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Kennt einer Nancy

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11.07.2021
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Kennt einer Nancy

„Männer sehen mich verwirrt an, wissen nicht, ob sie mich ficken oder umbringen wollen.“
Viv Albertine "A Typical Girl"

„Here I Am, Rock you like a hurrikan...“ Ich singe aus voller Kehle, so laut ich kann. Es schadet nichts, dass ich gar nicht singen kann, denn niemand kann mich hören. Die Maschinen im Keller der Glühlampenfabrik sind einfach zu laut. Ein Höllenlärm. Die Arbeiterin neben mir sieht, dass ich die Lippen bewege. „Führst Du Selbstgespräche?“ „Ich singe“, erwidere ich. Sie schüttelt den Kopf und lacht.


Was für ein malerischer Anblick. Ein schönes nacktes Mädchen liegt mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen auf den Glasbausteinen, mit denen der eine Innenhof der stillgelegten Fabrik jetzt gepflastert ist und schaut in den Himmel über Berlin, beziehungsweise in das kleine Quadrat davon, das zwischen den hohen Fabrikmauern zu sehen ist. Munter plätschert neben ihr ein Quell über einen bemoosten Findling. Kunstvoll zerzauste junge Männer richten Kamera und Scheinwerfer auf sie drauf. Alle winken mir fröhlich zu. Sie haben wohl nicht mit Zuschauern gerechnet. Normalerweise ist hier keine Seele mehr um die Zeit unterwegs.


Ich laufe gern zwischen den hohen Backsteingebauten der alten Glühlampenfabrik umher. Sie hat Kriege und Revolutionen gesehen. Aus ihren Mauern kommt immer noch ein Geruch nach Schweiß und Maschinenöl. Der gutmütige rote Riese ist schon über 100 Jahre alt und war mir immer wohlgesonnen. Er war für Nancy und mich in oft der Rettungsanker, und außer uns hat er noch viele andere Berliner über Wasser gehalten. Damals, als ich Nancy kennenlernte, sah es hier um diese Tageszeit, am Ende der Warschauer, kurz vor der Oberbaumbrücke, ganz anders aus. Die Spätschicht lief. Die Fenster waren hell erleuchtet, und hinter dem Eingangstor waren immer Holzkisten mit russischer Aufschrift aufgestapelt. Alles fibrierte im Rhythmus der Arbeit, die Bänder rotierten, auf dem Hof flitzten Gabelstapler hin und her, und alle freuten sich auf den Feierabend.


Oftmals, wenn ich früher Geld brauchte und gerade keine Aushilfskräfte eingestellt wurden, oder das Einstellungsbüro geschlossen hatte, habe ich einfach einen alten Passierschein gefälscht, der vom Datum ungefähr so hinkam. Damit trat ich zur Schicht an. Diesen Trick hat mir übrigens Nancy verraten. Es gab ja immer genug zu tun. Nancy war sich sicher, dass sie die Fälschung bemerkt haben, aber ein Auge zudrückten. Heute ist der Zaun ringsherum verschwunden, und es gibt auch keine Pförtnerloge mehr. Niemand fragt mich nach einem Passierschein.


Ich bin mal jemandem von damals über den Weg gelaufen. Er hat mir erzählt, dass er auch heute, nach vielen Jahren, den Anblick der stillgelegten alten Lampenfabrik noch nicht ertragen kann. „Immer, wenn ich dort langlaufen muss, konzentriere ich meine Augen auf die Spitze des Turms, denn die ist neu.“


„Kennt einer Nancy?“, diese Frage habe ich schon vielen gestellt, von denen ich dachte, dass sie ihr begegnet sein müssten. Nancy muss wohl, nicht lange nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten, ihr Leben völlig geändert haben, denn alle, die ich nach ihr fragte, konnten mir nichts mehr über sie sagen.
Aber endlich habe ich doch mal einen getroffen, der sie gekannt hat. Eines Tages klopfte jemand bei mir an. „Weißt du, wo dein Vorgänger jetzt wohnt?“, wollte er von mir wissen. Er stammte aus dem selben Stadtbezirk wie Nancy und kannte sie. Die beiden waren sogar mal eine kurze Zeit zusammen gewesen. Aber auch er hatte sie schon lange aus den Augen verloren. Sie muss wohl regelrecht von dieser Stadt verschluckt worden sein.


So eine Geschichte wie die, die mir mit Nancy passiert ist, habe ich mal in einem Buch gelesen. In einer Nacht ließ sich jemand ziellos durch die Straßen New Yorks treiben. Da geschah etwas, dass ihm wie ein Wunder vorkam. Er traf einen anderen Mann, mit dem er sich auf Anhieb so verstand, als wenn sie sich schon seit Ewigkeiten kennen würden. Nach so jemanden hatte er sein ganzes Leben lang gesucht. Die ganze Nacht redete er mit seinem neuen Bekannten so, wie er noch nie mit jemandem geredet hatte. Die Sätze strömten nur so aus ihm heraus. Er konnte sich wirklich mitteilen, und der Andere verstand ihn. Er hatte endlich den Freund seines Lebens gefunden und war glücklich. Die Zukunft lag vor ihnen.
Aber dieser neue Freund musste wohl im Verlauf ihrer Begegnung, ohne dass er sich etwas anmerken ließ, beschlossen haben, ihn nie wiederzusehen und löste sich nach dem einen Abend völlig in Luft auf und ließ ihn ratlos zurück.


Aber ich will jetzt nicht vorgreifen, sondern von Anfang an erzählen.


„Ich bin doch gar nicht in der Partei.“ dachte ich. Ich wunderte mich, warum ich auf die Parteisekretärin warten sollte. Nachdem ich das schon ein paarmal aushilfsweise gemacht hatte, hatte ich mich beim Postbahnhof am Ostbahnhof, von den alten Berlinern Wriezener genannt, heute ist er seit langem stillgelegt, als Paketsortiererin beworben. Plötzlich flog die Tür der Kaderabteilung auf, und eine große, massige Frau stürmte wutentbrannt herein. Sie funkelte mich zornig mit ihren Augen an. Obwohl wir uns nicht kannten, hatte ich den Eindruck, diese Frau haßt mich. Es stellte sich heraus, dass in meiner Kaderakte eine Pfändung wegen eines Bibliotheksbuches war. Dieses vermaledeite Buch besaß ich leider immer noch. Ich hatte schon Freundinnen damit zur Bibliothek geschickt, aber sie wollten dort Bares sehen und nicht wenig. Die Gebühren wurden mit der Zeit immer höher. Zum Schluß hatten sie mir einfach ein Drittel von meinem Gehalt gepfändet. Und jetzt sollte ich deswegen Berufsverbot haben.


Nachdem ich nicht eingestellt wurde, durfte ich merkwürdigerweise auch beim Paketesortieren nicht mehr aushelfen. Als ich zur Nachtschicht antreten wollte, war mein Name auf der Liste beim Pförtner rot markiert. Ich versuchte zu diskutieren. Die anderen, die mit mir in der Schlange standen, schwiegen betreten. Sie wollten keinen Ärger haben. Die meisten, die hier tageweise Pakete sortierten, hatten schwere Alkoholprobleme und waren froh, dass sie den Aushilfsjob hatten. Aber wenigstens hatten sie mir den Tipp gegeben, dass man auch bei Narva Hilfskräfte sucht. Am nächsten Tag stand ich morgens vor dem Büro im Hauptgebäude. Mit mir zusammen standen in der Schlange vor dem Einstellungsbüro auch zwei Mädchen mit grünen Haaren, Minirock und Netzstrupfhose.
Eine Klippe, die es noch zu umschiffen galt, war der Nachweis einer Krankenversicherung. Aber der junge Mann im Einstellungsbüro war kooperativ und schien meinen Ausflüchten zu glauben. Mit einem Passierschein für die Spätschicht in der Hand verließ ich glücklich das Büro.

„Die ausgemergelten Matrosen ruderten mit letzter Kraft. Verschwommen, in der Ferne, zeigte sich ein Eiland. Als sie es nach Stunden endlich erreichten, entpuppte es sich als Paradies. Es gab Süßwasser, Palmen und exotische Früchte in Hülle und Fülle. ...“


Ich höre Nancy gespannt zu. Sie kann super erzählen, was ja auch eine Kunst für sich ist. Um uns her in der Lampenfabrik summen die Maschinen, es ist anheimelnd warm. Bei Narva an der Warschauer läuft gerade die Spätschicht. Meine Cousine und ich haben uns früher auch immer gegenseitig die Handlung von unseren Lieblingsbüchern erzählt, wenn wir in den Ferien zusammen in dem großen Ehebett meiner Großeltern geschlafen haben, in dem übrigens schon die Mutter meiner Mutter und meine Urgroßmutter gestorben sind. Besonders in dem Sommer, als wir beide 13 waren und von der siebenten Klasse in die achte kamen, meine Cousine die Scheidung ihrer Eltern verarbeiten musste und wir die ganzen Sommerferien bei meiner Oma verbrachten, war für uns das Geschichtenerzählen vor dem Einschlafen zu einer festen Angewohnheit geworden.


Das Schlafzimmer von meiner Oma lag parterre, und da ihr die Gardinen eingelaufen waren, konnte ich die Beine der Leute sehen, die abends auf dem Trottoir an der Hauswand vorbeigingen. Während meine Cousine über ihre zerstörte Familie weinte, langweilte ich mich. Ich hatte kein Mitleid mit ihr, weil ich nie eine gehabt hatte. Da draußen schien mir das Leben zu liegen. Abenteuerlustig wie ich war, versuchte ich meine Cousine anzustiften, mit mir aus dem Fenster zu steigen und spontan einen nächtlichen Stadtspaziergang zu unternehmen. Da wäre uns bestimmt nichts weiter passiert, denn in dem winzigen Städtchen in Mecklenburg, in dem meine Oma wohnte, wurden nach Anbruch der Dunkelheit die Bürgersteige hochgeklappt. Sie wollte nicht und erzählte es meiner Oma. Die bekam es mit der Angst zu tun. Sie sah uns schon schwanger wieder nach Hause fahren.


Meine Oma befürchtete wohl, dass ich in die Fußstapfen einer Cousine meiner Mutter trat. Sie hatte sich den guten Ruf verdorben, worunter ich mir aber nichts vorstellen konnte. Meine Mutter und meine Oma redeten immer davon, dass Mädchen, die sich leicht „wegschenken“, es verdient haben, dass anständige Jungs sie im Stich lassen. Ihr Name wurde nie erwähnt, und ich durfte sie nicht kennenlernen. Meine Verwandte lebte für die Liebe. Das stieß den anderen sauer auf. Ich finde, man kann sein Leben schlechteren Dingen widmen. Weil ich das Gerede über sie als ungerecht empfand, nahm ich mir vor, mir ebenfalls den guten Ruf zu verderben, auch wenn ich noch gar nicht richtig wußte, was ich dafür tun musste.

Zu der Zeit, als ich Nancy traf, habe ich ab und zu mal bei Narva in der Produktion ausgeholfen. Nach dem Ende der Schicht erhielt man sein Geld ausgezahlt. Jedesmal kam man in eine andere Abteilung, je nachdem, wo gerade Not am Mann war. In anderen Betrieben wurden die Aushilfskräfte von den übrigen Angestellten oft sehr herablassend behandelt, aber bei Narva war das ganz anders. Deshalb ging ich dort auch gerne hin. Für die anderen Arbeiter waren wir gleichberechtigte Kollegen.


In der Abteilung, in die sie mich an diesem Tag schickten, sah ich das eine der beiden grünhaarigen Mädchen wieder, die mir schon vor dem Einstellungsbüro aufgefallen waren. Ich hatte die beiden auch schon auf dem Wriezener Bahnhof gesehen, wo wir Pakete sortiert haben. Aber bisher hatten wir noch nie etwas miteinander zu tun gehabt. Sie und ich saßen uns gegenüber an einem Arbeitstisch. Ich fragte sie, wie sie heißt. „Alle nennen mich Nancy.“ erwiederte sie. Nancy war 19, etwas jünger als ich. Wir beide verstanden uns sofort und unterhielten uns stundenlang über Gott und die Welt, unsere jeweiligen Cliquen, Musikvorlieben und natürlich über Männer. Ich staunte nicht schlecht, dass Nancy Annie Lennox von den Eurythmics mochte, die für sie wohl eine Art Vorbild war. Außerdem stand sie auf Depeche Mode, die in meinen Augen die absoluten Softies waren, aber Nancy wusste zu erzählen, dass sie sogar Songs gegen Drogen gemacht hatten. Ihr gefiel auch die Stimme von Jimmy Somerville. Das war für mich alles übelster Discopop, der ständig im Radio hoch und runter gedudelt wurde und verursachte mir das blanke Grausen. Nie hätte ich vermutet, dass Punks so etwas hören. Aber sie war eben ein zartes, weibliches Wesen und kein wilder Punker. Es schien so, als wenn ich sie musikalisch schlagen konnte.


Schon nach kurzer Zeit kam es mir so vor, als wenn Nancy und ich uns seit Ewigkeiten kannten, denn in dem Moment, in dem ich den Mund aufmachen wollte, um etwas zu sagen, sprach sie es aus. Es war wie Gedankenübertragung. Nancy schien sich ein zu positives Bild von meinem Kumpelnetzwerk, das in Wirklichkeit bloß aus Bindfäden bestand, zu machen, denn sie verwendete immer ein optimistisches „Ihr“ oder „Bei euch“, wenn sie mich nach den Anderen aus meinem Freundeskreis fragte. Ich war da höchstens Mitläufer, so wie die meisten Frauen. Es gab natürlich auch arrivierte Szenefrauen. Eigentlich müsste sie es doch besser wissen, da sie das alles selber kannte. Eigentlich hatte ich gar keine richtigen Freunde. Das ahnte sie wohl schon. Wahrscheinlich spürte sie instinktiv, dass ich nirgendwo so richtig reingehöre.


Unsere Tätigkeit war zwar weniger körperlich oder geistig anstrengend, aber dafür extrem nervig. Mit einer Pinzette mussten wir kleine Teile auf rotierende Scheiben legen. Wenn Nancy nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht resigniert. Aber sie motivierte mich durchzuhalten. Mit uns saß noch eine andere Arbeiterin von Narva am Tisch. Sie war eine kleine, freundliche Frau, aber sehr in sich gekehrt. Ich denke, dass hatte mit ihrer Tätigkeit zu tun. Sie erzählte uns, dass sie schon seit 15 Jahren hier sitzt und die gleiche Arbeit macht. Ich konnte nicht glauben, dass man das 15 Jahre lang durchhält.

Im Laufe der Schicht keimte in mir langsam die Hoffnung auf, dass ich eine Freundin gewonnen habe. „Zusammen sind wir stark.“, dachte ich. Wir beide steckten in derselben Situation. Nancy, eine echte Berliner Pflanze, mit Spreewasser getauft, war auch aus ihrer Ausbildung geflogen, genau wie ich. Momentan waren wir beide solo und hielten uns mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Übrigens, Nancy bekannte sich zu ihrem Liebesleben, ganz im Gegensatz zu mir, die immer von einer unglücklichen Liebesgeschichte in die andere fiel. Sie wohnte bei einer Freundin, ich dagegen lebte ohne Mietvertrag in einer Ausbauwohnung im Prenzlauer Berg. Leider hatte ich noch nichts ausgebaut. Ich bekam schon Muffensausen, wenn ich Schritte auf der Treppe hörte. Ich dachte immer, dass die Polizei eines Tages kommt.


Beide versuchten wir uns, als Frauen, in Kreisen, in denen eigentlich mehr die Männer das Sagen hatten, zu behaupten. Aber mir war im Grunde schon klar, dass ich da gar nicht reinpasse und mich auf Dauer nicht halten kann. Der Geist von Woodstock hatte sich wohl verflüchtigt. Die Frauen mochten einen nicht und versuchten dich rauszudrängen, und die Männer waren nur so lange OK, wie sie dachten, dass sie bei dir landen könnten. Danach hatte man öfter einen Feind mehr. Mit dem Leben, das mir vorschwebte, wo Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit herrschten, hatte das wenig zu tun. Dafür kamen jetzt die Punks und wollten alles anders machen.


Aber trotz aller Schwierigkeiten war das wohl die Zeit, in der ich am intensivsten gelebt habe, und das Leben fühlte sich richtig an. Ich kannte einen Haufen Leute, die mir sehr ähnlich waren und mit denen ich reden konnte.


Überall gibt es den Typ des hilfsbereiten Kumpels, der in den Frauen nicht nur ein Sexobjekt, sondern mehr so etwas wie eine kleine Schwester sieht und Mitgefühl hat. Er hilft, ein Schloss einzubauen, borgt ihnen Geld und lässt sie auch mal bei sich wohnen, ohne etwas von ihnen zu wollen. Ohne diesen Typ Kumpel könnten sich viele Neuberlinerinnen gar nicht über Wasser halten. Eng wird es für sie, wenn sich dieser verlässliche Kumpel mal verliebt, seine Freundin sie nicht leiden kann und er sich völlig verändert oder vielleicht sogar wegzieht. So erging es mir mit meinem engsten Freund. Nancy erzählte mir, dass sie auch so einen guten Kumpel hat, der ihr immer hilft. Leider war er zur Zeit bei der Armee.


Mit Nancy hatte ich eine Schwester im Geiste gefunden. Im Verlauf des Gesprächs stellte sich nämlich heraus, dass sie genauso verrückt nach Büchern war wie ich.
Um uns die Zeit bei der eintönigen Arbeit zu vertreiben, kam sie auf die Idee, dass wir uns gegenseitig die Handlung von unserem Lieblingsbuch erzählen könnten. Zeit war ja genug da. Ihres war "Die Insel" von Robert Merle. Ich wußte eigentlich gar nicht, was mein Lieblingsbuch war. Damals bei Narva hätte ich Nancy wohl die Handlung vom „Fänger im Roggen“ erzählt. Aber ich bin ja gar nicht mehr drangekommen mit Erzählen. Heute würde ich „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ von Proust, den ich damals noch gar nicht kannte, als mein Lieblingsbuch bezeichen. Mit ihm angefixt hatte mich ein Sprecher vom Rias. Er las an irgendeinem runden Geburtstag mal spontan ein Stelle aus der <Recherche> von Marcel Proust vor. Seine magischen Schachtelsätze gingen mir nicht mehr aus dem Sinn.


Da Nancy genauso pleite war wie ich, mussten wir uns in der Pause mit den sauren Äpfeln begnügen, die es gratis in der Kantine gab.
Trotz der eintönigen Tätigkeit verstrich mit ihr zusammen die Zeit wie im Flug. Als das Schichtende um 22 Uhr erreicht war, war Nancy mit der „Insel“ immer noch nicht fertig, so dass ich zum Glück mit Erzählen nicht mehr dran kam.


Am Ende der Spätschicht erhielten wir unser Geld. Hungrig, wie wir waren, gingen wir noch in eine verräucherte Arbeiterkneipe in der Warschauer Straße. Es war das Einzige in dieser Gegend, wo es so spät noch etwas zu essen gab. Außer Bouletten war alles ausverkauft, oder das Personal hatte keine Lust mehr, noch etwas anderes zu machen. Aber die Bouletten waren besser als gar nichts. Das war übrigens die erste sinnvolle Nahrung für uns beide am heutigen Tage. Nancy, die ein guter Kumpel war, nahm auch für ihre Freundin, die mit knurrendem Magen alleine zu Hause saß, etwas zu essen mit. Die beiden Freundinnen hielten wohl zusammen und konnten sich aufeinander verlassen.


Die Männer in der Kneipe blickten Nancy feindselig an. So ähnlich muss es sein, wenn zwei Schwarze in Amerika zufällig in eine Versammlung des Ku Klux Klans geraten. Mich ließen sie ja gerade noch so durchgehen, aber von Nancy fühlten sie sich provoziert. Obwohl sie nicht hässlich war, entsprach sie wohl ganz und gar nicht dem weiblichen Ideal, dass die Männer hatten. Wie wichtig es für die meisten Männer doch ist, dass die Frau sich gesellschaftlich anpasst. Dagegen verlieben wir Frauen uns oft gerade deshalb in einen Mann, weil wir in ihm einen Rebellen sehen, womit wir wohl meist zu viel in ihn hineinprojizieren. Ich staunte, dass es die Punkmädchen so schwer hatten. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Auch ein paar, versoffen wirkende, Langhaarige, die wohl auch mal bessere Tage gesehen hatten, machten da keine Ausnahme. Sie hatten wohl alles vergessen und ihre Ideale, wenn sie denn mal welche gehabt hatten, längst verloren.

Doch, als wir uns danach an der Straßenbahn trennten, gab Nancy mir weder ihre Adresse, noch haben wir einen Treff ausgemacht. Sie wollte wohl keine Freundschaft mit mir. Das hatte ich schon befürchtet, aber ich musste es akzeptieren.
Trotzdem war ich so euphorisiert davon, dass ich sie kennengelernt hatte, dass ich die ganze Strecke, vom S-Bahnhof Warschauer Straße bis zum Volkspark Friedrichshain, wo ich wohnte, zu Fuß durch das nächtliche Berlin lief. Mir kam es so vor, als wenn die Stadt mir zu Füßen lag.

Einige Zeit später war ich mal wieder bei Narva in der selben Abteilung. Der junge Brigadier dort war ein netter Typ, der Nancy mochte. Er hatte bemerkt, dass wir beide uns angefreundet hatten. Von ihm erfuhr ich, dass sie auch wieder da ist, nur eine Tür weiter. Er wollte ihr Bescheid sagen. Ich wusste, dass sie nicht kommt. Er hat sich bestimmt gewundert.
Seitdem bin ich ihr nie wieder begegnet.
Es ist wohl nichts besonderes, dass sich Frauen untereinander die Solidarität verweigern. Vielleicht ist aus der Riot Grrrls Bewegung deshalb nicht richtig was geworden. Sie kamen nicht aus ihrer Haut raus. Jahrhundertealte Feindseligkeit und Konkurrenzdenken dem eigenen Geschlecht gegenüber lassen sich nicht so einfach auf Kommando wegzaubern.


Ich schluckte die Enttäuschung runter. Mit Frauenpower wurde es wohl nichts.
Ich dachte früher immer, dass es vielleicht an der möglichen Konkurrenz lag, die ich für sie hätte darstellen können. Inzwischen ist mir klargeworden, dass sie bemerkt hatte, dass ich, trotz der auffälligen Gemeinsamkeiten, noch weit wackeliger dastand als sie, die ja immerhin Berlinerin war und hier ihre Familie hatte. Es kann sein, dass sie auch störte, dass wir uns zu ähnlich waren.

Diese nicht gewordenen Freunde sind gute Menschenkenner, durchschauen einen, ohne dass man das merkt, was ihnen auch leichtfällt, da sie uns selbst in vielem ähnlich sind. Sie sehen unsere Fehler und Schwächen, und sie auch vielleicht schon, was mal aus uns werden kann.
Sie wünschen dir nichts Schlechtes und fühlen keinen Hass oder Neid. Aber sie entscheiden sich letztendlich dagegen, eine Freundschaft mit dir anzuknüpfen. Sie sind charakterfest und stehen zu ihren Entschlüssen. Dass sie nicht auf unsere freundschaftlichen Avancen eingegangen sind, wird ihnen niemals leidtun.


Ich glaube nicht, dass Nancy großartig untergegangen ist, wie sie es Unser einem ja immer prophezeit haben. Ganz im Gegenteil. Irgendwann hat sie mal den getroffen, der mitbekam, was für eine interessante Frau sie war. Sie ließ sich das Grün aus den Haaren rauswachsen und denkt noch heute gerne an alte Zeiten zurück. Sie hatte wohl irgendwann mal registriert, dass es sich damit erledigt hat. Vielleicht ist das auch irgendwie Scheitern. Nancys Kinder werden gar nichts davon wissen, dass ihre Mutter mal eine Rebellin war, bei deren Anblick den Spießern die Zornesröte ins Gesicht trat und sie nicht wussten, ob sie sie f... sollten oder sie schlagen sollten. Wenn ich manchmal abends durch Berlin fahre, stelle ich mir vor, dass sie irgendwo hinter diesen hellerleuchteten Fenstern ist.

Ich hatte, wie auch Henry Miller, den so hieß der Schriftsteller, dessen Freundschaft verschmäht wurde, über sich berichtet, leider immer nur Freunde, die mir selbst zu ähnlich waren. Aber auch er, der ja unendlich viele Leute kannte, hat, genauso wie ich, die Nancy nicht vergessen konnte, seine zufällige nächtliche Begegnung mit diesem unbekannten Mann, den er nie wieder gesehen hat und der aus einem Grund, den er nie erfahren wird, nicht sein Freund werden wollte, niemals vergessen. Diese zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich plötzlich in Luft aufgelöst haben und die man nicht ausgelebt hat, verfolgen einen wohl ewig.

 

Hallo Rob,
der Plot von dem Ganzen war eigentlich so: Zwei junge Frauen, die in derselben prekären Situation stecken (aus der Ausbildung geflogen, keinen Freund, leerer Magen), aber sich von ihren Schwierigkeiten nicht unterkriegen lassen und absolut nicht resigniert sind, lernen sich kennen und freunden sich an, verbringen den Arbeitstag zusammen, gehen danach noch in eine Kneipe, wo sie, als Außenseiterinnen, nicht gerade sehr freundlich angekuckt werden und sehen sich niemals wieder, obwohl die eine der Beiden, das sehr gern möchte.

Sie sind sich fast so ähnlich wie Doubles, natürlich nicht äußerlich, obwohl die eine sich als Punk versteht und die Andere ein Hippie sein möchte. Wahrscheinlich nimmt sich das nicht viel.

Die Hauptähnlichkeit zwischen den beiden ist aber, dass die Erzählerin hier das erste Mal in ihrem Leben auf eine andere Frau trifft, die genauso, wie sie selber, ihren Kopf mit Büchern vollgestopft hat. Nancy, eine starke Persönlichkeit, ist aber praktischer veranlagt, hat mehr Menschenkenntnis und ist, Last not Least, eine echte Berlinerin, was die andere nicht ist, aber gern werden möchte oder muss. Eigentlich braucht Nancy sie wohl nicht. Das muss die Andere akzeptieren. Es ist natürlich ein Verlust und sie ist enttäuscht. Irgendwie hat sie ihr anderes Ich gefunden und wieder verloren.

Ich hatte erst eine lange Version, die ich aber sehr gekürzt habe. Da kommt manches, was in dem kürzeren Text unklar ist, besser raus. Ich hatte noch eine Menge über Narva und die Abwicklung geschrieben, über einen Arbeitskollegen auf meiner momentanen Arbeitsstelle, der früher dort gearbeitet hat und dem wohl völlig das Herz gebrochen ist („konzentrierte meine Augen auf die Turmspitze“), über die Bücher, die meine Cousine und ich uns als Kind bei meiner Oma erzählt haben und über Nancy Spungen, die Freundin von Sid Vicious, vor der die Nancy aus Berlin ihren Spitznamen hat. Aber die gekürzte Version ist auch schon lang genug.

Ich hatte schon die Befürchtung, dass viele mit den ständig wechselnden Zeitebenen nicht klarkommen. Ich wollte ein bisschen Abwechslung reinbringen. Zuerst hatte ich immer vor jedem Absatz: „Ein paar Jahre später“ oder „Heute“ stehen, aber das habe ich wieder weggestrichen. Darauf muss man selber kommen.

Ich habe genau beschrieben, wo Narva liegt (am Ende der Warschauer Straße, kurz bevor sie in die Oberbaumbrücke einmündet), damit eventuelle Berlinbesucher sich das Gelände, das jetzt sehr schön mit verschieden gestalteten Innenhöfen und bemosten Quellbrunnen ausgestaltet ist, mal anschauen.

 

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