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Ketzers großer Coup
Herzensangelegenheiten
oder
Ketzers großer Coup
Am späten Abend war ein heftiges Sommergewitter niedergegangen und hatte eine Menge Regen mitgebracht. Das Licht der Laternen spiegelte sich in den kleinen Pfützen wider und der Dunst der Feuchtigkeit hing wie zarte Watte über der Straße.
Dies war eine der besseren Wohngegenden, eine ruhige Sackgasse mit hohen Hecken und breiten Einfahrten. Einige führten zu großen, modernen Häusern, andere zu alten prächtigen Villen.
Ketzer stand im Schatten eines Baumes und beobachtete ein altes Landhaus, das von der Straße zurückgesetzt in einem riesigen Grundstück lag.
Die Frau, die hier wohnte war alt, lebte allein mit ihrer Katze und schien schon etwas verwirrt. Ketzer war in einem Geschäft aufmerksam geworden, als die Frau sich mit der Verkäuferin unterhielt:
„Meinen Sie nicht, daß es besser wäre, wenn Ihr Personal mit bei Ihnen im Haus wohnen würde? Ich hätte Angst,“ raunte die Verkäuferin ihrer betagten Kundin zu. Sie hatte sich leicht über den Tresen gebeugt und ihre Stimme gesenkt, damit nicht jeder mithören konnte.
„Ach wo, was soll man denn schon von einer Alten wie mir wollen?“ Die kleine, schmächtige Frau hingegen gab sich keine Mühe, ungehört zu bleiben. „Ich hab` doch kaum etwas, das sich für einen Spitzbuben lohnen würde.“ Sie schüttelte belustigt den Kopf, daß ihr weißer Haarknoten wippte und sah dabei kurz zu Ketzer hinüber, der sich in der Nähe für Konservengemüse zu interessieren schien, aber dennoch jedes Wort mitbekam.
„Und ihre Sammlung, haben Sie die denn wenigstens gesichert?“ Auch die junge Angestellte maß Ketzer mit kritischen Blicken.
„Sie meinen die Herzen?“ Die Augen der alten Frau wurden groß vor Begeisterung. „Ja, daran hänge ich. Irgendwie habe ich zu Herzen eine besondere Verbindung.“ Dann hob sie bedeutungsvoll die Hand. „Da hab ich was.“ Gleich darauf zog sie ein wohl faustgroßes, metallenes Herz aus ihrer Handtasche und reichte es vorsichtig der Verkäuferin. Diese starrte einen Moment sprachlos, sah ihr Gegenüber an und flüsterte: „Gold?“ Die alte Frau lächelte verschmitzt, nahm es zurück, wog es in der Hand und ließ es wieder in der Tasche verschwinden. Ketzer hatte genau erkannt, daß es schwer war.
Danach war er schon mehrfach hier in der Straße gewesen. Einmal hatte er geklingelt und behauptet, eine Umfrage zu machen, um so vielleicht noch wichtige Informationen zu erhalten. Dabei hatte er seinen alten Kumpel Tom verflucht, der vor Wochen allein ein dickes Ding gedreht hatte und dann wohl mit der Beute verschwunden war. Tom hatte es drauf. Er konnte den Leuten Vertrauen einflößen. Ihm fiel immer irgendein Vorwand ein, unter dem er ins Haus gelassen wurde und alles ausspionieren konnte. Vielleicht lag das auch an seinem Äußeren. Er trug dabei meistens einen uralten Anzug und eine karierte Kappe, wie sie Sherlock Holmes in den alten Filmen immer getragen hatte. Ketzer war da nicht so begabt. Er wußte, daß er nicht sehr vertrauenerweckend wirkte. Ketzer war gerade mal mittelgroß, schlank, und seine Haltung wirkte immer etwas lauernd. Sein schmales Gesicht mit den schrägstehenden kleinen Augen verstärkten diesen Eindruck. Er hatte sich zwar einen künstlichen Bart angeklebt und war auch sicher, daß ihn die Alte nicht wiedererkannt hatte, aber etwas interessantes hatte er trotzdem nicht erfahren.
Ein anderes Mal hatte er beobachtet, wann das Personal das Haus verließ. Er war an jenem Abend lange geblieben, um ganz sicher zu gehen.
Jetzt stand er da, und wollte das Ding drehen.
Ketzer fühlte sich geradezu aufgefordert und so überquerte er die Straße.
Das schwere, gußeiserne Tor stand einen winzigen Spalt offen. Er schlüpfte hindurch, hielt sich dicht an den Hecken, die den Kiesweg säumten und gelangte so zum breiten Vorplatz. Die Eingangstreppe war von zwei Laternen nur schwach erhellt aber er wollte kein Risiko eingehen. Er spurtete geduckt hinüber zum Haus, in den Schatten eines großen Strauches.
Mit dem Haupteingang wollte er es gar nicht erst versuchen. Türen sind meist gut gesichert. Statt dessen wird aber schon einmal ein Fenster offen gelassen, und selbst wenn es in einem oberen Geschoß sein sollte, würde es für ihn wohl kein Problem darstellen.
Dicht an das Haus gedrängt schob er sich um eine Gebäudeecke bis zu einem Seitenflügel, der von der Straße aus nicht eingesehen werden konnte. Ketzer befand sich nun vor einer weit ausladenden Terrasse, zu der man vom Haus her durch drei große, doppelflügelige Glastüren gelangte. Er wartete einen Moment, bis sich seine Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten und suchte nach einer Möglichkeit, in das Haus zu gelangen. Das mittlere Glas hob sich durch einen dunklen, senkrechten Streifen von den anderen ab. Gebückt schlich er vor und kniete nieder. Die beiden Flügel standen tatsächlich einen Spalt breit auseinander. Vorsichtig fuhr er mit einer Hand dazwischen und ertastete einen Widerstand. Die beiden Fenster waren von innen mit einem einfachen Bindfaden aneinandergebunden, wodurch wohl verhindert werden sollte, daß sie sich ungewollt ganz öffneten.
Ketzer mußte grinsen. Alte Menschen waren oft nachlässig, und er hatte im Stillen mit so etwas gerechnet. Er nahm seinen Rucksack von den Schultern, fand darin ein Messer und durchtrennte das Band.
Er schlüpfte ins Haus und hielt inne. Irgendwo im Raum mußte sich eine alte Uhr befinden, die mit ihrem lauten Ticken die Stille zerschlug und sein Herz rasen ließ.
Aber so war es immer. Sobald er in ein fremdes Haus geschlichen war, wurde er nervös. Im Freien erwischt zu werden war eine Sache, drinnen war es Einbruch.
Der Unterschied ließ sich in Jahren ausdrücken.
Es roch nach Bohnerwachs. Wenn es draußen schon finster war, so herrschte hier völlige Schwärze. Nur langsam schälten sich Konturen aus dem Dunkel. Der Raum war groß und mit altmodischen Möbeln eingerichtet. Bilder hingen an den Wänden. Durch einen Vorhang halb verdeckt, erkannte Ketzer die Umrisse einer Tür. In ihr ein wie Diamant leuchtender Punkt. Es war das Schlüsselloch, durch das schwaches Licht strahlte. Ketzer tastete sich langsam vor, bereit, sofort hinter ein Möbelstück zu huschen, wenn sich etwas regen sollte.
Er stellte er sich seitlich, in die Nähe der Scharniere. Falls die Tür geöffnet würde, stand er in deren Schatten.
Vor Jahren war es ihm passiert, daß von innen geöffnet und ihm der Flügel voll gegen die Stirn gerammt wurde. Nur durch Toms beherzte Reaktion und eine schnelle Flucht wurden sie vor einer Festnahme bewahrt. Ketzer bedauerte, daß sein Kumpel sich aus dem Staub gemacht hatte. Sie waren ein gutes Team gewesen.
Ketzer lauschte einige Sekunden. Wenn man sich in absoluter Stille aufhält und bemüht ist, selbst auf das leiseste Geräusch eines Insekts aufmerksam zu werden, klingt der eigene Atem wie das Zischen einer Dampflok. Das leiseste Rascheln der eigenen Kleidung kann erschrecken.
Es dauerte eine Weile, bis diese Geräusche in den Hintergrund traten und sich seine Sinne durch alle Barrieren hindurch in den jenseitigen Raum tasteten.
Es war still. Ketzer war überzeugt, daß er selbst das leiseste Umblättern von Buchseiten gehört hätte, tiefes Atmen, leise Bewegungen. Nichts!
Vorsichtig ertastete er die Tür bis zum Rahmen.
Sie war nur angelehnt.
Sehr achtsam schob er die Finger in den Spalt und öffnete langsam.
Der Raum war nicht groß. Auf einem kleinen Tisch in der linken Ecke stand eine Lampe, die am Abend wohl vergessen worden war und den Raum nur schwach erleuchtete. Dunkel glänzte der geflieste Boden. Nur wenige Möbel standen in dem kleinen Zimmer. An der Wand neben der Lampe, also Ketzer gegenüber, stand eine alte, mit Kunstleder bezogene Liege. Anstelle der Rücken und Seitenlehnen war fein säuberlich eine Reihe bunter, geschmackloser Kissen angeordnet. An der linken Wand stand ein alter, schäbiger, kleiner Schrank, und das war’s auch schon.
Ketzer machte vorsichtig einen Schritt in das Zimmer hinein, wandte seinen Blick nach rechts und..... für Sekunden schien sein Herzschlag auszusetzen.
Die Wand war schmucklos. Ein häßliches Portrait war auf den Boden gestellt worden, doch in der Mitte prangte das schönste Kunstwerk seiner Gilde: rechteckig, in der Größe eines Bildes, aus Stahl und - was das Wichtigste war: Es hatte nur ein einziges Zahlenrad.
Der Tresor war uralt und in Ketzers Augen kaum ernst zu nehmen.
Mit wenigen Schritten stand er davor und betastete den Schließmechanismus.
Schnell ließ er den Rucksack von den Schultern gleiten, öffnete ihn mit ruhigen Händen und angelte ein Stethoskop hervor.
Er war fast am Ziel und mußte schnell arbeiten.
Die beiden Hörerenden steckte er sich in die Ohren und während er an dem Zahlenrad drehte, fuhr er mit dem Stethoskop über die Stahloberfläche der kleinen Luke.
Als er die richtige Stelle gefunden hatte, hielt er inne, konzentrierte sich und drehte langsam an dem Kombinationsrad, bis das erste Klicken zu hören war. Dann drehte er in die andere Richtung bis zum nächsten Klicken.
Vier Zahlen, ein Dreh an dem Verschlußgriff und die schwere, kleine Stahltür glitt langsam auf. Bis auf eine unscheinbare Schachtel war das Fach leer.
Ketzer zog sie heraus, setzte sich mit seiner Beute auf die Liege und hob vorsichtig den Deckel ab.
Vor ihm lagen Herzen, genau solche, wie er eines bei der alten Frau gesehen hatte. Sie waren groß und glänzten golden. Aber diese waren leicht und offensichtlich hohl: leere, kunstvoll gefertigte Metallbehälter in Herzform.
Die Enttäuschung hätte nicht größer sein können.
Er war so sicher gewesen, die Sammlung gefunden zu haben und nun mußte er doch weitersuchen.
Achtlos stopfte er seine Beute in den Rucksack, legte das Werkzeug dazu und wandte sich zum Gehen.
Kaum hatte er einen Schritt gemacht, da durchzuckte ihn ein Schreck, wie ein elektrischer Schlag.
Im fahlen Licht der schwachen Lampe sah er, daß die Tür fast geschlossen war, obwohl er sie doch so weit geöffnet hatte, daß er selbst bequem hindurchschlüpfen konnte.
Ein kleiner Spalt war noch auf. Mit schnellen Sätzen sprang er darauf zu. Kurz vor der Berührung gab es einen kleinen Schwenk, ein metallisches Klicken, und die Tür war gänzlich geschlossen.
Wie angewurzelt blieb Ketzer stehen und ein kalter Schauer ließ ihn frösteln.
Mit zitternder Hand griff er nach der Klinke und drückte sie langsam und mit Bedacht herunter.
Nichts geschah. Er blieb eingeschlossen. Schweiß stand ihm in dicken Perlen auf der Stirn, sein Herz schien mit jedem Schlag seine Brust zu sprengen.
Ketzer preßte sein ganzes Gewicht gegen die Tür. Vorsichtig und so leise wie möglich rüttelte er am Schloß.
Ohne Erfolg. Hektisch sah er sich nach einer anderen Möglichkeit um und stellte erst jetzt fest, daß der Raum kein Fenster hatte. Oben in der Wand befand sich eine kleine Lüftungsöffnung, zu klein, um hindurchzukriechen.
Der Raum wurde eng. Die Wände schienen von Sekunde zu Sekunde näher zu rücken. Er mußte raus. Panisch suchte er in seinem Rucksack nach Werkzeug, mit dem er das Schloß öffnen konnte. Doch urplötzlich hielt er inne. Da war ein leises Scharren. Auf der anderen Seite mußte sich etwas bewegt haben. Ob es Schritte waren oder andere Ursachen hatte, konnte er nicht ausmachen.
Ketzer preßte ein Ohr an die kalte Platte und lauschte.
Die Geräusche wiederholten sich. Es war jemand hinter der Tür.
Nur mit Mühe konnte er die aufsteigende Panik niederhalten.
Sobald er die Tür offen hatte, würde er abhauen, so schnell wie möglich, auch ohne Beute.
Ketzer lauschte, und bald war es wieder ruhig. Mit jeder Sekunde, in der es still blieb, normalisierte sich sein Herzschlag. Schließlich hockte er sich nieder und kramte in seinem Rucksack weiter.
Mit zwei speziell gebogenen Drähten wollte er sich gerade über das Schloß hermachen, als ihn der nächste Schlag traf. Die runde Öffnung war kein Schloß. Es handelte sich lediglich um eine durchgehende Gewindehülse ohne Schließfunktion. Tausend Gedanken jagten ihm gleichzeitig durch den Kopf. Wenn dies kein Schloß war, mußte es eine andere Verriegelung geben. Ein Riegel, oder etwas Ähnliches auf der anderen Seite der Tür, an das er nicht herankam, und das jemand ganz bewußt betätigt hatte. Langsam gewann die mühsam unterdrückte Panik Oberhand. Mit schweißnassen Händen packte er die Klinke und rüttelte daran. Es war ihm egal, wieviel Lärm er machte. Er wollte raus. Ketzers Atem ging so schnell, daß seine Lunge schmerzte. Sein Herz hämmerte in der Brust. Mit jedem Schlag ging ein Beben durch seinen Körper.
Die leise Stimme, die in dem Lärm fast unterging, konnte ihn kaum noch mehr treffen.
„Herzchen!“ Ketzer griff sich an die Brust und taumelte einen Schritt zurück.
Und dann wieder, leise aber doch klar:
„Herzchen, sei doch nicht so laut.“ Die alte Stimme klang überhaupt nicht aufgeregt. Die Tür dämpfte natürlich, aber Ketzer glaubte doch eine sonderbare Liebenswürdigkeit zu vernehmen.
Er klopfte. „Hören Sie?“ Vielleicht ließ sich die Frau überreden und er konnte verschwinden.
„Wenn Sie aufmachen, werde ich sofort das Haus verlassen. Ich verspreche es. Ich habe auch nichts bei mir, was Ihnen gehört.“ Eine Weile blieb es still.
„Hallo! Hören Sie mich?“
„Herzchen, Du mußt dich noch eine Weile gedulden.“ Sie klang, als redete sie mit einem ungeduldigen Kind. „Ich bin gleich so weit, nur noch ein paar Minuten.“
Ketzer ließ sich in die Hocke nieder und spähte durch das Loch, das er zuvor für ein Schloß gehalten hatte. Ein leichter Luftzug ließ ihn blinzeln und was er dann sah, saugte ihm gleichsam die restliche Kraft aus dem Körper.
Im fahlen Licht der Zimmerbeleuchtung stand die kleine Frau wie in einem mystischen Schein und band sich langsam, mit ungelenken Bewegungen eine lange Gummischürze um. Neben ihr stand eine kleine Kiste, aus der geordnet, schwarze Griffe ragten. Eine dunkle Katze strich um ihre Beine. Immer wieder hob sie bettelnd ihre Pfoten und miaute erwartungsvoll.
Gleich darauf verschwand die Frau aus seinem Sichtbereich. Das seltsame Licht verlieh ihren Bewegungen den Anschein des Gleitens oder Schwebens. Kurz danach erschien sie wieder und hielt ein Gerät in den Händen, von dem Ketzer nicht gleich ausmachen konnte, was es war. Doch als sie sich wieder der Tür zuwandte, mit diesem sonderbaren, gütigen Lächeln, erkannte er die kleine Gasflasche, deren Schlauchende sie langsam auf Ketzers Guckloch zuführte.
Ketzer sprang auf, wollte etwas sagen, doch statt Worte brachte er nur disharmonisches Glucksen hervor.
„Nur noch einen kleinen Moment Herzchen. Nur noch einen kleinen Moment.“ Das Geräusch, mit dem sie das Schlauchende in die Gewindehülse schraubte, klang wie das hilflose Fiepen einer gequälten Kreatur. Ketzer zitterte am ganzen Körper. „Herzchen, nur noch einen Augenblick Herzchen.“
Schritt für Schritt taumelte er zurück und stieß gegen die Liege. Kissen fielen zu Boden. Haltsuchend glitt seine Hand über den kalten Kunststoff und ertastete ein Stück grob gewirktes Tuch. Ketzer wandte seinen Blick und hielt eine Mütze in Händen, wie er sie aus alten Sherlock Holmes Filmen kannte.
Schluchzend vergrub er sein Gesicht in den Stoff und rutschte langsam zu Boden. Der Rucksack polterte von seiner Schulter, die metallenen Herzen rollten heraus. Eines sprang auf und blieb mit geöffneten Halbschalen liegen, gerade so, als sei es bereit.
Ketzers leises Wimmern wurde bald von dem dezenten Zischen an der Tür überdeckt und die Worte; „Herzchen........Herzchen...“, zogen wie endlose Echos durch sein schwindendes Bewußtsein.