Keller und ich
Keller und ich
«Wieviele Katzen haben Sie zuhause?», frage ich ihn. Er steht an seinem Schreibtisch, schiebt die Lesebrille Richtung Nasenspitze und schaut mich an. «Pferde», sagt er, «Pferde. Ich habe Ihnen doch geasgt, dass Reiten der einzige Sport ist, der mir seit dem Unfall noch möglich ist.» Ja, denke ich, klar weiss ich das, wie könnte ich das vergessen haben, er hat genug davon gesprochen. Er spricht jedes Mal davon. Dabei schaut er mich an, mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Er schaut in mein Gesicht, als wäre ich ein leerer Sorgenbriefkasten. Gut, leer bin ich, aber mein Äusseres erinnert wohl kaum an einen schnittigen, rot lackierten Blechkasten. Ich könnte mir zumindest die Fingernägel lackieren. Ich würde es tun, wenn nicht grad alle meine Lackdöschen vertrocknet wären. Und ich nicht in einem unendlichen Sumpf stecken würde, in dem Farben nicht vorgesehen sind.
Irgendetwas läuft da ganz gewaltig schief, denke ich, als ich in seinem Zimmer sitze. Und damit meine ich nicht nur, dass es nach Katzenpisse riecht und die Orchideen auf dem Fenstersims jämmerlich daherkommen. Es ist auch nicht die Tatsache, dass der Husten im Nachbarzimmer meinen Stuhl zum Zittern bringt und die Schritte auf dem Korridor lautstärkemässig quasi durchs Zimmer führen. Auch nicht, dass über seinem Schreibtisch eine Karte hängt mit dem pinkfarbenen Aufdruck «Das einzig Gesunde an einem Donut ist das Loch.». Haha, denke ich, unglaublich lustig. Und ich sage Ihnen, ich lese die Karte jedes Mal und ich versuche, zu lachen. Vergeblich. Gut, dies könnte auch daran liegen, dass ich ja eben hierherkomme und dass da Lachen nicht zwangsläufig zu meinem Repertoire gehören muss. Eine verlotterte Villa, ein Provisorium, wie er mir bei meinem ersten Besuch erzählt hat. Sowieso hat er damals sehr viel, also wirklich sehr, sehr viel erzählt. Von diesem Provisorium, von seinen erkälteten Arbeitskolleginnen, vom knarrenden Treppenhaus, davon, dass er immer erreichbar sei und von den Jahren bis zu seiner Pensionierung, die er bestimmt in diesem Provisorium verbringen müsse. Was ihn zum Nachdenken und vor allem Referieren über den Begriff Provisorium im Allgemeinen und des Schweizers Anspruchshaltung im Speziellen anregte. Grad so in der Vorweihnachtszeit sei dieser vertiefte Beachtung zu schenken. Zwischendurch holte ich immer wieder tief Luft, meine Worte, dachte ich, meine Worte wollen auch raus. Gerne hätte ich dazwischengeworfen, dass seine Pensionierung bestimmt noch lange, sehr, sehr lange auf sich warten liesse.
Doch ich schaffte es nicht, ich sah keine Möglichkeit, seinen Redefluss zu unterbrechen. Einmal schaute er mich kurz an, «wenn Sie etwas sagen möchten, hängen Sie einfach bei einem Komma ein, das machen alle so.» Ich sage Ihnen, ich kenne die Kommaregeln. Doch der Mann setzt keine Kommas. Niemals. Als wir uns verabschieden, stellt er fest, dass ich mich angenehm ruhig verhalten hätte. Eine Wohltat, bei all dem, was ihm sonst so unter die Nase gerate.
Wobei das Wort Nase ihn grad wieder triggert. «Ist die Luft hier drin schlecht?», fragt er mich. Ich denke, dass die Luft erbärmlich sei. Bevor ich dies nett formulieren kann, kommt es zu einem weiteren logorrhöischen Ausbruch seinerseits. Weil er ja eben seit dem Unfall kaum etwas rieche und weil die Nase wohl niemals mehr zurückkehren würde. Ja, tatsächlich sei er grad ausreichend mit der Bewältigung dieser Tatsache beschäftigt. Dies erkläre auch seine Verspätung, für die ich halt schon Verständnis zeigen müsse. Ich denke nach, er denkt nach, ausnahmsweise. Da brechen die Worte in einem Sturm aus mir heraus. Ich hätte gefälligst keinerlei Verständnis, ja, keinerlei, weder für Gestank, noch für Unfälle, noch für Pferde. Und schon gar nicht, aber überhaupt nicht für Verspätungen. «Bleiben Sie ruhig», sagt er, «Setzen Sie sich wieder hin. Möchten Sie ein Glas Wasser?». Ich entgegne, dass ich mich nicht beruhigen würde und dass der Tag nicht mehr fern sei, an dem ich ihn nach seinem Unfall befragen würde. «Noch können Sie ruhig schlafen», sage ich, «doch ich werde Sie auseinandernehmen, ich werde Ihren Unfall analysieren, ich werde Ihre Gedanken sezieren, dass Ihnen übel wird. Und Ihre elenden Orchideen werde ich der Katze zum Frass vorwerfen.» Kurz hole ich Luft, noch ist nicht alles gesagt. Ich sehe, dass er mit zitternder Hand zum Telefon greift. «Sie werden sich wundern, wie Sie mir zuhören werden, Sie werden mir zuhören. Und für den Fall, dass Sie mich auch nur einmal noch warten lassen, seien Sie gewarnt, ich kann noch ganz andere Töne. Sie meinen, Ihr Leben sei ein Drama? Wappnen Sie sich, sorgen Sie vor, solange Sie noch können. Hier bin ich die Dramaqueen.»