und deutete auf große Qualen hin. Es fuhr Lasse direkt in die Knochen.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, wir müssen demjenigen sofort helfen. Hörst du das nicht? Wer immer das ist, er stirbt. Halt die beiden im Auge.“
Er rannte in den Eingangsbereich. Im rechten Winkel zum Hauseingang befand sich eine verriegelte Tür, in deren Schloß ein Schlüssel steckte. „Verdammte Penner“, murmelte Lasse, drehte den Schlüssel und öffnete die Tür. Dahinter führte eine Treppe nach unten in die Dunkelheit.
„Hallo?“, rief er. Seine Stimme prallte von den engen Wänden zurück. „Ist da jemand?“
Ein Wehlaut war die Antwort, schwach, doch intensiv. Lasse bekam keine Luft mehr und riss sich die Maske vom Gesicht. Es war schweißnass.
„Scheiße“, flüsterte er. Er drückte auf einen Lichtschalter, doch die Energiesparlampe beleuchtete kaum die Treppe.
„Hören Sie“, rief er nach unten und bemerkte, wie seine Stimme zitterte. „Herr Graf? Ich komme jetzt runter. Ich helfe Ihnen. Halten Sie durch.“
Langsam, Schritt für Schritt und das Messer vor sich haltend, stieg Lasse in die Finsternis hinab. Die Zunge klebte an seinem Gaumen. Der Drang, nach oben und aus dem Haus zu rennen, wurde übermächtig, doch er war kein Feigling. Er würde niemanden zurücklassen, den diese kranken Leute im Keller festhielten.
Tobias zitterte am ganzen Körper.
Immer wieder wanderte sein Blick zwischen den Kleinerts und der geöffneten Kellertür hin und her.
Er hörte die Rufe von Lasse, die Antwort von unten.
Tränen stiegen in seine Augen. „Was habt ihr mit dem Mann gemacht?“, fragte er.
Zu seiner Überraschung hob Kleinert den Kopf. Sein Gesicht war kaum mehr als eine blutende Maske, hinter der zwei müde Augen hervorblickten.
Dann begann er zu sprechen.
Als Lasse den Fuß der Treppe erreichte, war es still um ihn herum.
Seine Nerven waren so gespannt, dass sich seine Sinne zu verbessern schienen. Trotz des schwachen Lichts erkannte er, dass er in einem schmalen Gang stand, zu dessen Seiten sich mehrere Türen erstreckten.
„Hallo?“, rief er, etwas leiser. „Herr Graf? Wo sind Sie?“
Der Gestank von Ausscheidungen schlug ihm ins Gesicht. Doch darunter war noch etwas anderes, etwas Bitteres –
Sein Fuß stieß gegen etwas auf dem Boden. Als er nach unten blickte, traute er seinen Augen nicht. Da stand ein Napf.
Ein Napf für Hunde, in dem sich Futter befand.
„Herr im Himmel“, murmelte er. „Was soll das denn?“
Die haben nicht mal einen Hund.
Lasse schob seinen Körper vor die erste Tür links, die einen Spalt offen war. Mit dem Messer stieß er sie langsam auf und wünschte sich, seine Maske aufbehalten zu haben, denn der Gestank war nun so unerträglich, dass er einen Würgereiz auslöste.
„Herr Graf?“ Er flüsterte es nur noch.
Den gesamten Raum konnte er nicht überblicken. Halb erahnte, halb sah er ein Gitter, das sich in der Mitte des Zimmers erhob. Ein Käfig.
Oder ein Gehege.
Noch während seine Finger nach einem Lichtschalter tasteten, hörte er direkt aus der Dunkelheit vor sich ein kehliges Knurren.
„Dein Freund hätte mein Bild nicht zerstören sollen.“
„Was?“
„Ihr wart gar nicht schlecht. Ich weiß nicht, was eure Pläne mit uns waren, aber ihr wart gar nicht übel. Bis dein Freund mein Bild zerstört hat, habt ihr nicht einen einzigen Fehler gemacht, und ihr ahnt nicht, wie viel Glück ihr hattet.“
Tobias bekam ein Gefühl, als würde sich direkt vor ihm der Boden zu einem Abgrund öffnen. „Was reden Sie da?“
Kleinert ging nicht auf seine Frage ein. Seine Augen, die eben noch erschöpft gewirkt hatten, waren nun weit aufgerissen. „Weißt du, warum es so dumm war, mein Bild zu zerstören? Nicht etwa, weil es wertvoll war. Das war es nicht, wenngleich einzigartig. Auch nicht, weil mir die Gottheit darauf so gut gefallen hat. Das war gelogen. Oder, um es mit den Worten deines Freundes zu sagen, manchmal ändert sich die Wahrheit eben.“
Der Abgrund wurde tiefer und tiefer.
„Was mir wirklich an dem Bild gefallen hat, waren die Leiber am Felsen. Hast du ihre Gesichter gesehen? Hast du den Schmerz in jedem einzelnen darin gesehen? Ich liebe es, Schmerzen in den Gesichtern von Menschen zu sehen, und nirgendwo habe ich das besser dargestellt gefunden als in diesem Bild.“
Der Abgrund verschluckte Tobias; er konnte den Worten kaum mehr folgen.
„Der eigentliche Fehler“, fuhr Kleinert fort, „den dein Freund begangen hat, war, das Bild zu zerstören. Nicht aber des Bildes wegen, sondern – weil er damit einen solchen Lärm gemacht hat. Denn damit hat er ihn geweckt.“
Die Stille im Haus war allumfassend. Warum hörte er Lasse nicht mehr?
„Wen?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen.
Kleinert sagte es ihm, zwei Worte nur, doch diese packten Tobias wie eine Hand aus dem Abgrund. Er drehte sich um, achtete nicht auf seine tauben Beine, rannte auf die Kellertür zu.
„Lasse“, rief er nach unten. „Komm hoch, um Gottes Willen, komm wieder hoch. Das ist eine Falle!“
Die Rufe seines Freundes lösten die Starre, in der Lasse gefangen war. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht war er vor dem Knurren stehen geblieben, unfähig, sich zu rühren.
Doch Tobias löste diesen Zustand; Lasse keuchte und begann zu rennen.
Nach drei Schritten stürzte sich etwas auf ihn; Krallen bohrten sich in seine Kopfhaut. Er taumelte und fiel, doch noch bevor er den Boden erreichte, spürte er die Wärme seines eigenen Urins an den Beinen und Zähne an seiner Kehle.
Als Tobias die Geräusche aus dem Keller hörte, zuckte er zurück.
Lasses Schrei verwandelte sich in ein gurgelndes Stöhnen, während das Knurren lauter, das Schmatzen gieriger wurde. Tobias taumelte, die Welt um ihn herum drehte sich wie sein Magen, doch als er im nächsten Augenblick die Tür zum Keller zuschlug und den Schlüssel drehte, waren ihm zwei Tatsachen bewusst: Erstens, dass er Lasse da unten einsperrte und ihm so jede Möglichkeit zur Flucht nahm. Und zweitens, dass Lasse bereits tot war und es keine Rolle mehr spielte.
Er drehte sich zur Eingangstür, und noch während er daran rüttelte und feststellte, dass sie verriegelt war, rannte hinter der Kellertür etwas die Treppe hinauf. Er blickte nach links, nach rechts, suchte nach einem Schlüsselhaken, doch die Wände waren leer.
Ein Körper prallte gegen die Tür und ließ sie in ihren Angeln erzittern. Tobias schlug gegen die Sichtfenster der Eingangstür, doch ihr Glas war zu dick, um sie zu beschädigen.
Immer wieder warf sich der Körper gegen die Kellertür, und als ihr Rahmen knirschte, ging Tobias unter in dem Feuerwerk aus Panik, das in seinem Inneren abbrannte. Er schwankte rückwärts, behielt die Tür im Auge und wusste bereits vor dem letzten Stoß, dass sie brechen würde.
Als sie mit einem Krachen aus dem Rahmen flog, erschien er dahinter.
Unser Hund.
Es war ein nackter Mann, der auf allen Vieren stand. Seine Haut war bleich und von schwarzen Striemen überzogen, die Arme und Beine dürr und lang, der Rücken zu einem Buckel verformt. Das verzerrte Gesicht war mit Blut verschmiert.
Er blickte zu Tobias. Knurrte. Setzte zum Sprung an.
Tobias rannte zurück ins Wohnzimmer, doch trotz seiner Schreie hörte er, wie ihn der Mann auf Armen und Beinen verfolgte. Und als er sich ein letztes Mal umdrehte, war der kahle Schädel direkt hinter ihm.
Georg rief nach seinem Hund, doch der reagierte nicht.
Er hatte sich in das Gesicht des Maskierten verbissen, bohrte immer wieder die Zähne hinein, schüttelte den Körper und riss blutige Fetzen aus Stoff und Haut heraus. Die Beine des Fremden zuckten noch immer, doch wenigstens schrie er nicht mehr.
Georg rief erneut den Namen des Hundes.
Der Mann stöhnte ein letztes Mal, als der Hund seine Nase mit einem Knirschen abbiss und zwischen seinen Kiefern zermalmte. Auf dem Teppich unter ihm bildete sich eine Blutlache. Jetzt zuckten auch die Beine nicht mehr.
Es dauerte, bis sich der Hund beruhigte. Irgendwann ließ er von dem Mann ab und näherte sich seinen Herrchen.
„Braver Hund“, keuchte Georg, „braver Hund. Und jetzt sieh zu, dass du uns hier losmachst.“
Doch weil sich der Hund freute, dass seinen Herrchen nichts passiert war, stemmte er seine Arme in Georgs Schoß und begann, ihm das angetrocknete Blut aus dem Gesicht zu lecken.
„Du zitterst noch immer. Soll ich dir noch einen Tee bringen?“
„Nein. Ich – ich fasse das nicht –“
„Hör zu, es ging darum, wir oder sie. Als sie den Safe geöffnet haben, ging es nur noch darum. Es konnte kein anderes Ende nehmen. Und bedenke, dass sie in unser Haus gekommen sind. Sie haben uns geschlagen, gefesselt, und hätten noch Gott weiß was mit uns –“
„Ja, ich weiß, aber gleich so. Es ist eine solche Schweinerei.“
„Das stimmt. Und das, obwohl ich ihn mehrmals gerufen habe. Dafür werde ich ihn bestrafen müssen. Und auch dafür, dass er wieder in den Keller gemacht hat. Ich dachte, wenigstens das hätte ich ihm abgewöhnt.“
„Ich hätte niemals gedacht, dass er sich so entwickelt.“
„Was erwartest du? Zwei Jahre sind eine lange Zeit, und die Abmachung war, so lange es keiner beendet, verhält er sich wie ein Tier. Vielleicht hat man nach zwei Jahren vergessen, ein Mensch zu sein. Ich weiß es nicht. Aber, wenn du so willst, was er heute getan hat, war nur die konsequente Umsetzung unserer Abmachung.“
„Wenn das so ist, solltest du ihn belohnen anstatt zu bestrafen. Dass er einen von ihnen in den Keller gelockt hat, war ein sehr schlauer Einfall.“
„Ich sag ja gar nicht, dass ich ihn nicht auch belohnen werde – er darf die nächsten Nächte im Garten schlafen. Da muss er jetzt sowieso ein Loch buddeln.“
„Und was machen wir mit dem Wagen?“
„Ebenfalls entsorgen. Ich lass mir was einfallen. Bis dahin bleibt er in unserer Garage. Wie fühlst du dich jetzt?“
„Keine Ahnung. Durcheinander.“
„Wir oder sie, Renate. Denk immer daran.“
„Hör zu, wenn du ihn bestrafst, sei nicht zu streng. Und wenn er das Codewort sagt, hörst du sofort auf, ja?“
„Ich glaube nicht, dass er es sagt. Wäre jedenfalls das erste Mal. Und vergiss nicht, dass auch er Freude dabei hat.“
Der Bambusstock liegt leicht in Georgs Hand. Im Hintergrund läuft Der Winter aus Vivaldis Vier Jahreszeiten.
Wieder und wieder schlägt Georg mit dem Stock auf den Körper des Hundes ein; er peitscht ihn zu den Violinenklängen des ersten Satzes über den Rücken, auf dessen vernarbter Haut sich im Takt der Musik neue Striemen bilden. Feine Tropfen von Blut landen auf Georgs Hosenbeinen. Der Hund jault, doch sein Wehklagen geht unter im Stampfen des Refrains.
Im Mittelsatz streichelt Georg ihn, fährt ihm liebevoll mit dem Stock über die Stirn, die Lippen, vorbei an den angespitzten Zähnen. Wie ein stolzer Vater flüstert er mehrmals seinen Namen, denn er weiß, dass die Demütigung der Zucht, wie jede andere Demütigung auch, stärker wirkt, wenn er ihr den Beigeschmack von Liebe verleiht. Dies ist der Moment der vollendeten Selbsterniedrigung, der Orgasmus in ihrer Beziehung – das Fressen aus einem Napf, das Schlafen auf dem Boden, das ständige Nacktsein oder gar die Prügel sind lediglich ein Vorspiel. Die Spannung entlädt sich erst in den Augenblicken der Zärtlichkeit.
Im dritten und letzten Satz prügelt Georg wieder auf ihn ein, härter, konsequenter. Schlag für Schlag wird das Jaulen lauter, der Stock blutiger, und irgendwann, als sich Vivaldis Winterwinde zu einem Sturm aufbauschen und sich der Hund nicht mehr auf den Beinen halten kann, als er zur Seite kippt, beugt sich Georg über ihn, ganz tief, und sucht hinter der Befriedigung den Schmerz in seinem Blick.