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Kevin und Jakob

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01.01.2010
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Kevin und Jakob

Schlägt man das gemeinsame Fotoalbum von Holger und Eva Benning auf, so findet man auf den ersten Seiten Bilder, die ein junges Paar bei verschiedenen Aktivitäten zeigen: Einem Ausflug an einen See mit Picknick und Bootsfahrt, einem Wanderurlaub, einem Besuch auf einem Jahrmarkt mit Freunden. Dem Paar ist seine Verliebtheit anzumerken, meist halten sie sich an den Händen, man sieht sie eng umschlungen und küssend. Auf einem Bild stehen beide in der Abenddämmerung vor einem Haus, blicken sich tief in die Augen und umarmen sich, die Nasenspitzen eng beieinander. Zwischen diesen Fotos steht in mädchenhaft geschwungenen Buchstaben zu lesen: „Sommer 1974 – unsere erste gemeinsame Zeit. Wunderschön.“
Weitere Bilder zeigen das Paar mit Freunden bei einem Grillfest, einem Geburtstag und einer Silvesterfeier. Auf anderen Aufnahmen sieht man Holger und Eva an einem Strand liegen oder an der Reling eines Schiffes. Auf vielen dieser Fotos stellt Holger ein breites, selbstbewusstes Grinsen zur Schau, während Eva meist nur schüchtern lächelt.
Auf einer der nächsten Seiten ist nur ein einziges großes Bild zu sehen. Es zeigt Eva in einem Kreis aus Rosenblättern und mehreren Kerzen. Mit aufgerissenen Augen und einem überraschten Lachen blickt sie in die Kamera, beinahe so, als hätte Holger in dem Moment den Auslöser betätigt, als er die Frage stellte. „13. August 1976 – Ich habe JA gesagt“ steht in einem Herz unter dem Bild, so als habe es noch Zweifel an Evas Antwort gelassen.
Der Hochzeit im Januar 1977 widmen sich eine große Anzahl der nächsten Bilder. Sie zeigen die beiden in einem Park; Eva im weißen Brautkleid und Holger mit einem für ihn ungewohnt zurückhaltenden Lächeln. Es folgen Aufnahmen der beiden inmitten der Festgesellschaft. „Ein unvergesslicher Tag!“ ist in Evas geschwungenen Buchstaben zu lesen.
Wenige Seiten später ist Eva von der Seite in einem engen T-Shirt zu sehen. „Mai 1977 – auch wenn man es noch nicht sieht, bald sind wir eine richtige Familie“ lautet die Bildunterschift. Die folgenden Fotos dokumentieren das Jahr 1977 und zeigen, wie Evas Bauch runder wird. Ein Bild zeigt beide auf einem kleinen Sofa vor einem Adventskranz, bei dem zwei Kerzen brennen. Während Eva über das ganze Gesicht strahlt, blickt Holger ernst, beinahe nachdenklich in die Kamera. „Unsere letzte Weihnachtszeit nur zu Zweit. Bald ist er da, unser Schatz!“ steht darunter geschrieben.
Und obwohl seit jenem Tag über fünf Monate vergangen sind, ist dies das letzte Bild in Holgers und Evas Album. Dahinter folgen nur noch leere Seiten.

Es ist bereits spät in der Nacht, als Holger versucht, seine Wohnungstür aufzuschließen. Seine Kehle ist trocken und fühlt sich an, als hätte sie sich zusammengezogen. Er weiß, dies ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass er sich gleich übergeben muss.
Nicht im Flur, sagt er sich. Bitte nicht im Flur.
Er verfehlt das Schlüsselloch ein weiteres Mal und stützt sich mit einer Hand an der Wand ab. Langsam schiebt er den Schlüssel in das Schloss und dreht ihn um. Mit einem lauten Klacken schnappt es auf, und Holger hält inne.
Haben sie das gehört? Sie müssen es gehört haben.
Er wartet einen Augenblick, lauscht in die Stille der Wohnung. Nichts regt sich. Gut. Gut. Weder Eva noch die Kinder sind aufgewacht. Gott sei Dank.
Mit schwankenden Schritten betritt er die Wohnung. Schmerzen dröhnen in seinem Kopf, begleitet von einem konstanten Pochen gegen seine Schläfe. Die ersten Anzeichen des Katers.
Holger schließt die Tür und schleicht durch den Flur. Er traut sich nicht, Licht zu machen. Nicht im Flur. Obwohl er seit zwei Jahren mit Eva in dieser Wohnung lebt und jeden Winkel davon kennt, muss er die Hände ausstrecken, um sich zu orientieren. Immer wieder stößt er gegen die Wand, als befinde er sich auf einem Schiff bei schwerem Seegang.
Unsicher bewegt er sich in die Küche und schließt leise die Tür. Erst jetzt traut er sich, das Licht einzuschalten.
Er lehnt sich gegen den Kühlschrank und empfindet Ekel vor sich selbst. Sein Verhalten widert ihn an. Wieder einmal ist es mitten in der Nacht, wieder einmal kommt er sturzbetrunken nach Hause, wieder einmal ließ er Eva und die Kinder allein. Wie so oft in letzter Zeit, wie so verflucht oft.
Ein weiteres Mal zieht sich seine Kehle schmerzhaft zusammen, dann schießt bittere Magensäure in seinen Mund. Holger schluckt sie hinunter und schließt die Augen, hofft, dass er sich nicht übergeben muss.
Die Übelkeit verfliegt, doch das Hämmern in seinem Kopf bleibt. Vorsichtig nimmt er ein Glas aus dem Schrank und füllt es mit Leitungswasser. Er sieht alles verschwommen, und ihm kommt in den Sinn, dass er sich morgen vielleicht nicht einmal mehr erinnern kann, wie er nach Hause gekommen ist.
Das kalte Wasser entspannt seine Kehle. Er atmet laut, keucht beinahe. Davon abgesehen ist es noch immer still in der Wohnung. Vielleicht schafft er es ins Bett, ohne jemanden zu wecken. Vielleicht kann er sogar schlafen, ohne zu träumen. Wenn er betrunken zu Bett geht, kann er sich oft nicht an seine Träume erinnern, und schon allein das rechtfertigt den Alkoholkonsum. Zurzeit leidet er unter schlimmen Albträumen. Meist beginnen sie damit, dass er das Zimmer seiner Söhne betritt und sich Jakobs Bett nähert, gefolgt von einer schrecklichen Verwandlung seines Sohnes. Verschwitzt, zitternd, manchmal mit einem Schrei auf den Lippen wacht er irgendwann auf.
Eines Tages wird sein Traum Wirklichkeit sein, das weiß Holger. Es wird nicht so schnell wie im Traum passieren; stattdessen ist es ein Prozess, der Jahre dauert. Jakob wird sich verändern, nicht zu einem Monster wie in seinen Träumen, aber doch zu einer Sorte von Mensch, vor der Holger Ekel und Abscheu empfindet. Die er zu meiden versucht. Wie soll er jemanden meiden, der mit ihm unter einem Dach wohnt?
Er setzt sich auf einen Küchenstuhl und schlägt die Hände vor das Gesicht.
Warum musste das passieren? Warum nur musste ihnen so etwas passieren? Welche Sünde hatten sie begangen, um mit einem solchen Schicksal, einem solchen Fluch bestraft zu werden?

Holger liebt es, Pläne zu entwerfen und Abläufe zu organisieren. Er hat die Dinge gern selbst in der Hand, ist lieber der Marionettenspieler als die Marionette. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen weiß er, welchen Weg sein Leben nehmen wird; statt sich vom Schicksal und unkontrollierbaren Umständen treiben zu lassen, kennt er die Richtung und bewegt sich dabei mit entschlossenen Schritten. Dabei geht er den Weg nicht nur, er ebnet ihn sich regelrecht. Auf sich selbst kann er sich verlassen, auf sonst niemanden. Seit Kindesbeinen ist er sich dessen bewusst, und daran wird er bis zu dem Tag festhalten, an dem man ihn in einen Sarg legt.
Bereits früh wusste er, dass er mit dreißig Jahren verheiratet wäre. Seine Frau suchte er sich nach praktischen Gründen aus. Natürlich musste sie attraktiv sein, doch mehr als tiefe Zuneigung empfand er nie für sie. Seiner Meinung nach ist Liebe die Erfindung von realitätsfernen Romantikern und schwachen, verweichlichten Menschen, die ihre Schwäche vertuschen und sie in eine erhabene Eigenschaft verwandeln wollen, indem sie sie Liebe nennen. Doch weil nur die Worte und die Fassade eines Menschen zählen und niemals der wirkliche Charakter, kann er Eva glaubhaft vermitteln, sie zu lieben. Es macht keinen Unterschied.
Sie ist die perfekte Frau für ihn. Sie ist eine gründliche Hausfrau und eine fürsorgliche Mutter, ohne jeden Anspruch an eigene berufliche Selbstverwirklichung. Nach genau einer solchen Frau suchte Holger, denn er weiß, dass eine intakte Familie das Fundament einer erfolgreichen beruflichen Karriere bildet. Wie den Rest seines Lebens hat er auch diese durchgeplant. In den letzten beiden Jahren konnte er sich in seinem Unternehmen zu einem angesehenen und respektierten Gruppenleiter entwickeln. Seine Lebensplanung sah vor, dass er in spätestens fünf Jahren Abteilungsleiter wäre. Mit vierzig wollte er seinen eigenen Bereich übernehmen und in die Geschäftsleitung wechseln. Dank seiner Intelligenz und seiner Zielstrebigkeit zweifelte er auch keinen Augenblick daran, dass ihm dies gelänge.
Er plante, mit dreißig zum ersten Mal Vater zu werden. Vielleicht war es noch ein wenig früh, da sie noch in dieser kleinen Wohnung lebten, doch es würde Eva in ihrem Alltag beschäftigten und ablenken. Beim ersten Kind wünschte er sich einen Jungen.
In spätestens zwei Jahren wollten sie sich ein eigenes Haus leisten, vielleicht an einem Hang mit Blick zum See. Hauptsache raus aus diesem Loch. Dann könnte er sich ein Auto kaufen, um das ihn andere beneideten, und sie hätten das Geld, um in vornehmen Restaurants zu essen und in teuren Hotels Urlaub zu machen. Mit Mitte dreißig sollte dann das zweite Kind kommen, dieses Mal ein Mädchen. Ihre Familie wäre dann perfekt. Sie würden in angesehenen Kreisen verkehren, gut gestellte Freunde haben, diese zum Abendessen einladen und mit ihnen im Sonnenuntergang auf ihrer Terrasse sitzen. Er sah dieses Leben richtig vor sich, plante es und war fest davon überzeugt, dass es auch diesen Weg nahm.
Es begann auch alles wie erwartet. In Eva fand er die Frau, die er suchte, die bereit war, eben dieses Leben mit ihm zu führen. Zum richtigen Zeitpunkt wurde sie schwanger, und es hatte den Anschein, als bewege sich Holgers Leben auf dem ihm bestimmten Pfad.
Bis zum Januar dieses Jahres. Bis zur Geburt.
Als etwas geschah, das Holger vollkommen aus der Bahn warf.

Noch während er mit den Händen vor dem Gesicht auf dem Küchenstuhl sitzt, erinnert er sich an jene Nacht Anfang Januar dieses Jahres. In den frühen Morgenstunden rüttelte Eva ihn an der Schulter, und er war sofort hellwach. Gemeinsam fuhren sie ins Krankenhaus, und Holger hielt ihre Hand im Kreißsaal, während Eva von Wehen geschüttelt wurde. Nach etwa zwei Stunden erblickte sein Erstgeborener das Licht der Welt. Kevin. Wie in seinen Vorstellungen war es ein Junge, und Holger sah darin einen weiteren Beweis, dass er jede Facette seines Lebens kontrollieren konnte.
Doch noch bevor die Hebamme die Nabelschnur durchtrennte, wurde Eva zur Überraschung aller Beteiligten von weiteren Wehen gepackt. Sie schrie lauter als je zuvor. Dies war der Moment, als alles außer Kontrolle geriet.
Es gab ein zweites Kind, einen Zwilling. Ein Zwilling, der niemals geplant und der nicht entdeckt worden war, ein Zwilling, der sich wie ein böser Geist in Holgers und Evas Leben schlich. Bei der Geburt kam es zu Komplikationen. Evas Hand verkrampfte sich in der von Holger, während die Hebamme und ein herbeigerufener Stationsarzt Jakob entbanden. Direkt nach seiner Geburt wurde er aus dem Kreißsaal gebracht. Eva weinte, als ihr Kevin überreicht wurde. Er war ein gesundes Kind, doch die Verwirrung über und die Angst um seinen Zwilling machten jede Freude zunichte.
Es war der zuständige Arzt, der Holger etwa zwei Stunden nach der Geburt erklärte, dass Jakob nicht gesund war.
„Wir haben den Verdacht, dass ihr Sohn unter dem Down-Syndrom leidet“, sagte der Arzt in nüchternem Tonfall. Er war ein junger Schnösel frisch von der Uni, und Holger fand ihn vom ersten Moment an unsympathisch.
„Was soll das heißen?“, fuhr Holger ihn an.
„Dabei handelt es sich um einen Gendefekt. Ein bestimmtes Chromosom, welches normalerweise nur zweimal vorliegt, gibt es dann dreimal. Die Krankheit wird auch als Mongolismus bezeichnet, auch wenn diese Bezeichnung heute nicht mehr verwendet wird.“
Der Arzt sprach noch weiter, doch Holger hörte ihn kaum mehr. Die Diagnose eines behinderten Kindes traf ihn wie ein Schlag in den Solarplexus. Alle Kraft wich aus seinen Muskeln, und er erwartete, jeden Augenblick auf den Boden zu sinken.
„Wie schlimm ist es?“, wollte Holger wissen, und der Arzt sah ihn fragend an. „Wie schlimm ist die Behinderung? Ist er geistig behindert, oder wie?“
„Zunächst einmal müssen wir feststellen, ob es sich wirklich um das Down-Syndrom handelt. Hierzu müssen wir eine Chromosomenanalyse durchführen, bei der wir – “
„Und falls ja?“
„Was meinen Sie?“
„Ist er geistig behindert, wenn Sie feststellen, dass er an diesem Syndrom leidet?“
„So früh kann man das noch nicht sagen.“ Der Arzt kratzte sich am Kopf. „In den allermeisten Fällen ist es allerdings so, dass diese Krankheit zu einer geistigen Behinderung führt.“
Holger spürte, wie er am ganzen Körper zu schwitzen begann. Eine geistige Behinderung. Er verstand nicht, wie es möglich war, dass seine Frau ein solches Kind auf die Welt gebracht hatte. Er ging diesen Menschen aus dem Weg, wann immer es möglich war. Er ekelte sich vor ihnen, wenn er ihnen auf der Straße begegnete. Oft kreischten sie ohne bestimmten Grund oder gaben andere Geräusche von sich, hatten ihre Körperfunktionen nicht unter Kontrolle oder sabberten in einem Rollstuhl in ihren Schoß. Sie waren vollkommen unberechenbar in ihrem Verhalten. Einmal hatte er gesehen, wie ein geistig behinderter Mann einem unbeteiligten Passanten ohne Grund in die Hand biss. Ein anderes Mal hatte sich eine Gruppe von behinderten Menschen in einem Restaurant an einen Nachbartisch gesetzt, und Holger war gezwungen gewesen, ihnen beim Essen zuzusehen. Es war widerlich, widerlich, widerlich!
Es konnte einfach nicht sein, dass Eva ein solches Kind in die Welt gesetzt hatte. Es durfte nicht sein.
Wenige Wochen später wurde offiziell das Down-Syndrom bei Jakob diagnostiziert.

Holger steht langsam auf. Er will nicht an die Geburt oder die Diagnose denken, er will an überhaupt nichts denken, das mit Jakob zu tun hat. Seit der Geburt hat er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, nichts mehr unter Kontrolle zu haben. Er begann, gegen seine bösen Gedanken und die Albträume Alkohol zu trinken, immer mehr, immer häufiger.
Bereits direkt nach der Geburt war sich Holger der Konsequenzen bewusst. In den folgenden Tagen breiteten sie sich dann wie ein schmieriger Ölfilm in seinem Bewusstsein aus, glitschig und stinkend und begruben all seine Hoffnungen unter sich.
Mit einem behinderten Kind kann er all seine Pläne über den Haufen werfen. Das zweite Kind in fünf Jahren können sie bereits jetzt vergessen, schließlich hätten sie mit Jakob genug Arbeit. Außerdem würden sie auch in fünf Jahren nicht in einem größeren Haus wohnen, sondern immer noch in dieser Bruchbude sitzen. Wovon sollten sie sich dieses Haus denn kaufen? Selbst wenn sie wohlhabend wären – was sie nicht waren, weder jetzt noch in fünf Jahren – würde das meiste Geld für Behandlungen und Medizin drauf gehen. Auch die Karriere konnte Holger vergessen. Die Familie sollte ein stabiles Fundament sein, doch diese Familie würde ihn Kraft kosten anstelle ihm welche geben, sie würde die Lebensenergie aus ihm aussaugen anstelle ihm Neue zu spenden. Er kann von Glück sagen, wenn er überhaupt seine jetzige Stellung behielt, vom beruflichen Aufstieg mal ganz zu schweigen. Schließlich kommt er schon jetzt oft genug verkatert, schlecht gelaunt und unkonzentriert zur Arbeit.
Karriere, gesellschaftliche Stellung, ein Haus am See, ein teures Auto oder Urlaube – das alles löste sich in Luft auf, fiel in dem Moment wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als Jakob aus Evas Bauch gezogen wurde, als er sich wie ein Parasit in ihr Leben schlich und es von innen her aufzufressen begann.
Mit müden Schritten geht er in Richtung Tür, löscht das Licht und betritt den Flur. Er hofft, lautlos ins Bett zu kommen, ohne Eva zu wecken. Kurz vor seiner Schlafzimmertür hält er ein weiteres Mal inne, die Hand bereits auf der Klinke. Die Wohnung liegt in tiefer Stille. Bis auf das Rauschen seines eigenen Blutes hört er nichts.
Seltsam. Normalerweise hört er Jakobs Atemgeräusche selbst durch zwei geschlossene Türen hindurch.
Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er beginnt, Konturen zu erkennen und sieht, dass die Tür der Zwillinge offen steht. Wie oft muss er Eva noch sagen, dass sie diese Tür schließen soll? Jakob wacht jede Nacht mindestens einmal auf, meist öfter. Er schreit und krächzt, er strampelt und wirft seinen kleinen Körper in seinem Bett hin und her. Eva will seine Schreie so früh wie möglich hören, aber Holger kann Jakobs Geräusche noch nicht einmal ertragen, wenn dieser schläft.
Doch obwohl die Tür angelehnt ist, kann Holger nichts hören.
Überaus seltsam. Ob es am Alkohol liegt?
Trotz seines Widerwillens nähert er sich dem Zimmer seiner Söhne. Hinter der angelehnten Tür befindet sich undurchdringliche Schwärze, die noch dunkler wirkt als im Flur.
In manchen seiner schlimmsten Träume steht er so vor der Tür und blickt in das finstere Zimmer. Dann hört er schlurfende Schritte, die langsam über den Teppich streichen und sich ihm nähern. Er will fliehen, doch sein Körper bewegt sich nur in Zeitlupe, und plötzlich stürzt Jakob aus der Dunkelheit heraus, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, die Hände zu Klauen verformt, und bohrt seine langen Nägel in Holgers Gesicht.
Er fröstelt. Diese Stille. Diese unheilvolle, trügerische Stille.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Warum nur kann er Jakob nicht hören?
Vielleicht ist er gestorben.
Keine Regung, kein Gefühl begleitet diesen Gedanken. Holger überlegt, ob das sein kann. Manchmal sterben Kinder in diesem Alter, das weiß er. Sie hören einfach auf zu atmen, während sie schlafen. Krippentod nennen Ärzte dieses Phänomen.
Er will seine Lippen befeuchten, doch seine Zunge ist trocken wie Sandpapier. Er steht vor dem Zimmer seiner Kinder und fühlt das Pochen seines Herzens bis in die Fingerspitzen, spürt, wie die Wirkung des Alkohols langsam nachlässt.
Schau nach. Geh einfach rein und schau nach, dann weißt du Bescheid.
Doch er zögert. Soll Eva ihn doch finden, wenn er wirklich gestorben ist. Er hat kein Interesse, seine Leiche zu sehen, schließlich empfindet er schon genug Ekel, wenn er ihn lebendig betrachten muss.
Aber wenn er wirklich tot ist?
Es liegt tatsächlich im Bereich des Möglichen, sonst würde er ihn doch hören. Eine ungeduldige Aufregung flammt in ihm auf, und er spürt, dass er dem sofort nachgehen muss. Er muss sich jetzt sofort überzeugen. Andernfalls könnte er heute Nacht keine Sekunde schlafen.
Mit feuchten Händen stößt er vorsichtig die Tür auf und schleicht sich langsam in das Zimmer.

Dort ist es so dunkel, dass Holger nicht einmal seine eigene Hand vor den Augen erkennen könnte.
Einen kurzen Moment überlegt er, Licht zu machen. Doch wenn Jakob noch am Leben sein sollte, würde ihn das nur wecken, und das will er nicht riskieren.
Er geht auf die linke Seite des Raums, Jakobs Seite. Vor einigen Wochen stellte Holger beide Stangenbetten an gegenüberliegende Zimmerwände. In der Nacht zuvor hatte er geträumt, wie Jakob durch die Stangen nach Kevins Hand griff und ihm zwei Finger abbiss. Auch wenn er noch keine Zähne hatte, war es besser, kein Risiko einzugehen.
Holger erkennt einen Geruch, der ihn an eine Mischung aus verdorbenem Obst und Fäkalien erinnert. Der Geruch ist nicht stark, doch er nimmt ihn jedes Mal wahr, wenn er sich Jakob nähert. Es ist ganz egal, wie oft man dieses Ding badet, ihm haftet ständig ein Geruch der Fäulnis und des Verdorbenen an. Holger nimmt an, dass sich das im Laufe seines Lebens noch verschlimmern wird, vor allem, weil man ihn auch als erwachsenen Menschen noch wickeln müsste. Ihr ekelhafter Geruch ist einer der Gründe, weshalb er sich von Behinderten grundsätzlich fern hält.
Mit ausgestreckten Armen und kleinen Schritten bewegt sich Holger durch den Raum. Die Dunkelheit ist zu intensiv, als dass sich seine Augen daran gewöhnen könnten. Noch immer kann er absolut nichts sehen. Plötzlich berühren seine Fingerspitzen Jakobs Bett.
Er lauscht. Bei dem Gedanken, dass Jakob unter ihm in dieser undurchdringlichen Finsternis liegt, bekommt er eine Gänsehaut. Er denkt an Jakobs Gesicht, seine schwarzen Haare und die verformten Augen mit den für ein Baby ungewöhnlich buschigen Brauen.
Noch immer kann Holger keinen Laut vernehmen. Er könnte beinahe glauben, das Bett unter ihm sei leer.
Ist er tot? Ist er wirklich tot?
Sein Herzschlag beschleunigt sich. Wenn sich Jakob wirklich in der Dunkelheit dieses Zimmers aus dem Leben geschlichen hätte, würde sich vieles ändern.
Alles. Es würde sich alles ändern.
Zunächst einmal wären sie natürlich traurig, müssten es sein. Doch nach einiger Zeit – Holger schätzt, ein paar Wochen – würde sich ihr Leben wieder normalisieren. Nach einem kleinen, unerwarteten Umweg würde es wieder in die Bahnen gelenkt, die Holger vorgesehen hatte. Er müsste sich keine Sorgen mehr machen und auch keinen Alkohol mehr trinken. Seine berufliche Karriere könnte er wie geplant fortsetzen. Das Haus, das Auto und die Abende auf der Terrasse rückten wieder in greifbare Nähe. Vielleicht würden sie auf das zweite Kind verzichten – es wäre Unsinn, erneut ein solches Risiko einzugehen. Auch mit einem Kind könnten sie eine perfekte Familie sein.
Irgendwann würden sie Jakob vergessen haben. Vielleicht legten sie sich stattdessen einen Hund zu.
Holger leckt sich erneut über die Lippen. Die Vorstellung ist schön, so wunderschön und verführerisch.
Und naheliegend. Noch immer kann er kein Geräusch hören. Er muss nun doch das Licht einschalten, das ist ihm klar. Er wird dieses Risiko eingehen, denn es sieht ganz so aus, als ob Jakob tatsächlich –
In diesem Augenblick beginnt Jakob unter ihm zu schnaufen, und Holger wäre um ein Haar nach hinten gefallen. Nur mit Mühe kann er einen Schrei zurückhalten.
Nein! Nein! Nein!
Es ist dieses Röcheln, dieses schnappartige Grunzen, das ihn bis in seine tiefsten Albträume verfolgt, das sich in seinen Verstand gefressen hat wie ein Brandzeichen. Sinnbildlich steht es für die Zerstörung des Lebens, das er sich so mühevoll aufgebaut hat.
Jede Hoffnung weicht aus seinem Körper, und seine Knie werden weich. Seine Hände verkrampfen sich um das Bett des Sohnes, den er niemals haben wollte, und mit tiefer Erschütterung hört er, wie dieser geräuschvoll Atemluft einsaugt und wieder ausstößt.
Jakob ist noch am Leben. Natürlich. Alles andere wäre auch zu schön gewesen.
Holger ist den Tränen nahe. Warum musstest du unser Leben zerstören, fragt er sich und umklammert das Stangenbett. Welches Recht hast du, mein Leben zu zerstören?
Es hätte alles so schön kein können. Es hätte alles wieder seine Richtigkeit haben können.
Und wenn ich nachhelfe?
Wie eine aufgedunsene Leiche an einen Strand wird dieser Gedanke in sein Bewusstsein gespült. Plötzlich spürt er einen metallischen Geschmack im Mund. Ob die Polizei einen Unterschied feststellen kann zwischen dem Tod durch Ersticken und dem Krippentod? Vermutlich nicht – denn schließlich erstickten Kinder, wenn sie am Krippentod sterben.
Er fühlt sich schmutzig, spürt erneuten Ekel vor sich selbst. Wie kann er nur darüber nachdenken, seinen eigenen Sohn zu töten?
Er ist nicht mein Sohn. Ich wollte ihn nicht. Wir wollten ihn nicht. Wir wollten Kevin. Jakob ist nur ... ein Abfallprodukt.
Letzten Endes wäre es nicht mehr als eine notwendige Maßnahme, sein Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es wäre das, was er schon immer tat, nur dass er sich diesmal die Hände etwas schmutzig machen müsste. Doch ist es nicht seine Aufgabe als treuer und fürsorglicher Vater, Schaden von seiner Familie abzuwenden? Ist es nicht seine Pflicht, das Leben seiner Familie zu schützen und zu versuchen, ihnen die bestmögliche Lebensqualität zu sichern? Das kann er nicht, solange Jakob am Leben ist. Er würde auf ganzer Linie versagen und damit nicht nur sein Leben, sondern auch das von Eva und Kevin zerstören. Um sie zu retten, durfte es Jakob nicht geben.
Und schließlich ist es auch für ihn besser, sagt sich Holger. Er tut auch Jakob selbst einen Gefallen. Denn was hat dieser vom Leben zu erwarten außer Schmerzen, Qual und Abscheu? Was würde er von seinen Mitmenschen jemals ernten außer Abneigung, Spott und Ekel? Was wäre er für ein Vater, wenn er zuließ, dass sein Kind ein solches Leben ertragen müsste?
Er würde es für sie alle tun. Nicht nur für sich, nicht nur für Eva und Kevin. Auch für Jakob. Besonders für Jakob.
Wie in Trance bewegt sich Holger langsam vorwärts. Instinktiv weiß er, dass er nicht zögern darf. Er will über diesen Entschluss nicht länger nachdenken, sondern ihn in die Tat umsetzen.
Vorsichtig fasst er mit seinen Händen in die Finsternis, bis er Jakobs Decke berührt. Das Röcheln scheint noch lauter geworden zu sein und wird von gelegentlichem Stöhnen begleitet. Es klingt flehentlich, verzweifelt. Wer weiß schon, von welchen Dämonen Jakobs krankes Hirn heimgesucht wird?
Es ist gleich vorbei. Gleich hast du es hinter dir.
Holger zieht Jakobs Decke nach oben, reißt sie nach vorne und drückt sie an die Stelle, wo er dessen Gesicht vermutet. Sofort spürt er unter dem Stoff, wie sein Sohn aufwacht, wie er sich windet und zappelt. Gedämpft hört er seine erstickten Schreie.
„Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Es tut mir Leid.“ Wie in einer Litanei um die Vergebung seiner Tat wiederholt er immer wieder diese Worte, flüstert sie in die Dunkelheit, während er unter der Decke Jakobs Kopf ertastet und mit beiden Händen die Decke darum presst.
Jakob bäumt sich auf, doch die Bewegung ist erschreckend schwach. Nach kurzer Zeit verstummen seine Schreie, dann fällt sein kleiner Körper regungslos in sich zusammen. Doch Holger hält die Decke weiterhin um Jakobs Gesicht gedrückt.
Er kann nicht sagen, wie lange er in dieser Stellung verharrt. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht länger.
Irgendwann lässt er locker, zieht langsam die Decke zurück und legt sie sanft über den Körper seines Sohnes. Mit pochendem Herzen lauscht er in die Stille. Nichts regt sich mehr.
Er dreht sich um und geht langsam durch die Dunkelheit zurück in Richtung Flur. Er spürt nichts, weder Trauer noch Angst, auch keine Erleichterung.
An der Tür bleibt er kurz stehen und blickt ein letztes Mal zurück. Von der rechten Seite des Zimmers hört er Kevins ruhiges, friedliches Atmen.
Er hat nichts mitbekommen. Hat nicht mitbekommen, dass ich gerade auch sein Leben gerettet habe.
Als er blinzelt, stellt er fest, dass sich seine Augen mit Tränen gefüllt haben.
Lautlos schleicht er aus dem Zimmer seines Sohnes.

Als Eva die Augen öffnet, fallen bereits die ersten Sonnenstrahlen durch den Rollladen und tauchen das Zimmer in ein gelbes Licht. Durch das geschlossene Fenster hindurch hört sie Vögel zwitschern.
Sie schreckt hoch und blickt auf den Wecker neben ihrem Bett. Kurz vor halb acht. Ihr Blick wandert zur Tür, die lediglich angelehnt ist.
Unglaublich, denkt sie. Die Kinder haben durchgeschlafen.
Zum ersten Mal überhaupt, seit sie vor knapp einem halben Jahr mit beiden aus der Klinik kam. Vor allem Jakob ist ein sehr lebhaftes Baby mit unruhigem Schlaf. Oft wacht er nachts weinend auf, und es zerreißt Eva jedes Mal das Herz, wenn sie den Kleinen aus dem Bett nimmt. Sie nimmt sich dann besonders viel Zeit und redet mit leiser und zärtlicher Stimme auf ihn ein, damit er wieder in einen ruhigeren Schlaf findet.
Sie hört, wie Holger neben ihr schnarcht, riecht seine Ausdünstungen. Wieder einmal hat er getrunken, wieder einmal kam er spät in der Nacht nach Hause, als sie schon lange ins Bett gegangen war. Ihr Magen krampft sich kurz zusammen, wie immer, wenn sie sich Sorgen macht. Sie kann Holgers Verhalten nicht verstehen, seine Weigerung, mit ihr darüber zu reden. Auch für Eva war es ein Schock, als sie erfuhr, dass Jakob nicht gesund ist. Doch gerade seine Behinderung ist für sie eine Verpflichtung, sich besonders fürsorglich um ihn zu kümmern. Jakob ist mehr auf sie angewiesen als Kevin und wird das vermutlich auch immer bleiben. Vielleicht wird er in der Schule langsamer sein als andere Kinder, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird ihm auch der normale Alltag schwerer fallen. Doch er ist ein so süßes Baby; erst vor wenigen Tagen lächelte er sie zum ersten Mal an, als sie ihn badete. Das war wie ein Sonnenstrahl, der zwischen dunklen Wolken hindurch scheint und die Sorgen, die sie sich um seine Zukunft macht, für einen Augenblick verschwinden ließ.
Bei beiden Kindern würde es eine Herausforderung werden, sie auf ein eigenes Leben vorzubereiten, doch sie war überzeugt, es bei beiden zu schaffen. Und sie war auch überzeugt davon, dass beide ihnen ihre Zuneigung tausendfach zurückgeben würden. Jeder eben auf seine Art.
Und eines Tages würde auch Holger das erkennen. Er braucht einfach länger, um sich in der neuen Lebenssituation zurecht zu finden. Doch Eva weiß, dass er im Grunde seines Herzens ein liebender Familienvater ist, so dass auch er letzten Endes das Glück erkennen würde, das ihnen geschenkt wurde.
Zeit, aufzustehen. Mal sehen, ob die beiden schon wach sind.
Sie schwingt die Beine aus dem Bett und streckt sich. Dann steht sie auf und verlässt das Schlafzimmer. Noch immer ist sie erstaunt und freudig überrascht, dass auch Jakob diese Nacht ruhig schlafen konnte. Insgeheim beglückwünscht sie sich jedoch zu ihrem Entschluss vom letzten Abend. Jakob war sehr unruhig, rollte sich in seinem Bett immer wieder von einer Seite zur Anderen und wollte nicht aufhören zu weinen.
Vielleicht gefällt es ihm nicht in seinem Bettchen, dachte Eva und legte ihn kurzerhand in Kevins Bett. Dieser musste dafür in das von Jakob ausweichen. Holger hätte einen solchen Tausch vermutlich nicht gebilligt, doch schließlich war er nicht zu Hause, und es lag an Eva, die Kinder ins Bett zu bringen. Und tatsächlich – als jeder im Bett des Anderen lag, dauerte es keine zehn Minuten, bis beide ruhig schliefen.
Und das die ganze Nacht durch! Vielleicht machen wir das in Zukunft jetzt öfter so, denkt Eva.
Lächelnd und schon ein bisschen weniger müde betritt sie das Zimmer ihrer beiden Söhne.

 

Hallo Schwups!

Der Text hat mir insofern gefallen, als dass er beinahe fehlerfrei und recht flüssig zu lesen ist. Das erst einmal vorneweg. Nur um den Grundeindruck zu schildern, ich fürchte, dass sich meine Kritik negativer lesen wird als sie gemeint ist.

Du bringst zunächst das Bild einer idyllischen Familie aufs Tapet, einer Vorzeigefamilie sozusagen, und ganz zu Anfang weckst du in uns Erwartungen, die du auch bei Holger zugibst, und die - zugegebenermaßen - recht gruselig sind (ich glaube sogar, hier liegt der wahre Horror deiner Story, leider hast du dies nicht konsequent verfolgt)

Der Anfang hat mich nicht völlig überzuegt. Die Idee ist sehr gut, mit dem Fotoalbum den Leser sofort ins Geschehen zu ziehen. Aber das ist dir nicht ganz gelungen, zuviel Allgemeinplätze, kaum Eigenheiten, die Figuren sind stromlinienförmig, nicht zu fassen. (Das passiert dann etwas später)

Der Stil ist mir persönlich etwas zu gefällig, es gibt ja bei dieser Einschätzung durchaus eine leicht negative Note - S.K. schreibt gefällig (schrieb, vor allen Dingen)
Da kann man rein formal nichts Neues finden, nichts Aufregendes. Du ordnest den Stil ziemlich der Geschichte unter.

Die Geschichte dann läuft auf den wirklich perversen Charakterzug Holgers hinaus, sein Leben zu planen und alle widrigen Umstände (wirklich alle) zu beseitigen. (Ich habe selbst mal eine Story gepostet [damals, als ich noch enthusiastisch war:D], die sich explizit mit diesem Thema beschäftigte)

Doch letztlich wird der eigentliche Konflikt deiner Geschichte nicht gelöst, wir haben eine simple "böser-Mensch-wird-bestraft"-Geschichte. Das ist mir zu einfach, mir fehlt da was, du ziehst die ganze Thematik damit ins Eindimensionale.
Verstehe mich bitte nicht falsch, die Story ist lesenswert, unterhaltsam und auch spannend. Und ganz sicher wird sie hier ihre Freunde finden. Aber, was hätte draus werden können?

Wieder einmal ist es mitten in der Nacht, wieder einmal kommt er sturzbetrunken nach Hause, wieder einmal ließ er Eva und die Kinder allein. Wie so oft in letzter Zeit, wie so verflucht oft.

Ich glaube nicht, dass er solche Gedanken hegt, während er sturzbetrunken ist. Die Gedanken kommen danach. Insofern ist diese Stelle wenigstens nicht authentisch.


Der Arzt kratzte sich am Kopf, wie um Zeit zu schinden.

Aber das macht er doch: Zeit schinden. Und diese Geste ist so offensichtlich, dass du sie eigentlich nicht zu erklären brauchst. Diese Erklärungen der Handlungen der Prots sind überflüssig und unterfordern den Leser.


Also, wie gesagt, ich hab sie gern gelesen, deine Geschichte. Aber es hat etwas gefehlt. Du wirst mir natürlich sagen, dass du nur eine einfache Pointen-Story schreiben wolltest. Und da kann ich dir dann nicht widersprechen.

Schöne Grüße von meiner Seite!

 

Hallo Schwups,

Spazieren wir mal hindurch ...

Langsam und unsicher bewegt er sich in die Küche und schließt leise die Tür.
"Langsam und" kann für mich raus. Das ergibt sich aus dem "unsicher" und der Gesamtsituation. Im Zweifel ist ein Adjektiv meist stärker.

Zurzeit leidet er unter schlimmen Albträumen. Meist beginnen sie damit, dass er das Zimmer seiner Söhne betritt und sich Jakobs Bett nähert, gefolgt von einer schrecklichen Verwandlung seines Sohnes.
Dafür, dass das eine wichtige Stelle, sowohl für die Spannung als auch für den Fortgang der Handlung ist, ist mir das zu berichtend nebenher. "Zur Zeit" klingt so nach "Ach, übrigens ...". Und dass das eigentliche Grauen sich dann substantivisch im letzten Teil des Satzes hinter ein "gefolgt" geklemmt findet, geht für mich nicht. Da muss mehr Erlebnisdichte, dafür kann der Absatz auch gern länger werden.

Eines Tages wird sein Traum Wirklichkeit sein, das weiß Holger.
Würde ich ein "werden" machen. Ist für mich prozesshafter und damit lebendiger.

Jakob wird sich verändern, nicht zu einem Monster wie in seinen Träumen, aber doch zu einer Sorte von Mensch, vor denen Holger Ekel und Abscheu empfindet. Die er zu meiden versucht.
vor der. Es geht ja um die "Sorte Mensch".

Warum musste das passieren? Warum nur musste ihnen so etwas passieren? Welche Sünde haben sie begangen, um mit einem solchen Schicksal, einem solchen Fluch bestraft zu werden?
Jetzt kommen wir zu einer Sache, die mich, in Anbetracht der ansonsten fehlerarmen Geschichte, etwas gestört hat. Ich habe das Gefühl, dass du bei den Verben, sowohl was Modi aber auch Zeitformen anbetrifft, nicht ganz sauber gearbeitet hast.
Konkret gehen die "musste" (Imperfekt) zeitlich nicht mit dem "haben" (Perfekt) zusammen. Ich würde sagen: Welche Sünde hatten ... (Die Sünde muss ja vor der Bestrafung erfolgt sein ...)

Nach genau einer solchen Frau suchte Holger, denn er weiß, dass eine intakte Familie das Fundament einer erfolgreichen beruflichen Karriere bildet.
Da sollte es schon "wusste" sein. Davon abgesehen, dass seine Gewissheiten in dieser Richtung in der Hauptzeit der Erzählung wahrscheinlich ohnehin erschüttert sind, stützte sich seine Suche ja auf seine damalige Gewissheit.
Das mit der Familie hat mich hier übrigens irritiert. Später erläuterst du ja, dass er sich die Familie als Kraftquell vorstellte, doch hier war ich noch verwundert, da Familie-Beruf heute ja eher als Zielgrößenkonflikt wahrgenommen wird.

Mit vierzig wollte er seinen eigenen Bereich übernehmen und in die Geschäftsleitung wechseln. Dank seiner Intelligenz und seiner Zielstrebigkeit zweifelte er auch keinen Augenblick daran, dass ihm dies gelang.
gelingen würde

In Eva fand er die Frau, die er suchte, die bereit war, eben dieses Leben mit ihm zu gehen.
entweder "Weg zu gehen" oder "Leben zu führen"

Nach etwa zwei Stunden erblickte sein Erstgeborener das Licht der Welt. Kevin.
Also ... Ich will niemandem auf doe Füße treten, aber ... Der Name "Kevin" scheint mir gar nicht in diese Obere-Mittelschicht-Phantasien zu passen.

Die Diagnose eines behinderten Kindes kam für ihn einem Schlag in den Solarplexus gleich.
Da würde ich "war für ihn wie ein Schlag" oder besser "traf ihn wie ein Schlag" machen, da das "gleichkommen" für mich eher nach bewusster Abschätzung als nach momentanem Erleben klingt.

Die Familie sollte ein stabiles Fundament sein, doch diese Familie würde ihn Kraft kosten anstelle ihm welche geben, sie würde die Lebensenergie aus ihm aussaugen anstelle ihm Neue zu spenden.
Müsste es nicht "anstatt ihm welche zu geben" heißen? Außerdem würde ich einen der inhaltlich identischen Satzteile streichen ...

Doch war es nicht seine Aufgabe als treuer und fürsorglicher Vater, Schaden von seiner Familie abzuwenden? War es nicht seine Pflicht, das Leben seiner Familie zu schützen und zu versuchen, ihnen die bestmögliche Lebensqualität zu sichern?
ist

Sooo ...
Also, die Geschichte ist geradlinig und zielstrebig erzählt, dabei angenehm zu lesen - "gefällig", schrieb Hanniball. Und während Holger sich durch das Dunkel im Zimmer der beiden Söhne tastet, kommt durchaus eine beklemmende Stimmung auf.
Allerdings erreichte der Spannungsbogen für mich nicht die wohl gewünschte Höhe, da ich den weiteren Verlauf etwa ab da ahnte, wo Holger den Tod seines Sohnes vermutet - etwas früher noch sogar, glaube ich. Ob das jetzt daran liegt, dass ich schon zu viele solcher Pointen-Horror-Geschichten gelesen habe oder das einfach eine plötzliche Eingebung war ... Keine Ahnung. Wäre interessant, ob es noch wem so erging. Na, da war dann ein wenig die Luft raus. (Wenn auch nicht völlig.)
Zudem scheint mir hier vieles doch recht Deus-ex-machina-mäßig. Dieses zufällige Zusammentreffen ... Hm. Vielleicht bin ich da aber auch gerade überkritisch. Werde noch mal drüber schlafen müssen.
Zwei Fragen, die sich mir noch eröffneten - da ich mich mit dem Down-Syndrom nicht auskenne: Ist es denn möglich, dass ein Zwilling davon betroffen ist, der andere aber nicht? Und: Kann sich das schon im Kleinkind-Alter derart auswirken, dass Holger Jakobs Atmen "durch zwei geschlossene Türen" hört? (Was mir überhaupt recht heftig erscheint.)

Unterm Strich eine hübsche, klassische Story - vielleicht etwas zu konventionell erzählt und konzipiert.


Gruß,
Abdul

 

Hallo Hanniball

Danke fürs Lesen & dein Feedback.

Der Anfang hat mich nicht völlig überzuegt. Die Idee ist sehr gut, mit dem Fotoalbum den Leser sofort ins Geschehen zu ziehen. Aber das ist dir nicht ganz gelungen, zuviel Allgemeinplätze, kaum Eigenheiten, die Figuren sind stromlinienförmig, nicht zu fassen.

Schön dass dir die Idee gefällt, hier war ich recht unsicher, ob man Figuren auf diese Weise einführen kann. Ist aber ein guter Punkt, dass die Bilder an sich zu gewöhnlich sind. Ich werd da nochmal drüber gehen und versuchen, mir was Originelleres einfallen zu lassen.

Der Stil ist mir persönlich etwas zu gefällig, es gibt ja bei dieser Einschätzung durchaus eine leicht negative Note - S.K. schreibt gefällig (schrieb, vor allen Dingen)
Da kann man rein formal nichts Neues finden, nichts Aufregendes. Du ordnest den Stil ziemlich der Geschichte unter.

Bei meiner letzten Geschichte hat jemand etwas sehr Ähnliches angemerkt. Mir selbst fällts nicht so auf, vermutlich weil ich selbst gern so auf die Art lese, aber vielen Dank, daran werd ich definitiv in der Zukunft arbeiten.

Doch letztlich wird der eigentliche Konflikt deiner Geschichte nicht gelöst, wir haben eine simple "böser-Mensch-wird-bestraft"-Geschichte. Das ist mir zu einfach, mir fehlt da was, du ziehst die ganze Thematik damit ins Eindimensionale.

Ist ein sehr interessanter Punkt, über den ich mal nachdenken muss. Um ehrlich zu sein, ich hab diese Geschichte das erste Mal vor über 10 Jahren geschrieben (die Version ist leider verloren gegangen, aber sie war dieser hier sehr ähnlich). Irgendwie hab ich immer wieder dran denken müssen, aber immer nur aus der Perspektive, in der sie jetzt hier steht. Vielleicht war das zu eingeschränkt.

Zu deinen Anmerkungen:

Ich glaube nicht, dass er solche Gedanken hegt, während er sturzbetrunken ist. Die Gedanken kommen danach. Insofern ist diese Stelle wenigstens nicht authentisch.

Ich denke schon, dass man auch im stärksten Rausch sich dessen bewusst sein kann, und sich gerade dann vor sich selbst ekelt. Vielleicht ist es etwas zu dick aufgetragen, mit dem ständigen Fast-Übergeben, so sehr im Delirium ist er dann vermutlich nicht ... also ich geh da nochmal drüber, erstmal lass ich es so. Die andere Anmerkung, da geb ich dir Recht, hab das Zeit schinden raus genommen.

---

Hallo Abdul

Auch dir besten Dank fürs Lesen & das konstruktive Feedback. Die meisten deiner Anmerkungen hab ich übernommen, gerade natürlich die offensichtlichen Fehler (ich hab gelänge statt gelingen würde genommen, diese würde-Konstruktionen gefallen mir nicht wirklich ...).

Und dass das eigentliche Grauen sich dann substantivisch im letzten Teil des Satzes hinter ein "gefolgt" geklemmt findet, geht für mich nicht. Da muss mehr Erlebnisdichte, dafür kann der Absatz auch gern länger werden.

Das Problem ist hier, ich wills nicht übertreiben mit Albträumen und Monstern etc. Vielleicht pack ich noch etwas drauf, aber der Fokus soll diesmal ganz klar auf Holgers menschlicher Abartigkeit liegen. Die Träume sind da nur absolute Nebensache, ich wollte sie sogar schon komplett raus nehmen, aber ich finde, sie lassen sein Handeln noch etwas drängender erscheinen.

Das mit der Familie hat mich hier übrigens irritiert. Später erläuterst du ja, dass er sich die Familie als Kraftquell vorstellte, doch hier war ich noch verwundert, da Familie-Beruf heute ja eher als Zielgrößenkonflikt wahrgenommen wird.

Nicht nur als Kraftquell. Eben auch als Fassade, um sich nahtlos in eine gutbürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Die Geschichte spielt ja eigentlich vor 30 Jahren (s. die Datumsangaben im Album). Oder, um es mit den Worten von Alec Baldwin in Departed zu sagen: "Eine Ehefrau zeigt den Leuten, dass man nicht schwul ist."

Zudem scheint mir hier vieles doch recht Deus-ex-machina-mäßig.

Ja das ist schon alles ein wenig konstruiert, da geb ich dir Recht. Aber irgendwie konnte ich mich nicht davon trennen, noch nicht mal davon, dass Jakob ein "Überraschungszwilling" ist, der während der Schwangerschaft nicht entdeckt wird. Ich werde diese Umstände auch so lassen, es ist zwar wenig wahrscheinlich, aber halt doch nicht ganz unmöglich ...

Zwei Fragen, die sich mir noch eröffneten - da ich mich mit dem Down-Syndrom nicht auskenne: Ist es denn möglich, dass ein Zwilling davon betroffen ist, der andere aber nicht? Und: Kann sich das schon im Kleinkind-Alter derart auswirken, dass Holger Jakobs Atmen "durch zwei geschlossene Türen" hört? (Was mir überhaupt recht heftig erscheint.)

Zur ersten Frage: Ja, das geht.
Zur Zweiten: Das ist natürlich Quatsch. Meines Wissens nach atmen Menschen mit Down-Syndrom überhaupt nicht anders, weder als Baby noch als Erwachsene. Hier wollte ich (vielleicht ein wenig zu überzogen) Holgers Vorurteile und grundlose Angst darstellen. Deshalb kann er auch seine Söhne in Wirklichkeit nicht durch das bloße Atmen unterscheiden, auch wenn er sich das selbst einbildet.

Also vielen Dank nochmal für euer Feedback und .... gute Nacht :)

 

Hi nochmal!

In der Tat, Abdul, die Pointe war tatsächlich schon vorherzusehen. Ich wusste in etwa wohin der Hase will, als er die ersten Gedanken an das Töten aufkommen lässt.

Aber die Information, Schwups, dass du die Story schon vor zehn Jahren geschrieben hast, ist interessant. Ich finde das irgendwie ...treffend. Es erklärt auch einiges.

Schöne Grüße!

 

Hi Schwupps

Der Anfang gefiel mir recht gut. Besonders der letzte Satz hat für Stimmung & Spannung gesorgt:

Und obwohl seit jenem Tag über fünf Monate vergangen sind, ist dies das letzte Bild in Holgers und Evas Album. Dahinter folgen nur noch leere Seiten.

Überhaupt mochte ich die Idee von dem Fotoalbum in dem der Erzähler erstmal ein wenig blättert, um die Leute vorzustellen. Allerdings fand ich es Schade, dass Du bei Allgemeinplätzen verblieben bist. Als Charakterisierungsvehikel waren mir die Bilder zu beliebig, zu klischeehaft.

Anschließend verliert die Story rapide an Spannung. Ich hab zweimal abgebrochen, da mich Holger und sein Schicksal völlig kalt gelassen hat. Mir war da auch zuviel Text, um diese eigentlich recht durchschnittliche Type zu charakterisieren. Bei all diesen Gedanken von wegen Zukunftspläne und so, hatte ich ständig den Satz Show, don’t tell vor Augen. Das ist hier, glaube ich, echt Hauptproblem der Geschichte. Du erzählst die ganze Zeit, was für ein Typ Holger ist, dabei wären ein zwei Bilder, die Holgers Charakter verraten hätten, viel stärker gewesen. Oder Du kürzt den ganzen Text. Reduzierst Dich vielleicht lediglich auf Holgers Abscheu vor Jakob. Vielleicht verstärkst Du das „Monsterartige“ an Jakob noch, auch auf die Gefahr hin, dass ein Leser das Missverstehen könnte. Es könnte jedenfalls interessant sein, wenn Du aus einem Jungen mit Down-Syndrom bewusst alle Elemente des Horror-Genres verwendest, um ihn zu überzeichnen. Angefangen hast Du damit eh schon, aber Du führst es zu wenig aus und schwächst es andererseits mit den Erklärungen zu Holgers Motiven ab.
Wenn man als Leser weniger über Holger wüsste, wäre der Knalleffekt am Ende stärker. So jedenfalls ahnte / wusste ich auch, worauf alles am Ende hinausläuft; Oder anders: Geknallt hat bei mir nix.
Soviel von mir.

Viele Grüße

Mothman

 

Hallo schwups,

ich kann mich leider fast vollständig den bisherigen Kritiken anschließen. Leider. Denn die Geschichte hätte Potential, das du aber nicht ausnützt.

Der Einstieg mit dem Fotoalbum ist eine gute Idee. Aber ich finde es auch teilweise zu beliebig und trocken erzählt. Das ist besonders schade, weil hier gelungene Sätze/Bilder neben nicht so tollen stehen:

Dem Paar ist seine Verliebtheit anzumerken, meist halten sie sich an den Händen, man sieht sie eng umschlungen und küssend

Darunter kann ich mir nichts besonderes vorstellen. Es charakterisiert die beiden nicht, weil es nichts "persönliches" ist. Vielleicht eher: Holger, der die Nase an Evas Backe flachdrückt, weil er sie so fest küsst. Oder irgendwie so.

Zwischen diesen Fotos steht in mädchenhaft geschwungenen Buchstaben zu lesen: „Sommer 1974 – unsere erste gemeinsame Zeit. Wunderschön.“

Viel besser. Hier habe ich nämlich schon eher einen Eindruck von Eva. Zwar nur ein kleiner, aber das reicht schon. Die Eigenheiten müssten einfach stärker betont werden.

Der nächste Absatz ist dann wieder durchweg gelungen. Holger schleppt sich betrunken und depressiv in seine Wohnung. Das hast du plausibel und stimmungsvoll rübergebracht und hier konnte ich mich einfühlen.

Ein paar Kleinigkeiten in diesem Teil:

Schmerzen dröhnen in seinem Kopf, begleitet von einem konstanten Pochen gegen seine Schläfe.

Ist mir ein bißchen zu viel. Entweder dröhnende Schmerzen oder das konstante Pochen

Zurzeit leidet er unter schlimmen Albträumen.

Das weiß ich an dieser Stelle schon. Finde ich deshalb überflüssig und auch als Einleitung zur Schilderung der Alpträume würde ich was anderes schreiben.

Warum musste das passieren? Warum nur musste ihnen so etwas passieren?

Hoppla! Gut, das wir unsere neuen Geschichten zeitgleich rein gestellt haben. Denn das ist ja fast mein Ton ;)

Der nächste Absatz offenbart dann die für mich größte Schwäche der Geschichte: Es wird zuviel beschrieben. Klar, Holger ist ein Kontrollfreak, dessen Weltbild erschüttert wurde und der in seiner Verzweiflung bis zum äußersten geht.
Aber das kommt bei mir nicht rüber, wenn du das nur beschreibst. Ich hätte das, gemäß "Show don´t tell" lieber gesehen.

Holger liebt es, Pläne zu entwerfen und Abläufe zu organisieren.

Hier könnte man ihn ja zum Beispiel am Arbeitsplatz zeigen. Er verweigert einem Angestellten den Urlaub, weil man den Zeitplan einhalten muss.

Oder er macht mit seiner Frau einen Wochenend-Ausflug, auf dem er alles bis auf die Minute durchplant. Er nimmt genau drei Stullen und zwei Flaschen mit, denn mehr wird man nicht brauchen usw.

dass er jede Facette seines Lebens kontrollieren konnte.

Selber Fall. Er steht vielleicht im Stau, aber da er alles kontrollieren kann, hat er hier schon sein Laptop zur Hand, um zu arbeiten.

Natürlich würde das die Geschichte aufblähen, aber es würde sich meiner Meinung nach lohnen. Denn gerade bei diesem Plot ist es wichtig, dass man Holger "greifen" kann. Durch die bloßen Beschreibungen bleibt er bei mir immer ein wenig auf Distanz.
Und als seine zwei Kinder geboren werde, reagiert er für mich unglaubwürdig. Jemand wie er wäre bei der Diagnose des Arztes sicherlich in die Luft gegangen, hätte rumgeschrien usw.
Auch später schleichen sich solche Passagen noch ein:

Er müsste sich keine Sorgen mehr machen und auch keinen Alkohol mehr trinken.

Klingt komisch. Klar, durch die Ermordung Jakobs hat er auf einmal wieder einen Plan vor Augen. Aber gerade jemandem wie ihm sollte klar sein, dass er nicht von heute auf morgen von seiner Sucht los kommt.

Eva bleibt noch viel blasser. Hier müsste man dringend mehr erfahren:

Doch Eva weiß, dass er im Grunde seines Herzens ein liebender Familienvater ist

Es hat sich mir gar nicht erschlossen, wieso Holger er ihr seit Jahren den treusorgenden Familienvater vorspielen konnte. Spätestens nach seiner Reaktion auf Jakob und seinem langsamen Abgleiten in die Alkoholsucht müsste sie eigentlich gemerkt haben, wie er tickt.
Und in einer Ehe kann er nicht über Jahre diese Fassade aufrecht erhalten. Es wäre möglich, dass Eva sein Verhalten stillschweigend erduldet und sich fügt. Das müsste dann auch besser heraus gearbeitet werden.

Das klingt jetzt alles sehr negativ, aber ich finde die Story alles andere als schlecht. Anstatt Monstern, Vampiren etc. hast du dich hier mit dem realen Horror beschäftigt. Die Ermordung des eigenen, behinderten Kindes. Das ist ein ganz krasser Stoff, der aber viel hergibt. Es ergibt sich auch viel Raum für moralische Fragen im Umgang mit Behinderten.
Aber das bleibt für mich alles ein wenig zu oberflächlich. Und das ist schade, da das Thema sehr brisant ist und immer aktuell bleiben wird. Mit entsprechender Ausarbeitung könnte daraus ein literarisch-moralisches Lehrstück werden. Das ist jetzt natürlich geschwollen geschwafelt ;)
Aber es steckt für mich einfach viel ungenütztes Potential drin. Die Gedanken, Gefühle und Handlungen der Personen müssen einfach besser heraus gearbeitet werden. Dann funktioniert es und wir haben eine weitere tolle Story von dir.
Gegenüber "Das Loch" und "Tante Anni", die mich beide echt weggeblasen haben, flacht Kevin und Jakob in der derzeitigen Version leider etwas ab.

Viele Grüße
Christian

 

Hallo Mothman und Christian ...

... und vielen Dank fürs Lesen und das kritische & ehrliche Feedback.

Ich sehe jetzt, dass die Geschichte so wohl nicht funktioniert. Wie Christian es sagt, diesmal sollte der Schwerpunkt auf den menschlichen Abgründen liegen, und da ich das ganze in praktisch eine Szene packen wollte, wurde es dieses Mal halt doch etwas mehr tell als show.

Naja. Mal schauen was ich mit dem Text noch mache. Vielleicht geb ich ihm noch eine Chance und schreibe ihn (die Grundidee beibehaltend) rigoros um. Ich hab jedenfalls die wichtigsten Kritikpunkte mitgenommen und versuche beim nächsten Mal darauf zu achten, nicht wieder dieselben Fehler zu machen.

Viele Grüße & bis zum nächsten Mal.

 

Hallo Schwups,
Zusammenfassend hat mir die Geschichte sehr gut gefallen.

Ein paar Dinge sind meiner Meinung nach verbesserungswürdig:
Einmal ist das Ende etwas vorhersehbar und dann kommt es mir doch seltsam vor, dass der Vater zuerst kaum noch stehen kann und sich übergibt und dann seinen Sohn ermordet.
Außerdem kommt mir die Figur von Holger weit weg vor. Ich kann mich nicht in ihn hineinversetzen. Er bleibt blass. Seine Gedanken sind Allgemeinsätze:

Außerdem würden sie auch in fünf Jahren nicht in einem größeren Haus wohnen, sondern immer noch in dieser Bruchbude sitzen.
Hie müsstest du Konkreter werden. Ist die Bruchbude feucht, oder laut? ODer zu klein?
Was liebt er an einem neuen Haus. Was wünscht er sich darann, was gefällt ihm dort? Gartenarbeit, endlich laut Musikhören zu können, etc, was ihn zu einem "lebendigeren" Menschen macht.
Dieser Absatz legt das Problem ziemlich deutlich dar
Seine Frau suchte er sich nach praktischen Gründen aus. Natürlich musste sie attraktiv sein, doch mehr als tiefe Zuneigung empfand er nie für sie. Seiner Meinung nach ist Liebe die Erfindung von realitätsfernen Romantikern und schwachen, verweichlichten Menschen, die ihre Schwäche vertuschen und sie in eine erhabene Eigenschaft verwandeln wollen, indem sie sie Liebe nennen. Doch weil nur die Worte und die Fassade eines Menschen zählen und niemals der wirkliche Charakter, kann er Eva glaubhaft vermitteln, sie zu lieben. Es macht keinen Unterschied.
Hier kommt nichts persönliches rüber. Warum dohc Eva und nicht irgendeine andere? War sie zum richtigen Zeitpunkt da, wollte sie Kinder und eine andere nicht, war sie fügsam?
Zuletzt wird behauptet, nur Worte und Fassade zählten, und desshalb kann er Eva etwas vorspielen. Diesen Zusammenhang finde ich auch weit her geholt, denn bei vielen Menschen zählt etwas anderes und das kann nicht der Grund sein, warum er Eva wählt. Realistischer wäre etwa, dass Eva naiv, fast schon etwas dumm ist ,...
Klingt jetzt auch nach viel Kritik, aber insgesamt hat die Geschichte mehr Licht als Schatten. Der Anfang war gut ausgewählt und charakterisiert Holger besser als die nachfolgenden Beschreibungen.
Weiters ist mir aufgefallen, dass du mit den Albträumen eine Spur gelegt hast, als würde der Sohn zum Monster werden, diese aber nicht weiter verfolgt. Das könntest du eventuell noch ausbauen, um ihm ein brauchbareres Motiv für den Mord zu geben

LG
Bernhard

 

Hallo Schwups

Der Prolog mit heilen Momentaufnahmen – dies in der Rubrik Horror - schien mir zu signalisieren, es folge nun ein schreckliches Ereignis, wie etwa damals die reale Schlachtung der hochschwangeren Sharon Tate. Als Szenenwechsel, die intuitive Ahnung des betrunkenen Prot., dass sein Sohn eine Verwandlung erfahren wird. Dies gab mir eine Assoziation zu Kafka, doch anstatt der in einen Käfer, erwartete ich eine seelische Wandlung in Richtung Rosemarys Baby. Dass meine Fantasie der kommenden Ereignisse, in die falsche Richtung davon galoppierte, brachte die Diagnose des Down-Syndroms. Beim Eintritt in das Kinderzimmer war mir in der Fantasie dann aber nur noch eine morbide Steigerung möglich, die sich dann auch wirklich so ereignete.

Die Geschichte ist in einem präzisen Stil abgefasst, doch liessen Längen mir Schwankungen bei der Spannung aufkommen. Insofern war es mir wenig gruselig, und ich hätte sie mir ebenso in der Rubrik Gesellschaft platziert vorstellen können. Weisen Denken und Entwicklung von Holger doch einen hohen Plausibilitätsgrad auf.

Insgesamt aber gern gelesen.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Bernhard

danke fürs Lesen und Feedback geben.

Außerdem kommt mir die Figur von Holger weit weg vor. Ich kann mich nicht in ihn hineinversetzen. Er bleibt blass.

Schade. Ich habe versucht, ihn als Mensch möglichst genau zu charakterisieren und seine Gedankengänge, die ihn zu der Tat treiben, darzulegen. Aus deiner Kritik und auch der deiner Vorredner nehme ich mit, dass es hier nicht gelungen ist; eben weil zu viel beschrieben wird und ich die Figur dem Leser so nicht nahe genug bringen kann. Ich werde darauf in Zukunft Acht geben.

Was liebt er an einem neuen Haus. Was wünscht er sich darann, was gefällt ihm dort? Gartenarbeit, endlich laut Musikhören zu können, etc, was ihn zu einem "lebendigeren" Menschen macht.

Für ihn ist das Haus eigentlich kaum mehr als ein Statussymbol. Auch ist die jetzige Wohnung nicht im wörtlichen Sinn als Bruchbude zu verstehen, wo Wasser durch die Decke tropft - er hat es auf einen exklusiven, oberflächlichen Lebensstil ausgelegt, in seiner Vorstellung ist schon eine Durchschnittswohnung eine Bruchbude.

Weiters ist mir aufgefallen, dass du mit den Albträumen eine Spur gelegt hast, als würde der Sohn zum Monster werden, diese aber nicht weiter verfolgt. Das könntest du eventuell noch ausbauen, um ihm ein brauchbareres Motiv für den Mord zu geben

Ja ich denke ich werde die Grundidee der Geschichte nehmen und mal was Anderes damit versuchen. Ob der Junge dann in Richtung "echtes" Monster geht oder ich die Albträume ein wenig ausführlicher ausbaue - mal schauen.

Danke jedenfalls für die hilfreiche Kritik!

--

Hallo Anakreon

Dir auch vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Die Geschichte ist in einem präzisen Stil abgefasst, doch liessen Längen mir Schwankungen bei der Spannung aufkommen.

Ich denke das liegt auch wieder an der nur beschreibenden Charakterisierung von Holger. Vermutlich hätte es der Geschichte gut getan, sie in mehrere Szenen aufzuteilen - zunächst das Fotoalbum, dann ausführlichere Stellen, auch als Schnappschüsse aneinandergereiht. Vielleicht versuche ich so was in der neuen Version.

Insofern war es mir wenig gruselig, und ich hätte sie mir ebenso in der Rubrik Gesellschaft platziert vorstellen können.

Ehrlich gesagt hab ich mir dasselbe überlegt. Bin dann aber zum Schluss gekommen, dass die menschlichen Abgründe hier vordergründiger sind als ein gesellschaftliches Thema (bspw. der Umgang mit Behinderten - zugegebenermaßen sehr morbide abgehandelt) - da die Geschichte aber keine übernatürlichen Elemente enthält, wäre ich auch mit einer Verschiebung nach Gesellschaft einverstanden gewesen. Kann man sicher auch so sehen.

Insgesamt aber gern gelesen.

Vielen Dank. :)

 

Hallo Schwups,

meine Kritik fällt etwas kürzer aus, weil die Hauptpunkte bereits genannt wurden.

Mir hat die Story ziemlich gut gefallen. Durch den unspektakulären Stil plätscherte das so vor sich hin. Das war einerseits angenehm, weil es konstant und dabei nicht langweilig war, auf der anderen Seite kam nicht so richtig Spannung auf, es war eher unterhaltend (und interessant).
Der Text hat mich übrigens wütend gemacht, was als Kompliment zu verstehen ist; ich meine die Schilderungen Holgers Charakters. Gut!
Den Einstieg mit dem Fotoalbum fand ich von der Idee her gelungen, in der Praxis war's mir zu berichtmäßig und/oder zu lang.
Ich hab mich etwas gewundert, weil es so rüberkam, als erführe Holger erst bei der Geburt, dass sie einen Sohn bekamen (und keine Tochter), und dass Eva ein zweites Kind in ihrem Bauch gehabt haben soll, ohne, dass das jemand mitbekommen haben soll, fand ich seltsam..
Den Twist am Ende hab ich nicht erwartet und war echt geschockt, das ist dir auch sehr gut gelungen!

Soweit in Kürze, insgesamt gern gelesen.

Viele Grüße,
Maeuser

 

Einem Ausflug an einen See mit Picknick und Bootsfahrt, einem Wanderurlaub, einem Besuch auf einem Jahrmarkt mit Freunden. Dem Paar ist seine Verliebtheit anzumerken, meist halten sie sich an den Händen, man sieht sie eng umschlungen und küssend. Auf einem Bild stehen beide in der Abenddämmerung vor einem Haus, blicken sich tief in die Augen und umarmen sich, die Nasenspitzen eng beieinander. Zwischen diesen Fotos steht in mädchenhaft geschwungenen Buchstaben zu lesen: „Sommer 1974 – unsere erste gemeinsame Zeit. Wunderschön.“
Weitere Bilder zeigen das Paar mit Freunden bei einem Grillfest, einem Geburtstag und einer Silvesterfeier. Auf anderen Aufnahmen sieht man Holger und Eva an einem Strand liegen oder an der Reling eines Schiffes
11 Mal einem bzw. eines in diesem kurzen Abschnitt oder besser: in einem kurzen Abschnitt. Das wirkt ermüdend :sleep:

Er sieht alles verschwommen, und ihm kommt in den Sinn, dass er sich morgen vielleicht nicht einmal mehr erinnern kann, wie er nach Hause gekommen ist.
Halt ich für unwahrscheinlich. Falls er in einem Stadium ist, dass ihm eine vorübergehende Amnesie bescheren wird, kommen ihm solche Gedanken eher nicht in den Sinn. Eher Gedanken wie: Kühlschrank, Fleischwurst, Sofa, Ach Ja, Schuhe aus, Zigaretten usw. Sehr kurzfristige Ziele eben und keine komplexen Gedankengänge. Falls er aber in der Lage ist, sich Gedanken zu machen, wird er nicht auf die Idee kommen, er könne einen Filmriss erleiden :wein:

Zunächst einmal wären sie natürlich traurig, müssten es sein. Doch nach einiger Zeit – Holger schätzt, ein paar Wochen – würde sich ihr Leben wieder normalisieren. Nach einem kleinen, unerwarteten Umweg würde es wieder in die Bahnen gelenkt, die Holger vorgesehen hatte. Er müsste sich keine Sorgen mehr machen und auch keinen Alkohol mehr trinken. Seine berufliche Karriere könnte er wie geplant fortsetzen. Das Haus, das Auto und die Abende auf der Terrasse rückten wieder in greifbare Nähe. Vielleicht würden sie auf das zweite Kind verzichten – es wäre Unsinn, erneut ein solches Risiko einzugehen. Auch mit einem Kind könnten sie eine perfekte Familie sein.
Das kann man sich alles denken. Das fettgedruckte würde reichen.

Auch für Eva war es ein Schock, als sie erfuhr, dass Jakob nicht gesund ist. Doch gerade seine Behinderung ist für sie eine Verpflichtung, sich besonders fürsorglich um ihn zu kümmern. Jakob ist mehr auf sie angewiesen als Kevin und wird das vermutlich auch immer bleiben. Vielleicht wird er in der Schule langsamer sein als andere Kinder, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird ihm auch der normale Alltag schwerer fallen. Doch er ist ein so süßes Baby;
das finde ich auch überflüssig.

Insgesamt hat mir die Geschichte aber gut gefallen. Das lesen fiel leicht und rief eine leicht bedrückende Stimmung hervor. Auch den Konflikt- Behindertes Kind -Karierre-Planung usw. fand ich spannend.

Da ich wohl der einzige bin, der nicht mit dem Pointenende gerechnet hat, weil ich eben nocht nicht viele solcher Stories gelesen hatte, hat mich der Schockeffekt voll getroffen. Und gleich darauf fragte ich mich warum. Fand ich es schlimmer, dass der "gesunde" Sohn getötet wurde? Woher kommt dieser Schockmoment? Eigentlich sollte man doch denken: Geschieht ihm recht (dem Vater). Naja, ich fans gut, bis auf ein paar Längen...

Gruß

Jan

 

Hallo Jan

Danke dir für dein Feedback - stilistisch werde ich über die von dir genannten Stellen sicher nochmal drüber gehen (momentan siehts zeitlich recht schlecht aus bei mir, hoffe aber dass ich noch in diesem Jahr dazu komme eine neue Version der Geschichte online zu stellen).

Da ich wohl der einzige bin, der nicht mit dem Pointenende gerechnet hat, weil ich eben nocht nicht viele solcher Stories gelesen hatte, hat mich der Schockeffekt voll getroffen.

Ok wenigstens bei einem hat das Ende geklappt :D

Insgesamt hat mir die Geschichte aber gut gefallen. Das lesen fiel leicht und rief eine leicht bedrückende Stimmung hervor. Auch den Konflikt- Behindertes Kind -Karierre-Planung usw. fand ich spannend.

Vielen Dank :)

 

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