Kevin - mein Traum
Dort an der Ecke hat er gestanden. Ich sehe ihn noch ganz deutlich vor mir – die dunklen, verwuschelten Haare, die tiefblauen Augen. Das dazu passende Hemd, am Kragen etwas geöffnet, hing lose über die verwaschenen BlueJeans, und das sanfte Pastellgelb leuchtete lustig zwischen den Reißverschlüssen seiner dicken blauen Daunenjacke hervor. Ich glaube, der rechte Schuh hatte am großen Zeh ein Loch. Aber es sah nicht schäbig aus...
Sein Lächeln, ja, in sein Lächeln war ich gefallen. So sehr, dass ich eine etwas ältere Dame über den Haufen rannte. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich entschuldigt habe.
Die Sonne schien, und für November war es wirklich ungewöhnlich warm. Jetzt ist auch November, aber es ist trist und kalt.
Zu gerne wüsste ich, wie er hieß. Nachts besuchte er mich oft in meinen Träumen, und das tut er auch jetzt noch. Nach einer so langen Zeit.
Bei mir nenne ich in Kevin. Ich muss ihn doch irgendwie rufen können, wenn er zu mir kommt, in meinen Träumen, und sich mit mir vereinigt. Kevin... Ich mag den Klang des Namens, außerdem erinnert er mich an seine Augen.
Kevin ist der einzige, der mich mag. Ich bin alleine. Freunde habe ich keine, zur Gesellschaft bleibt mir nur mein Hamster Cracker, der mich gestern in den Finger gebissen hat. Jetzt, als ich daran denke, pocht die kleine Wunde in der Kuppe meines rechten Zeigefingers wie ein kleines Herz.
Dieses Klopfen hält mich von einer Ohnmacht ab, die mich zu überfallen droht.
Unweit von der Ecke, an der Kevin gestanden hatte, hält seit einiger Zeit schon ein klappriger Reisebus, die Türen geöffnet. Ein dumpfes Brummen im Hintergrund sagt mir, dass der Motor noch läuft. Keiner sitzt im Bus, noch nicht einmal der Fahrer.
Kevin kommt fast jede Nacht zu mir. Meistens dann, wenn mein Vater wieder ausrastet und mich oder Mutter schlägt. Meinen älteren Bruder lässt er in Ruhe, seitdem der im Boxen ein As geworden ist. Wenn Kevin da ist, ist alles in Ordnung, und ich höre nichts mehr um mich herum. Er ist so furchtbar lieb zu mir, hört mir zu wenn ich rede und wacht über mich, wenn ich einschlafe. Zu gerne wüsste ich, wie er richtig heißt.
Langsam gehe ich auf die Gruppe von Menschen zu die sich bei einem Zebrastreifen gebildet hat.
Sex? Hatte ich nie – nur mit Kevin in meinen Träumen, aber es ist wunderschön. Wenn er sich langsam über mich beugt und mich überall küsst... Ich greife ihm mit beiden Händen in seine widerspenstigen Haare, die mich auf der Brust und am Bauch, an den Innenseiten meiner Schenkel kitzeln. Unter seinen kräftigen Händen sehe ich zerbrechlich aus, und wunderschön.
Ich glaube nicht, dass ich schön bin. Mein aschblondes Haar ist langweilig, und egal was ich mit ihnen anstelle – es bleibt strähnig. Mein Bauch ist zu rundlich, mein Hintern zu breit, meine Brust zu flach, meine Schultern einen Tick zu breit, und meine oberen Schneidezähne sehen aus wie eine Mischung aus den Gebissen von Bugs Bunny und Black Beauty. Nein, schön bin ich nicht. Aber ihm gefalle ich. Kevin findet mich attraktiv.
So wie ich ihn in Erinnerung habe ist er ungefähr einen Meter und fünfundachtzig. Breite Schultern...
Ein Schrei lässt mich zusammen fahren. Ein schrecklicher schriller Schrei. Wie ein Tier in Todesangst. Ich bleibe stehen, wage nicht, dichter an die Menschengruppe heran zu treten. Noch knapp zehn Meter trennen mich von ihnen. Das Blaulicht des Krankenwagens malt gespenstische Bilder auf die umliegenden Häuser. In regelmäßigen Abständen verzerrt es auch meine Gestalt. Wieder der Schrei. Rege Geschäftigkeit zwischen der Menge. Neugierig trete ich näher. Das Wimmern und Heulen ist nicht zu überhören.
Wäre doch nur Kevin bei mir. Dazu müsste ich aber zu Hause sein – woanders kam er noch nie zu mir – und mich in meinem Bett verkriechen, die Schreie meiner Mutter und die Schläge meines Vaters aus meinem Bewusstsein verdrängen. Dazu habe ich aber heute keine Kraft. Deshalb bin ich aus unserer kleinen Parterrewohnung geschlüpft. Das wird Ärger geben, aber das macht nichts. Wenn mein Vater wütet, wenn er sturzbetrunken ist – dann ist Kevin da und beruhigt mich.
Kevin, Kevin, Kevin.
Immer nur Kevin. Wie heißt er wirklich?
„Torbeeeeeeeeen!“ kreischt eine Stimme. Ein Torben. Kein Kevin.
Was wohl passiert ist? Ein Unfall, aber wie kam es dazu? Wer, wann, was?
Ich bin neugierig und wüsste gerne mehr, aber ich bin auch feige und will irgendwie gar nicht sehen, was da passiert. Ich schalte die Schreie nach diesem Torben aus meinem Bewusstsein und falle wieder in die Träume nach Kevin.
Kevin hält mich in der Not über Wasser, und wenn ich lache lacht er mit mir.
Ich entschließe mich, dem Pulk näher zu kommen, nur noch drei Meter trennen mich vom letzten Ring der Schaulustigen im Kreis. Meine Gedanken sind im Leerlauf angelangt. Der Geruch nach Öl macht die Luft schwer. Aber es ist nicht nur das Öl, sondern auch Angst und Blut, was der leichte Windhauch mir ins Gesicht trägt. Aufgeregtes Stimmengemurmel dringt mir ans Ohr. Wie das wohl passiert ist? Scheinbar bin ich nicht die einzige die sich das fragt. Ob sich andere wohl auch danach sehnen, sie wären einen anderen Weg gegangen, so wie ich es mir wünsche? Aber jetzt bin ich hier und kann es nicht ändern, würde ich gehen müsste ich mich mein Leben lang fragen, was dort passiert war, wer nach Torben schrie – und wer dieser Torben überhaupt war. Lebt er, stirbt er, ist er tot?
Kevin, Kevin. Wo bist du? Ich möchte mich an dich lehnen!
Wie im Trance dränge ich mich durch die Menge, quetsche mich am Krankenwagen vorbei. Beachte nicht das Murren der Leute, denen ich auf den Fuß trete oder die ich mit dem Ellbogen stoße.
Schließlich stehe ich vorne. Dort liegt jemand auf der Straße. Ein Junge. Sein Rucksack liegt zwei Meter weiter. Ein Transporterwagen steht halb auf dem Zebrastreifen. Ein Mädchen kniet neben dem leblosen Körper und starrt ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht fassungslos an. Sie wimmert immer noch. An den Transporter gelehnt steht ein Mann Mitte vierzig, ganz bleich, den Schock ins Gesicht geschrieben. Die Sanitäter versuchen den blutenden auf dem Zebrastreifen wieder zu beleben. Das alles sehe ich im ersten Moment.
Aber sein Gesicht sehe ich nicht.
Die Daunenjacke kenne ich. Mich beschleicht eine böse Vorahnung. Ach, wäre doch Kevin bei mir.
Ich gehe ein Stück zur Seite, sehe in das Gesicht desjenigen, der von dem Mädchen Torben gerufen wird. Vor Schreck taumele ich, suche Halt an einer Frau, die direkt neben mir steht.
„Nein, nein! NEIN!!!“ Ich merke, dass es meine Schreie sind, die alles andere übertönen. Nicht Kevin, mein Kevin, der Torben heißt.
Da liegt er, mein Traum und meine Stütze, in seiner eigenen Blutlache und bewegt sich nicht. Er wippt unter den Händen des Notarztes, aber selbst rührt er sich kein bisschen. Die Frau neben ihm schreit wieder.
Mir strömen die Tränen über die Wangen, ich breche zusammen, direkt in die tröstenden Arme der Frau, an der ich mich eben noch festhielt.
Kevin, Kevin! Warum? Warum nur?
Ich weiß nicht, wie lange ich hier stehe, aber dann, nach einer Ewigkeit, packen die Sanitäter ihre Sachen zusammen, decken den Körper zu, heben das weinende Mädchen hoch.
Wäre ich doch einen anderen Weg gegangen.