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Kevin und Jakob
Schlägt man das gemeinsame Fotoalbum von Holger und Eva Benning auf, so findet man auf den ersten Seiten Bilder, die ein junges Paar bei verschiedenen Aktivitäten zeigen: Einem Ausflug an einen See mit Picknick und Bootsfahrt, einem Wanderurlaub, einem Besuch auf einem Jahrmarkt mit Freunden. Dem Paar ist seine Verliebtheit anzumerken, meist halten sie sich an den Händen, man sieht sie eng umschlungen und küssend. Auf einem Bild stehen beide in der Abenddämmerung vor einem Haus, blicken sich tief in die Augen und umarmen sich, die Nasenspitzen eng beieinander. Zwischen diesen Fotos steht in mädchenhaft geschwungenen Buchstaben zu lesen: „Sommer 1974 – unsere erste gemeinsame Zeit. Wunderschön.“
Weitere Bilder zeigen das Paar mit Freunden bei einem Grillfest, einem Geburtstag und einer Silvesterfeier. Auf anderen Aufnahmen sieht man Holger und Eva an einem Strand liegen oder an der Reling eines Schiffes. Auf vielen dieser Fotos stellt Holger ein breites, selbstbewusstes Grinsen zur Schau, während Eva meist nur schüchtern lächelt.
Auf einer der nächsten Seiten ist nur ein einziges großes Bild zu sehen. Es zeigt Eva in einem Kreis aus Rosenblättern und mehreren Kerzen. Mit aufgerissenen Augen und einem überraschten Lachen blickt sie in die Kamera, beinahe so, als hätte Holger in dem Moment den Auslöser betätigt, als er die Frage stellte. „13. August 1976 – Ich habe JA gesagt“ steht in einem Herz unter dem Bild, so als habe es noch Zweifel an Evas Antwort gelassen.
Der Hochzeit im Januar 1977 widmen sich eine große Anzahl der nächsten Bilder. Sie zeigen die beiden in einem Park; Eva im weißen Brautkleid und Holger mit einem für ihn ungewohnt zurückhaltenden Lächeln. Es folgen Aufnahmen der beiden inmitten der Festgesellschaft. „Ein unvergesslicher Tag!“ ist in Evas geschwungenen Buchstaben zu lesen.
Wenige Seiten später ist Eva von der Seite in einem engen T-Shirt zu sehen. „Mai 1977 – auch wenn man es noch nicht sieht, bald sind wir eine richtige Familie“ lautet die Bildunterschift. Die folgenden Fotos dokumentieren das Jahr 1977 und zeigen, wie Evas Bauch runder wird. Ein Bild zeigt beide auf einem kleinen Sofa vor einem Adventskranz, bei dem zwei Kerzen brennen. Während Eva über das ganze Gesicht strahlt, blickt Holger ernst, beinahe nachdenklich in die Kamera. „Unsere letzte Weihnachtszeit nur zu Zweit. Bald ist er da, unser Schatz!“ steht darunter geschrieben.
Und obwohl seit jenem Tag über fünf Monate vergangen sind, ist dies das letzte Bild in Holgers und Evas Album. Dahinter folgen nur noch leere Seiten.
Es ist bereits spät in der Nacht, als Holger versucht, seine Wohnungstür aufzuschließen. Seine Kehle ist trocken und fühlt sich an, als hätte sie sich zusammengezogen. Er weiß, dies ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass er sich gleich übergeben muss.
Nicht im Flur, sagt er sich. Bitte nicht im Flur.
Er verfehlt das Schlüsselloch ein weiteres Mal und stützt sich mit einer Hand an der Wand ab. Langsam schiebt er den Schlüssel in das Schloss und dreht ihn um. Mit einem lauten Klacken schnappt es auf, und Holger hält inne.
Haben sie das gehört? Sie müssen es gehört haben.
Er wartet einen Augenblick, lauscht in die Stille der Wohnung. Nichts regt sich. Gut. Gut. Weder Eva noch die Kinder sind aufgewacht. Gott sei Dank.
Mit schwankenden Schritten betritt er die Wohnung. Schmerzen dröhnen in seinem Kopf, begleitet von einem konstanten Pochen gegen seine Schläfe. Die ersten Anzeichen des Katers.
Holger schließt die Tür und schleicht durch den Flur. Er traut sich nicht, Licht zu machen. Nicht im Flur. Obwohl er seit zwei Jahren mit Eva in dieser Wohnung lebt und jeden Winkel davon kennt, muss er die Hände ausstrecken, um sich zu orientieren. Immer wieder stößt er gegen die Wand, als befinde er sich auf einem Schiff bei schwerem Seegang.
Unsicher bewegt er sich in die Küche und schließt leise die Tür. Erst jetzt traut er sich, das Licht einzuschalten.
Er lehnt sich gegen den Kühlschrank und empfindet Ekel vor sich selbst. Sein Verhalten widert ihn an. Wieder einmal ist es mitten in der Nacht, wieder einmal kommt er sturzbetrunken nach Hause, wieder einmal ließ er Eva und die Kinder allein. Wie so oft in letzter Zeit, wie so verflucht oft.
Ein weiteres Mal zieht sich seine Kehle schmerzhaft zusammen, dann schießt bittere Magensäure in seinen Mund. Holger schluckt sie hinunter und schließt die Augen, hofft, dass er sich nicht übergeben muss.
Die Übelkeit verfliegt, doch das Hämmern in seinem Kopf bleibt. Vorsichtig nimmt er ein Glas aus dem Schrank und füllt es mit Leitungswasser. Er sieht alles verschwommen, und ihm kommt in den Sinn, dass er sich morgen vielleicht nicht einmal mehr erinnern kann, wie er nach Hause gekommen ist.
Das kalte Wasser entspannt seine Kehle. Er atmet laut, keucht beinahe. Davon abgesehen ist es noch immer still in der Wohnung. Vielleicht schafft er es ins Bett, ohne jemanden zu wecken. Vielleicht kann er sogar schlafen, ohne zu träumen. Wenn er betrunken zu Bett geht, kann er sich oft nicht an seine Träume erinnern, und schon allein das rechtfertigt den Alkoholkonsum. Zurzeit leidet er unter schlimmen Albträumen. Meist beginnen sie damit, dass er das Zimmer seiner Söhne betritt und sich Jakobs Bett nähert, gefolgt von einer schrecklichen Verwandlung seines Sohnes. Verschwitzt, zitternd, manchmal mit einem Schrei auf den Lippen wacht er irgendwann auf.
Eines Tages wird sein Traum Wirklichkeit sein, das weiß Holger. Es wird nicht so schnell wie im Traum passieren; stattdessen ist es ein Prozess, der Jahre dauert. Jakob wird sich verändern, nicht zu einem Monster wie in seinen Träumen, aber doch zu einer Sorte von Mensch, vor der Holger Ekel und Abscheu empfindet. Die er zu meiden versucht. Wie soll er jemanden meiden, der mit ihm unter einem Dach wohnt?
Er setzt sich auf einen Küchenstuhl und schlägt die Hände vor das Gesicht.
Warum musste das passieren? Warum nur musste ihnen so etwas passieren? Welche Sünde hatten sie begangen, um mit einem solchen Schicksal, einem solchen Fluch bestraft zu werden?
Holger liebt es, Pläne zu entwerfen und Abläufe zu organisieren. Er hat die Dinge gern selbst in der Hand, ist lieber der Marionettenspieler als die Marionette. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen weiß er, welchen Weg sein Leben nehmen wird; statt sich vom Schicksal und unkontrollierbaren Umständen treiben zu lassen, kennt er die Richtung und bewegt sich dabei mit entschlossenen Schritten. Dabei geht er den Weg nicht nur, er ebnet ihn sich regelrecht. Auf sich selbst kann er sich verlassen, auf sonst niemanden. Seit Kindesbeinen ist er sich dessen bewusst, und daran wird er bis zu dem Tag festhalten, an dem man ihn in einen Sarg legt.
Bereits früh wusste er, dass er mit dreißig Jahren verheiratet wäre. Seine Frau suchte er sich nach praktischen Gründen aus. Natürlich musste sie attraktiv sein, doch mehr als tiefe Zuneigung empfand er nie für sie. Seiner Meinung nach ist Liebe die Erfindung von realitätsfernen Romantikern und schwachen, verweichlichten Menschen, die ihre Schwäche vertuschen und sie in eine erhabene Eigenschaft verwandeln wollen, indem sie sie Liebe nennen. Doch weil nur die Worte und die Fassade eines Menschen zählen und niemals der wirkliche Charakter, kann er Eva glaubhaft vermitteln, sie zu lieben. Es macht keinen Unterschied.
Sie ist die perfekte Frau für ihn. Sie ist eine gründliche Hausfrau und eine fürsorgliche Mutter, ohne jeden Anspruch an eigene berufliche Selbstverwirklichung. Nach genau einer solchen Frau suchte Holger, denn er weiß, dass eine intakte Familie das Fundament einer erfolgreichen beruflichen Karriere bildet. Wie den Rest seines Lebens hat er auch diese durchgeplant. In den letzten beiden Jahren konnte er sich in seinem Unternehmen zu einem angesehenen und respektierten Gruppenleiter entwickeln. Seine Lebensplanung sah vor, dass er in spätestens fünf Jahren Abteilungsleiter wäre. Mit vierzig wollte er seinen eigenen Bereich übernehmen und in die Geschäftsleitung wechseln. Dank seiner Intelligenz und seiner Zielstrebigkeit zweifelte er auch keinen Augenblick daran, dass ihm dies gelänge.
Er plante, mit dreißig zum ersten Mal Vater zu werden. Vielleicht war es noch ein wenig früh, da sie noch in dieser kleinen Wohnung lebten, doch es würde Eva in ihrem Alltag beschäftigten und ablenken. Beim ersten Kind wünschte er sich einen Jungen.
In spätestens zwei Jahren wollten sie sich ein eigenes Haus leisten, vielleicht an einem Hang mit Blick zum See. Hauptsache raus aus diesem Loch. Dann könnte er sich ein Auto kaufen, um das ihn andere beneideten, und sie hätten das Geld, um in vornehmen Restaurants zu essen und in teuren Hotels Urlaub zu machen. Mit Mitte dreißig sollte dann das zweite Kind kommen, dieses Mal ein Mädchen. Ihre Familie wäre dann perfekt. Sie würden in angesehenen Kreisen verkehren, gut gestellte Freunde haben, diese zum Abendessen einladen und mit ihnen im Sonnenuntergang auf ihrer Terrasse sitzen. Er sah dieses Leben richtig vor sich, plante es und war fest davon überzeugt, dass es auch diesen Weg nahm.
Es begann auch alles wie erwartet. In Eva fand er die Frau, die er suchte, die bereit war, eben dieses Leben mit ihm zu führen. Zum richtigen Zeitpunkt wurde sie schwanger, und es hatte den Anschein, als bewege sich Holgers Leben auf dem ihm bestimmten Pfad.
Bis zum Januar dieses Jahres. Bis zur Geburt.
Als etwas geschah, das Holger vollkommen aus der Bahn warf.
Noch während er mit den Händen vor dem Gesicht auf dem Küchenstuhl sitzt, erinnert er sich an jene Nacht Anfang Januar dieses Jahres. In den frühen Morgenstunden rüttelte Eva ihn an der Schulter, und er war sofort hellwach. Gemeinsam fuhren sie ins Krankenhaus, und Holger hielt ihre Hand im Kreißsaal, während Eva von Wehen geschüttelt wurde. Nach etwa zwei Stunden erblickte sein Erstgeborener das Licht der Welt. Kevin. Wie in seinen Vorstellungen war es ein Junge, und Holger sah darin einen weiteren Beweis, dass er jede Facette seines Lebens kontrollieren konnte.
Doch noch bevor die Hebamme die Nabelschnur durchtrennte, wurde Eva zur Überraschung aller Beteiligten von weiteren Wehen gepackt. Sie schrie lauter als je zuvor. Dies war der Moment, als alles außer Kontrolle geriet.
Es gab ein zweites Kind, einen Zwilling. Ein Zwilling, der niemals geplant und der nicht entdeckt worden war, ein Zwilling, der sich wie ein böser Geist in Holgers und Evas Leben schlich. Bei der Geburt kam es zu Komplikationen. Evas Hand verkrampfte sich in der von Holger, während die Hebamme und ein herbeigerufener Stationsarzt Jakob entbanden. Direkt nach seiner Geburt wurde er aus dem Kreißsaal gebracht. Eva weinte, als ihr Kevin überreicht wurde. Er war ein gesundes Kind, doch die Verwirrung über und die Angst um seinen Zwilling machten jede Freude zunichte.
Es war der zuständige Arzt, der Holger etwa zwei Stunden nach der Geburt erklärte, dass Jakob nicht gesund war.
„Wir haben den Verdacht, dass ihr Sohn unter dem Down-Syndrom leidet“, sagte der Arzt in nüchternem Tonfall. Er war ein junger Schnösel frisch von der Uni, und Holger fand ihn vom ersten Moment an unsympathisch.
„Was soll das heißen?“, fuhr Holger ihn an.
„Dabei handelt es sich um einen Gendefekt. Ein bestimmtes Chromosom, welches normalerweise nur zweimal vorliegt, gibt es dann dreimal. Die Krankheit wird auch als Mongolismus bezeichnet, auch wenn diese Bezeichnung heute nicht mehr verwendet wird.“
Der Arzt sprach noch weiter, doch Holger hörte ihn kaum mehr. Die Diagnose eines behinderten Kindes traf ihn wie ein Schlag in den Solarplexus. Alle Kraft wich aus seinen Muskeln, und er erwartete, jeden Augenblick auf den Boden zu sinken.
„Wie schlimm ist es?“, wollte Holger wissen, und der Arzt sah ihn fragend an. „Wie schlimm ist die Behinderung? Ist er geistig behindert, oder wie?“
„Zunächst einmal müssen wir feststellen, ob es sich wirklich um das Down-Syndrom handelt. Hierzu müssen wir eine Chromosomenanalyse durchführen, bei der wir – “
„Und falls ja?“
„Was meinen Sie?“
„Ist er geistig behindert, wenn Sie feststellen, dass er an diesem Syndrom leidet?“
„So früh kann man das noch nicht sagen.“ Der Arzt kratzte sich am Kopf. „In den allermeisten Fällen ist es allerdings so, dass diese Krankheit zu einer geistigen Behinderung führt.“
Holger spürte, wie er am ganzen Körper zu schwitzen begann. Eine geistige Behinderung. Er verstand nicht, wie es möglich war, dass seine Frau ein solches Kind auf die Welt gebracht hatte. Er ging diesen Menschen aus dem Weg, wann immer es möglich war. Er ekelte sich vor ihnen, wenn er ihnen auf der Straße begegnete. Oft kreischten sie ohne bestimmten Grund oder gaben andere Geräusche von sich, hatten ihre Körperfunktionen nicht unter Kontrolle oder sabberten in einem Rollstuhl in ihren Schoß. Sie waren vollkommen unberechenbar in ihrem Verhalten. Einmal hatte er gesehen, wie ein geistig behinderter Mann einem unbeteiligten Passanten ohne Grund in die Hand biss. Ein anderes Mal hatte sich eine Gruppe von behinderten Menschen in einem Restaurant an einen Nachbartisch gesetzt, und Holger war gezwungen gewesen, ihnen beim Essen zuzusehen. Es war widerlich, widerlich, widerlich!
Es konnte einfach nicht sein, dass Eva ein solches Kind in die Welt gesetzt hatte. Es durfte nicht sein.
Wenige Wochen später wurde offiziell das Down-Syndrom bei Jakob diagnostiziert.
Holger steht langsam auf. Er will nicht an die Geburt oder die Diagnose denken, er will an überhaupt nichts denken, das mit Jakob zu tun hat. Seit der Geburt hat er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, nichts mehr unter Kontrolle zu haben. Er begann, gegen seine bösen Gedanken und die Albträume Alkohol zu trinken, immer mehr, immer häufiger.
Bereits direkt nach der Geburt war sich Holger der Konsequenzen bewusst. In den folgenden Tagen breiteten sie sich dann wie ein schmieriger Ölfilm in seinem Bewusstsein aus, glitschig und stinkend und begruben all seine Hoffnungen unter sich.
Mit einem behinderten Kind kann er all seine Pläne über den Haufen werfen. Das zweite Kind in fünf Jahren können sie bereits jetzt vergessen, schließlich hätten sie mit Jakob genug Arbeit. Außerdem würden sie auch in fünf Jahren nicht in einem größeren Haus wohnen, sondern immer noch in dieser Bruchbude sitzen. Wovon sollten sie sich dieses Haus denn kaufen? Selbst wenn sie wohlhabend wären – was sie nicht waren, weder jetzt noch in fünf Jahren – würde das meiste Geld für Behandlungen und Medizin drauf gehen. Auch die Karriere konnte Holger vergessen. Die Familie sollte ein stabiles Fundament sein, doch diese Familie würde ihn Kraft kosten anstelle ihm welche geben, sie würde die Lebensenergie aus ihm aussaugen anstelle ihm Neue zu spenden. Er kann von Glück sagen, wenn er überhaupt seine jetzige Stellung behielt, vom beruflichen Aufstieg mal ganz zu schweigen. Schließlich kommt er schon jetzt oft genug verkatert, schlecht gelaunt und unkonzentriert zur Arbeit.
Karriere, gesellschaftliche Stellung, ein Haus am See, ein teures Auto oder Urlaube – das alles löste sich in Luft auf, fiel in dem Moment wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als Jakob aus Evas Bauch gezogen wurde, als er sich wie ein Parasit in ihr Leben schlich und es von innen her aufzufressen begann.
Mit müden Schritten geht er in Richtung Tür, löscht das Licht und betritt den Flur. Er hofft, lautlos ins Bett zu kommen, ohne Eva zu wecken. Kurz vor seiner Schlafzimmertür hält er ein weiteres Mal inne, die Hand bereits auf der Klinke. Die Wohnung liegt in tiefer Stille. Bis auf das Rauschen seines eigenen Blutes hört er nichts.
Seltsam. Normalerweise hört er Jakobs Atemgeräusche selbst durch zwei geschlossene Türen hindurch.
Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er beginnt, Konturen zu erkennen und sieht, dass die Tür der Zwillinge offen steht. Wie oft muss er Eva noch sagen, dass sie diese Tür schließen soll? Jakob wacht jede Nacht mindestens einmal auf, meist öfter. Er schreit und krächzt, er strampelt und wirft seinen kleinen Körper in seinem Bett hin und her. Eva will seine Schreie so früh wie möglich hören, aber Holger kann Jakobs Geräusche noch nicht einmal ertragen, wenn dieser schläft.
Doch obwohl die Tür angelehnt ist, kann Holger nichts hören.
Überaus seltsam. Ob es am Alkohol liegt?
Trotz seines Widerwillens nähert er sich dem Zimmer seiner Söhne. Hinter der angelehnten Tür befindet sich undurchdringliche Schwärze, die noch dunkler wirkt als im Flur.
In manchen seiner schlimmsten Träume steht er so vor der Tür und blickt in das finstere Zimmer. Dann hört er schlurfende Schritte, die langsam über den Teppich streichen und sich ihm nähern. Er will fliehen, doch sein Körper bewegt sich nur in Zeitlupe, und plötzlich stürzt Jakob aus der Dunkelheit heraus, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, die Hände zu Klauen verformt, und bohrt seine langen Nägel in Holgers Gesicht.
Er fröstelt. Diese Stille. Diese unheilvolle, trügerische Stille.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Warum nur kann er Jakob nicht hören?
Vielleicht ist er gestorben.
Keine Regung, kein Gefühl begleitet diesen Gedanken. Holger überlegt, ob das sein kann. Manchmal sterben Kinder in diesem Alter, das weiß er. Sie hören einfach auf zu atmen, während sie schlafen. Krippentod nennen Ärzte dieses Phänomen.
Er will seine Lippen befeuchten, doch seine Zunge ist trocken wie Sandpapier. Er steht vor dem Zimmer seiner Kinder und fühlt das Pochen seines Herzens bis in die Fingerspitzen, spürt, wie die Wirkung des Alkohols langsam nachlässt.
Schau nach. Geh einfach rein und schau nach, dann weißt du Bescheid.
Doch er zögert. Soll Eva ihn doch finden, wenn er wirklich gestorben ist. Er hat kein Interesse, seine Leiche zu sehen, schließlich empfindet er schon genug Ekel, wenn er ihn lebendig betrachten muss.
Aber wenn er wirklich tot ist?
Es liegt tatsächlich im Bereich des Möglichen, sonst würde er ihn doch hören. Eine ungeduldige Aufregung flammt in ihm auf, und er spürt, dass er dem sofort nachgehen muss. Er muss sich jetzt sofort überzeugen. Andernfalls könnte er heute Nacht keine Sekunde schlafen.
Mit feuchten Händen stößt er vorsichtig die Tür auf und schleicht sich langsam in das Zimmer.
Dort ist es so dunkel, dass Holger nicht einmal seine eigene Hand vor den Augen erkennen könnte.
Einen kurzen Moment überlegt er, Licht zu machen. Doch wenn Jakob noch am Leben sein sollte, würde ihn das nur wecken, und das will er nicht riskieren.
Er geht auf die linke Seite des Raums, Jakobs Seite. Vor einigen Wochen stellte Holger beide Stangenbetten an gegenüberliegende Zimmerwände. In der Nacht zuvor hatte er geträumt, wie Jakob durch die Stangen nach Kevins Hand griff und ihm zwei Finger abbiss. Auch wenn er noch keine Zähne hatte, war es besser, kein Risiko einzugehen.
Holger erkennt einen Geruch, der ihn an eine Mischung aus verdorbenem Obst und Fäkalien erinnert. Der Geruch ist nicht stark, doch er nimmt ihn jedes Mal wahr, wenn er sich Jakob nähert. Es ist ganz egal, wie oft man dieses Ding badet, ihm haftet ständig ein Geruch der Fäulnis und des Verdorbenen an. Holger nimmt an, dass sich das im Laufe seines Lebens noch verschlimmern wird, vor allem, weil man ihn auch als erwachsenen Menschen noch wickeln müsste. Ihr ekelhafter Geruch ist einer der Gründe, weshalb er sich von Behinderten grundsätzlich fern hält.
Mit ausgestreckten Armen und kleinen Schritten bewegt sich Holger durch den Raum. Die Dunkelheit ist zu intensiv, als dass sich seine Augen daran gewöhnen könnten. Noch immer kann er absolut nichts sehen. Plötzlich berühren seine Fingerspitzen Jakobs Bett.
Er lauscht. Bei dem Gedanken, dass Jakob unter ihm in dieser undurchdringlichen Finsternis liegt, bekommt er eine Gänsehaut. Er denkt an Jakobs Gesicht, seine schwarzen Haare und die verformten Augen mit den für ein Baby ungewöhnlich buschigen Brauen.
Noch immer kann Holger keinen Laut vernehmen. Er könnte beinahe glauben, das Bett unter ihm sei leer.
Ist er tot? Ist er wirklich tot?
Sein Herzschlag beschleunigt sich. Wenn sich Jakob wirklich in der Dunkelheit dieses Zimmers aus dem Leben geschlichen hätte, würde sich vieles ändern.
Alles. Es würde sich alles ändern.
Zunächst einmal wären sie natürlich traurig, müssten es sein. Doch nach einiger Zeit – Holger schätzt, ein paar Wochen – würde sich ihr Leben wieder normalisieren. Nach einem kleinen, unerwarteten Umweg würde es wieder in die Bahnen gelenkt, die Holger vorgesehen hatte. Er müsste sich keine Sorgen mehr machen und auch keinen Alkohol mehr trinken. Seine berufliche Karriere könnte er wie geplant fortsetzen. Das Haus, das Auto und die Abende auf der Terrasse rückten wieder in greifbare Nähe. Vielleicht würden sie auf das zweite Kind verzichten – es wäre Unsinn, erneut ein solches Risiko einzugehen. Auch mit einem Kind könnten sie eine perfekte Familie sein.
Irgendwann würden sie Jakob vergessen haben. Vielleicht legten sie sich stattdessen einen Hund zu.
Holger leckt sich erneut über die Lippen. Die Vorstellung ist schön, so wunderschön und verführerisch.
Und naheliegend. Noch immer kann er kein Geräusch hören. Er muss nun doch das Licht einschalten, das ist ihm klar. Er wird dieses Risiko eingehen, denn es sieht ganz so aus, als ob Jakob tatsächlich –
In diesem Augenblick beginnt Jakob unter ihm zu schnaufen, und Holger wäre um ein Haar nach hinten gefallen. Nur mit Mühe kann er einen Schrei zurückhalten.
Nein! Nein! Nein!
Es ist dieses Röcheln, dieses schnappartige Grunzen, das ihn bis in seine tiefsten Albträume verfolgt, das sich in seinen Verstand gefressen hat wie ein Brandzeichen. Sinnbildlich steht es für die Zerstörung des Lebens, das er sich so mühevoll aufgebaut hat.
Jede Hoffnung weicht aus seinem Körper, und seine Knie werden weich. Seine Hände verkrampfen sich um das Bett des Sohnes, den er niemals haben wollte, und mit tiefer Erschütterung hört er, wie dieser geräuschvoll Atemluft einsaugt und wieder ausstößt.
Jakob ist noch am Leben. Natürlich. Alles andere wäre auch zu schön gewesen.
Holger ist den Tränen nahe. Warum musstest du unser Leben zerstören, fragt er sich und umklammert das Stangenbett. Welches Recht hast du, mein Leben zu zerstören?
Es hätte alles so schön kein können. Es hätte alles wieder seine Richtigkeit haben können.
Und wenn ich nachhelfe?
Wie eine aufgedunsene Leiche an einen Strand wird dieser Gedanke in sein Bewusstsein gespült. Plötzlich spürt er einen metallischen Geschmack im Mund. Ob die Polizei einen Unterschied feststellen kann zwischen dem Tod durch Ersticken und dem Krippentod? Vermutlich nicht – denn schließlich erstickten Kinder, wenn sie am Krippentod sterben.
Er fühlt sich schmutzig, spürt erneuten Ekel vor sich selbst. Wie kann er nur darüber nachdenken, seinen eigenen Sohn zu töten?
Er ist nicht mein Sohn. Ich wollte ihn nicht. Wir wollten ihn nicht. Wir wollten Kevin. Jakob ist nur ... ein Abfallprodukt.
Letzten Endes wäre es nicht mehr als eine notwendige Maßnahme, sein Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es wäre das, was er schon immer tat, nur dass er sich diesmal die Hände etwas schmutzig machen müsste. Doch ist es nicht seine Aufgabe als treuer und fürsorglicher Vater, Schaden von seiner Familie abzuwenden? Ist es nicht seine Pflicht, das Leben seiner Familie zu schützen und zu versuchen, ihnen die bestmögliche Lebensqualität zu sichern? Das kann er nicht, solange Jakob am Leben ist. Er würde auf ganzer Linie versagen und damit nicht nur sein Leben, sondern auch das von Eva und Kevin zerstören. Um sie zu retten, durfte es Jakob nicht geben.
Und schließlich ist es auch für ihn besser, sagt sich Holger. Er tut auch Jakob selbst einen Gefallen. Denn was hat dieser vom Leben zu erwarten außer Schmerzen, Qual und Abscheu? Was würde er von seinen Mitmenschen jemals ernten außer Abneigung, Spott und Ekel? Was wäre er für ein Vater, wenn er zuließ, dass sein Kind ein solches Leben ertragen müsste?
Er würde es für sie alle tun. Nicht nur für sich, nicht nur für Eva und Kevin. Auch für Jakob. Besonders für Jakob.
Wie in Trance bewegt sich Holger langsam vorwärts. Instinktiv weiß er, dass er nicht zögern darf. Er will über diesen Entschluss nicht länger nachdenken, sondern ihn in die Tat umsetzen.
Vorsichtig fasst er mit seinen Händen in die Finsternis, bis er Jakobs Decke berührt. Das Röcheln scheint noch lauter geworden zu sein und wird von gelegentlichem Stöhnen begleitet. Es klingt flehentlich, verzweifelt. Wer weiß schon, von welchen Dämonen Jakobs krankes Hirn heimgesucht wird?
Es ist gleich vorbei. Gleich hast du es hinter dir.
Holger zieht Jakobs Decke nach oben, reißt sie nach vorne und drückt sie an die Stelle, wo er dessen Gesicht vermutet. Sofort spürt er unter dem Stoff, wie sein Sohn aufwacht, wie er sich windet und zappelt. Gedämpft hört er seine erstickten Schreie.
„Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Es tut mir Leid.“ Wie in einer Litanei um die Vergebung seiner Tat wiederholt er immer wieder diese Worte, flüstert sie in die Dunkelheit, während er unter der Decke Jakobs Kopf ertastet und mit beiden Händen die Decke darum presst.
Jakob bäumt sich auf, doch die Bewegung ist erschreckend schwach. Nach kurzer Zeit verstummen seine Schreie, dann fällt sein kleiner Körper regungslos in sich zusammen. Doch Holger hält die Decke weiterhin um Jakobs Gesicht gedrückt.
Er kann nicht sagen, wie lange er in dieser Stellung verharrt. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht länger.
Irgendwann lässt er locker, zieht langsam die Decke zurück und legt sie sanft über den Körper seines Sohnes. Mit pochendem Herzen lauscht er in die Stille. Nichts regt sich mehr.
Er dreht sich um und geht langsam durch die Dunkelheit zurück in Richtung Flur. Er spürt nichts, weder Trauer noch Angst, auch keine Erleichterung.
An der Tür bleibt er kurz stehen und blickt ein letztes Mal zurück. Von der rechten Seite des Zimmers hört er Kevins ruhiges, friedliches Atmen.
Er hat nichts mitbekommen. Hat nicht mitbekommen, dass ich gerade auch sein Leben gerettet habe.
Als er blinzelt, stellt er fest, dass sich seine Augen mit Tränen gefüllt haben.
Lautlos schleicht er aus dem Zimmer seines Sohnes.
Als Eva die Augen öffnet, fallen bereits die ersten Sonnenstrahlen durch den Rollladen und tauchen das Zimmer in ein gelbes Licht. Durch das geschlossene Fenster hindurch hört sie Vögel zwitschern.
Sie schreckt hoch und blickt auf den Wecker neben ihrem Bett. Kurz vor halb acht. Ihr Blick wandert zur Tür, die lediglich angelehnt ist.
Unglaublich, denkt sie. Die Kinder haben durchgeschlafen.
Zum ersten Mal überhaupt, seit sie vor knapp einem halben Jahr mit beiden aus der Klinik kam. Vor allem Jakob ist ein sehr lebhaftes Baby mit unruhigem Schlaf. Oft wacht er nachts weinend auf, und es zerreißt Eva jedes Mal das Herz, wenn sie den Kleinen aus dem Bett nimmt. Sie nimmt sich dann besonders viel Zeit und redet mit leiser und zärtlicher Stimme auf ihn ein, damit er wieder in einen ruhigeren Schlaf findet.
Sie hört, wie Holger neben ihr schnarcht, riecht seine Ausdünstungen. Wieder einmal hat er getrunken, wieder einmal kam er spät in der Nacht nach Hause, als sie schon lange ins Bett gegangen war. Ihr Magen krampft sich kurz zusammen, wie immer, wenn sie sich Sorgen macht. Sie kann Holgers Verhalten nicht verstehen, seine Weigerung, mit ihr darüber zu reden. Auch für Eva war es ein Schock, als sie erfuhr, dass Jakob nicht gesund ist. Doch gerade seine Behinderung ist für sie eine Verpflichtung, sich besonders fürsorglich um ihn zu kümmern. Jakob ist mehr auf sie angewiesen als Kevin und wird das vermutlich auch immer bleiben. Vielleicht wird er in der Schule langsamer sein als andere Kinder, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird ihm auch der normale Alltag schwerer fallen. Doch er ist ein so süßes Baby; erst vor wenigen Tagen lächelte er sie zum ersten Mal an, als sie ihn badete. Das war wie ein Sonnenstrahl, der zwischen dunklen Wolken hindurch scheint und die Sorgen, die sie sich um seine Zukunft macht, für einen Augenblick verschwinden ließ.
Bei beiden Kindern würde es eine Herausforderung werden, sie auf ein eigenes Leben vorzubereiten, doch sie war überzeugt, es bei beiden zu schaffen. Und sie war auch überzeugt davon, dass beide ihnen ihre Zuneigung tausendfach zurückgeben würden. Jeder eben auf seine Art.
Und eines Tages würde auch Holger das erkennen. Er braucht einfach länger, um sich in der neuen Lebenssituation zurecht zu finden. Doch Eva weiß, dass er im Grunde seines Herzens ein liebender Familienvater ist, so dass auch er letzten Endes das Glück erkennen würde, das ihnen geschenkt wurde.
Zeit, aufzustehen. Mal sehen, ob die beiden schon wach sind.
Sie schwingt die Beine aus dem Bett und streckt sich. Dann steht sie auf und verlässt das Schlafzimmer. Noch immer ist sie erstaunt und freudig überrascht, dass auch Jakob diese Nacht ruhig schlafen konnte. Insgeheim beglückwünscht sie sich jedoch zu ihrem Entschluss vom letzten Abend. Jakob war sehr unruhig, rollte sich in seinem Bett immer wieder von einer Seite zur Anderen und wollte nicht aufhören zu weinen.
Vielleicht gefällt es ihm nicht in seinem Bettchen, dachte Eva und legte ihn kurzerhand in Kevins Bett. Dieser musste dafür in das von Jakob ausweichen. Holger hätte einen solchen Tausch vermutlich nicht gebilligt, doch schließlich war er nicht zu Hause, und es lag an Eva, die Kinder ins Bett zu bringen. Und tatsächlich – als jeder im Bett des Anderen lag, dauerte es keine zehn Minuten, bis beide ruhig schliefen.
Und das die ganze Nacht durch! Vielleicht machen wir das in Zukunft jetzt öfter so, denkt Eva.
Lächelnd und schon ein bisschen weniger müde betritt sie das Zimmer ihrer beiden Söhne.