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Ketchup oder Senf?
Die Fenster waren geöffnet, und ein sanfter Windhauch strich über seine Oberschenkel. Der Laptop gab sein vertrautes Brummen von sich, und er spürte, wie sich langsam der Lüfter der Prozessoreinheit in Bewegung setzte. Er liebte es, nur so auf seinem Sofa zu sitzen und einfach seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Nur heute war etwas anders. Er konnte sich nur schwer konzentrieren. Wie auch. Er hatte heute vier Steaks und drei Bratwürste mit reichlich Salat gegessen. Von den drei Vitamalz und den zwei Bananen ganz zu schweigen. Irgendwie hatten sie es geschafft, sich in seinen Bauch breitzumachen und dort ein wohlig gefülltes und leicht spannendes Drücken zu hinterlassen. Lediglich die Verdauungszigaretten hinterließen ein unangenehmes Kratzen in seinem Hals. Was noch zusätzlich zu seiner Ablenkung beitrug, war, dass der Fernseher lief und dass er wartete.
Er wartete nicht etwa darauf, dass der Tag herumging oder dass die kommende Nacht die unerträgliche Hitze aus seinem Schlafzimmer vertrieb. Nein, heute wartete er nicht auf irgendetwas, sondern auf jemanden.
Es war lange her, dass er in seinen eigenen vier Wänden Besuch empfangen hatte. Die Leinwand, auf der sich jeder Besucher verewigen sollte, hatte er schon lange unter seinem Bett verstaut. Er verstaute sie genau zu dem Zeitpunkt, an dem er feststellte, dass nur die üblichen Gäste in seine Wohnung gekommen waren. Seine Eltern, sein Onkel und seine Beinahe-Tante, seine vier besten Freunde und noch ein paar Bekanntschaften, die er in seiner Zeit als Dartspieler kennengelernt hatte. Kurzum: Es standen auf der DIN A1-Leinwand knapp zwanzig Namen. Dies seit zwei Jahren – und es wurden nicht mehr. Er hatte frustriert den Versuch aufgegeben, weitere Gäste einzuladen, die dann doch nicht kamen oder sich mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden per SMS oder E-Mail abmeldeten.
Heute sollte es anders werden. Er hatte, wie abgesprochen, den Schlüssel unter die Matte vor der Haustüre im Erdgeschoss gelegt. Die Wohnung war zwar nicht geputzt, wie sie es normalerweise war, wenn Besuch anstand, doch war sie zumindest halbwegs aufgeräumt. Wenn man von einigen Wollmäusen und einem gut gefüllten Spülbecken absah, war sie für einen Singlehaushalt sogar ungewöhnlich sauber und aufgeräumt.
Sie hatte ihn einfach mit den Worten stehengelassen: „Gib mir deine Adresse und einen Schlüssel, dann wirst du dich bis an dein Lebensende an diesen Tag erinnern.“
Er wurde eigentlich nicht von fremden Frauen angesprochen. Normalerweise tat er dies auch nicht. Er war dafür viel zu schüchtern. Wer findet schon einen Nerd mit sozialem Beruf interessant. Dies war immer sein Standardgedanke. Doch an ihr hatte ihn irgendetwas fasziniert.
Optisch nur durchschnittlich: So könnte man sie beschreiben. Etwas zu viel auf den Hüften und auf Brusthöhe vielleicht etwas zu wenig. Als er sie am Verkaufsstand das erste Mal sah, trug sie eine grüne Schürze, die von der Hüfte abwärts die Beine verdeckte. Sie sollte sie vor dem Bratenfett des Grills schützen und verhindern, dass die heiße Glut der Kohlen die Kleidung beschmutzte. Passend zu dieser grünen Schürze trug sie ein weißes Top, welches auf dem Rücken das griechische Symbol für Widerstand zeigte. Das Omega war gleichzeitig das Symbol ihrer Fakultät. Gerade so konnte man es unter dem französischen Zopf noch erkennen. Die langen braunen Haare waren leicht fettig. Sie hatte vom Grill wohl schon mehr Schmutz abbekommen, als ihr lieb war.
Heute sollte sie durch seine Tür kommen. Er konnte sich nicht mehr genau an die Worte erinnern, die er ihr gesagt hatte. Ob sie besonders romantisch oder besonders geistreich gewesen waren. Wahrscheinlich hatte ihn sein langes Singleleben eher einen plumpen Anmachspruch rausstottern lassen, der ihr Mitleid erregte.
Was er allerdings noch genau wusste: Es ging um Senf.
Mit einem freundlichen Lächeln hatte sie seine Bestellung entgegengenommen. Zwei Bratwurstsemmeln.
Ketchup oder Senf?
Fragend sah er sie an, denn die Liveband veranstaltete gerade einen ohrenbetäubenden Lärm. Er hob die Schultern, zog sie mehrere Male nach oben und hielt die linke Hand in Form eines Trichters an sein Ohr. Mit einem bösen Blick sah sie in Richtung Bühne und beugte sich weit über den Tresen. Sie winkte ihn mit der flachen Hand heran, um ihm nahezulegen, es ihr gleichzutun. Er wiederholte den bösen Blick in Richtung Bühne, auf der gerade eine junge Frau mit voller Inbrunst versuchte, Bon Jovi zu trällern, und lehnte sich ebenfalls über den Tresen. Als sein Kopf in Reichweite ihrer Arme war, drehte sie seinen Kopf vorsichtig, um direkt in sein Ohr sprechen zu können. Sie legte beide Hände als Trichter um sein Ohr. Dann stellte sie die Frage aller Fragen:
„Ketchup oder Senf?“
Jeder andere Mensch wäre von der Banalität so beeindruckt gewesen, dass er schlicht und ergreifend seinen Wunsch geäußert hätte.
Er allerdings nicht.
Was tat sie da mit seinem Ohr? War das ein Knabbern? Nein! Eine Geste der Freundlichkeit? Ein verschmitztes Grinsen huschte über ihr rundes Gesicht und zeichnete deutliche Grübchen nach. Sie lachte offenbar gern, denn in ihrem Gesicht waren noch mehr dieser sogenannten Lachfältchen zu sehen. Erschrocken zog er seinen Kopf zurück und sah sie dabei irritierter an, als sie es eigentlich verdient hatte. Das huschende Grinsen, das er vorher gesehen hatte, wurde zu einem ausgewachsenen Lächeln. Die Augen allerdings sprachen nur eine Frage aus: „Ketchup oder Senf?“
„Überrasch mich“, entgegnete er.
Sofort merkte er, wie ihm das Blut in den Kopf schoss und aus der vornehmen Winterbleiche ein knalliges Rot machte. „Wie du willst“, sagte sie grinsend. Sie drückte kräftig auf einen Druckhebel, der auf einem Fünflitereimer befestigt war. Er konnte die kyrillischen Buchstaben auf dem Eimer nicht lesen. Die gelbe Farbe allerdings ließ ihn auf Senf tippen.
Sie übergab ihm die Bratwurstsemmel und signalisierte mit drei erhobenen Fingern, dass er drei Euro zu bezahlen habe. Etwas unkoordiniert kramte er in seinem Geldbeutel herum und kramte einen zerknitterten Zehn-Euro-Schein hervor. Sie drehte sich schwungvoll um, machte kurz eine Notiz auf einem Block, wohl so etwas wie eine Verkaufsstatistik, und gab ihm dann zwei Münzen und einen neuen Fünf-Euro-Schein in die Hand.
Dann wandte sie sich dem nächsten Kunden zu, hob ihre Hand ans Ohr und sah ihn auffordernd an.
Er ging und aß.
Der Zettel, den er erst zwei Tage später in seinem Geldbeutel fand, war der Grund für seine heutigen Konzentrationsschwierigkeiten:
Gib mir deine Adresse und einen Schlüssel, dann wirst du dich bis an dein Lebensende an diesen Tag erinnern.
Nach einem Tag Bedenkzeit hatte er angerufen und ein Treffen vereinbart.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss und schreckte ihn von seinem Laptop hoch.
Sie war nicht allein, sondern hatte noch eine Freundin mitgebracht. Selbstbewusst traten die beiden ein und schlossen die Türe hinter sich.