- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Kemala
Erst dachte ich: "Es muss eine Katze sein". Doch dann wurde mir klar, dass es etwas sehr, sehr böses war.
Vergangenheit
Der Ventilator bläst mir die warme Luft entgegen, die er aus der stets offen stehenden Haustüre ansaugt. Es ist neun Uhr morgens und schon jetzt treibt die Hitze den Schweiß aus den Poren. Seit nun fast sechs Jahren lebe ich auf dieser subtropischen Insel in der Karibik. Ein Leben mit Höhen und Tiefen, aber immer auch mit Sonne, Strand und Meer. Genau das, was ich mir immer wünschte. Kein Leben in Reichtum, aber es ist genug Geld da um Miete und Strom zu bezahlen und ab und an für ein paar Bier oder eine Flasche Rum genügt es ebenso. Was will ich mehr, das ist mein Rückzugsgebiet. Genug mitgemacht in den verschissenen fünf Jahrzehnten, die ich nun schon hinter mich brachte. Eine Menge Ecken dieser Erde kennen gelernt. Allerdings die eher unangenehmen Ecken. Zuerst in der Legion. Fünfzehn Jahre Afrika, Despoten beschützen und Despoten beseitigen. Manchmal ein paar Europäer davor bewahren, mit einem brennenden Reifen um den Hals durch die Straßen getrieben zu werden. Dann irgendwann der Abschied. Eine kleine Pension vom französischen Staat für 15 Jahre treue Dienste am Vaterland. Nicht wirklich mein Vaterland und auch nicht meine Heimat. Leute wie ich haben keine Heimat. Nach Afrika ging es zunächst auf den Balkan, als Söldner. Wer Uganda, Ruanda und Burkina Faso mitgemacht hat, den schreckt kaum noch was, auch nicht die Metzeleien im ehemaligen Jugoslawien. Irgendwann war auch das vorbei und zur Abwechslung probierte ich mich eine Zeit lang als Fahrer für eine Geldtransportfirma. Aus der Söldnerzeit hatte ich noch Rücklagen und mit den Ersparnissen aus dem Job bei der Sicherheitsfirma schaffte ich es, mir eine kleine Existenz auf dieser Insel aufzubauen. Die Erinnerungen waren und sind aber nach wie vor meine festen Begleiter, auch nachts. Keine freundlichen Begleiter.
Das Fieber
Vor etwa einem Jahr kam das Fieber. Zuerst nur schwach, anfänglich vermutete ich eine Erkältung. Dann aber wurde es stärker. Ich kann kaum noch aufstehen und bin wacklig wie ein 90-Jähriger. Eine Untersuchung beim Arzt, die mich ein kleines Vermögen kostete, brachte nicht wirklich etwas zu Tage. Dafür verschrieb mir der Medico Antibiotika, die so stark waren, dass sie mich vermutlich noch vor dem Fieber umgebracht hätten, weshalb ich den größten Teil der Tabletten im Klo versenkte. So dämmere ich die meiste Zeit auf dem Sofa dahin. Ab und zu schaut eine Nachbarin vorbei, die ich auch dafür bezahle, einmal in der Woche sauber zu machen. Die restliche Tages- und Nachtzeit bin ich jedoch alleine. Der Ventiltor vertreibt die Moskitos, nicht aber die Erinnerungen.
Von meinem Sofa aus, von dem ich mich nur mühsam erhebe, um ab und zu die Toilette aufzusuchen oder aus dem Kühlschrank etwas Trinkbares zu holen, kann ich einen ziemlichen Teil des Weges einsehen, an dem mein kleines Haus steht. Eine unbefestigte Straße aus festgestampftem Lehm, die in der Regenzeit manchmal zum reißenden Fluss wird. An den Rändern aufgereiht die armseligen Holzhütten mit dem obligatorischen Dach aus Zinkblech, die den Einwohnern des Ortes Schutz bieten. Schutz vor der Sonne, die einem das Gehirn verdampft, oder Schutz vor den sintflutartigen Regenfällen, die mitunter in sekundenschnelle losbrechen können. Der Weg wie auch die Strommasten mit ihren Kabeln führen ziemlich gerade auf den Wald zu und verlieren sich für die Augen in der dunklen Kühle der Bäume.
Der schwarze Fleck
Mit der untergehenden Sonne bricht die Dämmerung herein. In den Subtropen dauert diese Zeitspanne nicht lange. Innerhalb einer Stunde werden die Konturen langsam formlos und lösen sich auf, um mit den Schatten eine Einheit zu bilden und um letztlich zur Schwärze der Nacht zu werden. Undurchdringlich und nur von wenigen schwachen Lampen erhellt. Es war am Anfang einer dieser Dämmerungsstunden, an dem ich von meinem Sofa aus am Waldrand einen schwarzen Fleck bemerkte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dieser Fleck mich anstarrte. Natürlich konnte ich auf diese Entfernung nichts wirklich Greifbares erkennen. Es war nur ein relativ runder Fleck, schätzungsweise in der Größe einer Katze, von denen es hier reichlich gibt. Der Fleck, die Katze oder was auch immer starrte mich an, so glaubte ich zumindest, und ich starrte mit meinen fiebergetrübten Augen zurück, bis der Wald, die Erde und der Himmel eine übergangslose dunkle Wand wurden.
Meine Tage und Nächte verlaufen seit dem Ausbruch des Fiebers ziemlich gleich. Ich träume im Halbschlaf mit offenen Augen vor mich hin. Manchmal schlafe ich auch richtig, jedoch nie lange. Was es an Pflichten zu erledigen gibt, erledigt meine Nachbarin, die eine Vollmacht besitzt, um Geld für mich von der Bank in der nächstgelegenen Stadt abzuheben. Es sind gute Menschen hier, freundlich und unglaublich hilfsbereit. Anders als in der Hauptstadt, in der die Bevölkerung durch den Tourismus gelernt hat, dass es nur ein Ziel gibt und das ist Geld. Es ist den Einheimischen kaum zu verdenken, dass ihre Gier geweckt wird, wenn sie zusehen müssen, wie manch ein Tourist an der Theke einer der unzähligen Bars, Diskotheken und Nachtclubs an einem Abend mehr ausgibt, als sie im ganzen Monat verdienen. Wenn den Bedienungen Dollarscheine zwischen die hoch erhobenen Brüste geschoben werden, deren Gegenwert mehr ist, als ein Tagelöhner für zehn Stunden auf dem Bau bekommt. Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung und so mancher Tourist fand sich schon mit aufgeschnittener Kehle und ausgeraubten Taschen in den Zuckerrohrfeldern wieder, die rund um die Stadt angelegt sind.
Die Kreolin
Hier auf dem Land bin ich weit weg von den Versuchungen und Gefahren der Großstadt. Ich brauche es auch nicht mehr. Was es dort an Vergnügungen gibt, kenne ich zur Genüge. Mit meinem elenden Fieber habe ich zudem nicht die geringste Lust, etwas zu unternehmen. Ich warte darauf, dass die Hitze den Körper verlässt. Das der Kopf wieder klar wird, während ich auf dem Sofa liege und die Straße hinunterschaue, auf den Waldrand. Drei Tage nachdem ich den Fleck zum ersten Mal bemerkt hatte, kam dieser wieder. An der gleichen Stelle wie zuvor und wieder hatte ich dieses unheimliche Gefühl, das er mich anstarrte, bis die Nacht ihn verschluckte. In den nachfolgenden Wochen tauchte der Fleck nun regelmäßig auf. Immer mit Abständen von zwei oder drei Tagen. Fast schon erwarte ich ihn wie einen alten Freund, jedoch ein Freund, mit dem sich etwas Schreckliches verbindet.
Zweimal in der Woche kommt eine Kreolin vorbei, die auf ihrem Kopf eine Plastikschüssel voll mit Obst und Gemüse balanciert. Das verkauft sie an die Menschen hier im Dorf. Kochbananen, Yuca-Wurzeln, Paprika, Chinola, Avocado und Tomaten stellen die übliche Auswahl ihres Angebots dar. Auch bei mir klopft sie regelmäßig an. Sie tritt ein und stellt den Plastikkorb vor meinem Sofa auf dem Boden ab. Ich wähle meist ein paar Tomaten und einige Chinola aus und bezahle üblicherweise ein bisschen mehr als die Einheimischen. Das ist kein Problem, zudem unterhalte ich mich gerne mit der Frau. Dabei sind die paar Brocken Kreol ganz hilfreich, die ich während einer lange Jahre zurückliegenden Beziehung aufschnappte. Wir plaudern einfach ein bisschen, meist über die Hitze, manchmal über die Hauptstadt und einmal habe ich ihr auch von dem Fleck erzählt, der mich anstarrt und so magisch anzieht. Während ich darüber rede, schaut sie mich an und das freundliche Lächeln in ihren Augen und den Mundwinkeln verschwindet langsam. Sie hebt ihre Schüssel auf und dreht sich dem Ausgang zu, wobei sie ein Wort murmelt, das ich da zum ersten Mal hörte, dann aber in der Folge immer wieder. Ein Wort, das für mich eine schreckliche Bedeutung bekommen sollte: Kemala.
Die Legende
Mein Fieber geht nicht zurück. Es bleibt genauso wie der Fleck am Waldrand, der nun täglich in der Abenddämmerung zu erkennen ist. Vor einer Woche war um diese Tageszeit meine Nachbarin hier, um mir das Geld zu bringen, das sie von der Bank geholt hat. Ich versuche, sie auf den komischen Fleck aufmerksam zu machen und frage, ob dies eine Katze sein könnte. Sie starrt angestrengt in die Richtung, die ich ihr mit dem ausgestreckten Arm weise, aber sie kann keinen schwarzen Fleck sehen.
Die Kreolin kommt nach wie vor, um ihr Obst und Gemüse zu verkaufen, doch unsere Unterhaltungen verlaufen nicht mehr so angenehm leicht, wie bis zu dem Moment, als ich den Fleck erwähnte. Die dunkle Frau sieht mich nun jedes Mal irgendwie forschend an, als wenn sie etwas in meinem Gesicht suchen würde. Ich frage sie nach dem Wort Kemala und was das heißen soll? „Nichts von Bedeutung“ weicht sie aus und verlässt mich.
Auch wenn ich im Fieber liege, beschäftigt mich die Frage, was es mit Kemala auf sich hat. Wenn die Kreolin schon nicht antworten will, so weiß es vielleicht Okleide, ein hier im Dorf lebender Kreole, der als Tagelöhner alles macht, was ihm aufgetragen wird. Als ich ihn den Dorfweg entlang gehen sehe, immer die Machete in der rechten Hand, winke ich ihn heran. Mein Angebot eines eiskalten Bieres aus dem Kühlschrank lehnt er nicht ab und setzt sich auf einen Holzstuhl, um einen langen Zug aus der Flasche zu nehmen. Dann stelle ich auch ihm die Frage nach Kemala. Der Kreole, dessen Name in zwei Silben ausgesprochen wird, Okle-ide, lehnt sich zurück und sieht mich fast genauso an wie in der letzten Zeit die Kreolin. Dann beginnt er zu erzählen:
„Es gibt eine Geschichte unter uns Kreolen, die so alt ist wie die ersten Sklaven, die von Afrika hierher auf die Insel verschleppt wurden. Wenn ein Mensch in seinem Leben zu viel Böses auf seine Seele geladen hat, kommt er oder sie nicht einfach in die Hölle. Er muss weiterhin auf der Erde bleiben und mithelfen, das andere Böse zu holen. Aber er wird nicht etwa zum Zombie, das ist alles Gerede. Nein, sein Körper stirbt, wird beerdigt und vergeht. Seine Seele aber, seine elende schwarze Seele bleibt und sammelt weitere schwarze Seelen ein. Denn das Böse erkennt sich am besten untereinander. Es lässt sich nicht durch eine freundliche Fassade täuschen. Kemala ist übrigens nur eine Vereinfachung von „que es malo“ etwas Schlechtes. Solche und ähnliche Legenden gibt es in unserem Volk haufenweise, die einen glauben daran, die anderen nicht.“
Der Weg
Damit endete die Geschichte des Kreolen, der nebenher sein Bier getrunken hatte und sich nun erhebt. "Manche Menschen erkennen Kemala, bevor es sie erwischt", sagt Okleide noch in meine Richtung, ohne mich anzusehen. "Vor allem diejenigen, deren Schuld sehr, sehr groß ist". Dann geht er zur Tür hinaus.
Da liege ich nun, und fiebre vor mich hin und versuche abzuschätzen, wie groß meine Schuld ist. Wirklich so groß, das ich meinen „Abholer“ erkenne? Wann holt er mich dann? Innerlich möchte ich über mich selbst lachen, weil ich das Geschwätz des alten Kreolen ernst nehme, aber irgendwie will es nicht gelingen, das Lachen.
Ich bekomme Angst, Angst zu sterben in diesem Dorf der freundlichen Menschen und des unheimlichen Flecks am Waldesrand. Der Gedanke an den Tod ist mir nicht fremd. Ich selbst habe ihn hundertfach gesehen und auch dutzendweise selbst verursacht. Ich bin Soldat, es ist mein Beruf, andere Menschen zu töten und wenn es einmal keine Soldaten sind, haben die Strategen den Begriff Kollateralschaden erfunden, so einfach ist das. Aber auch ich klammere mich an das bisschen Leben in mir und will mich nicht so einfach holen lassen. Alles Quatsch, dieses Kemala und der schwarze Fleck.
Trotz meines Fiebers entschließe ich mich, am nächsten Tag in die Hauptstadt zu fahren und dort in die Klinik zu gehen, auch wenn es teuer wird. Ich habe nun lange genug gewartet. Zuerst bringt mich ein Motorradtaxi in den nächst größeren Ort, während ich mich schwankend an den Fahrer klammere. Dann geht es weiter in brechend vollen Sammeltaxis, bis nach 5 Stunden Fahrt die Hauptstadt erreicht ist. Ich fühle mich schon besser. Stadtluft tut mir gut. Nach der langen Fahrt habe ich zudem höllischen Durst. Es ist bereits später Nachmittag und bevor ich mich zur Klinik begebe, will ich irgendwo noch ein oder zwei Bier kippen. Eine dunkle Kneipe ist genau der richtige Ort dafür und als ich die Tür aufstoße, fällt das Sonnenlicht auf eine lange Theke, an der zwei Leute herumlungern. Hinter der Bar steht ein Mann mit Schürze, der gerade eine Flasche öffnet. Ich schiebe mich auf einen der Barhocker und lasse mir ein eiskaltes Bier bringen. Einer der Männer dreht sich zu mir. Ein pechschwarzer Kreole mit einer kunstvoll zurechtgestutzten Frisur und einer Goldkette um den Hals. Wir beginnen ein Gespräch, das wie immer damit beginnt, dass sich jeder über die Hitze beklagt. Ich erzähle, dass ich hier bin, um mein Fieber in der Klinik behandeln zu lassen. Irgendwann komme ich auch auf die Geschichte mit dem schwarzen Fleck zu sprechen. Ja, sagt der Schwarze, er kennt die Legende um Kemala, aber er denkt, dass mir nicht alles erzählt wurde darüber. Bevor ich mir aber erklären lasse, was denn noch an der Legende fehlt, treibt mich das Bier auf die Toilette, die sich im hinteren Teil der Kneipe befindet.
Zufrieden lasse ich den Strahl in das Urinal plätschern, als ich den Schatten hinter mir bemerke, aber zu spät. Der große Schwarze von der Theke umklammert mich und hält mir sein Messer an den Hals. „Kemala“, so flüstert er mir ins Ohr, „holt nicht einfach das Böse. Er holt zuerst das Böse weg vom Friedlichen, um es als Böses unter Bösem heimzuholen. Ein böser Geist darf nicht an einem friedlichen Ort sterben. Kemala hat Dir den Weg gewiesen. Den Weg zu mir“. Doch das nehme ich kaum noch wahr, denn die Klinge zerschneidet mühelos meine Halsschlagader und das warme Blut fliest an meinem Körper hinab, während flinke Finger das Geld für die Klinik aus meiner Jackentasche holen.