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Keine Verwandlung
Als Greta Samsor eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand sie sich in ihrem Bett - eigentlich ganz gut aufgehoben. Sie war gestern sehr spät in die Gänge gekommen und hatte sich von ihrer Vorarbeiterin einiges anhören müssen. Heute hatte sie noch weniger Lust auf den immer gleichen Trott, fühlte sich auch kaum besser als am Tag zuvor. Sie hatte allerdings etwas dazugelernt: "Eine von uns mehr oder weniger, das fällt nicht auf. Zuspätkommen dagegen sehr!", beruhigte sie ihr Gewissen und blieb dann einfach liegen. "Außerdem scheint längst die Sonne". Der Ärger wäre also viel größer als gestern, wenn sie sich jetzt aufraffen und doch noch zur Arbeit gehen würde. Greta drehte sich schlaftrunken auf die andere Seite. Dann fielen ihr die Augen zu.
„Ihhhhrkk!“ entfuhr es ihr, als es plötzlich dunkel wurde, "nicht schon wieder verschüttet sein!“ Böse Erinnerungen stiegen auf. Greta war mit einem Schlag hellwach. Genau so schnell wurde es um sie herum auch wieder hell. "Meine Güte! Was war das denn jetzt? Ich bin wohl doch ernsthaft krank", grübelte sie, "am besten wird sein, ich bleibe einfach liegen und warte ab". Kaum hatte sie zu Ende gedacht, sank wieder alles in tiefe Finsternis. Greta erschrak erneut, worauf es sofort wieder hell wurde. Dieses Spiel wiederholte sich noch ein paar mal, bis sie langsam begriff, dass sie offenbar Licht und Dunkelheit allein mit der Kraft ihres Willens steuern konnte.
Greta war überwältigt. "So muss sich eine Königin fühlen", dachte sie. Sie wusste nur wenig über die Königin, niemals war sie auch nur in ihre Nähe gekommen. Gänge reparieren, das kannte sie, Erde herumschleppen und festdrücken, tagaus und tagein. Den meisten ihrer Kolleginnen hätte das genügt, sie hätten nie nach einem dahinter verborgenen Sinn gesucht. Greta war aber schon immer ein wenig vorlauter, ein wenig neugieriger und ein wenig phantasiebegabter als alle anderen gewesen, und so versuchte sie auch jetzt, sich einen Reim auf die Sache zu machen.
Hie und da wurde erzählt, dass aus manchen Arbeiterinnen über Nacht Königinnen werden, die in die Welt hinausfliegen und neue Kolonien gründen. Greta hatte das immer für ein Märchen gehalten, denn niemand wusste Genaueres darüber zu berichten. Bei einer solchen Verwandlung dabeigewesen war erst recht niemand. Mit ihrer neu entdeckten Macht über das Licht aber nahm die Idee, sie selbst könnte ausersehen sein eine Königin zu werden, Greta nach und nach völlig gefangen. Angestrengt dachte sie nach, an welchen anderen Zeichen sie erkennen könnte, ob es wirklich so war.
"Flügel! Junge Königinnen haben Flügel! Wenn sie in die Welt hinausfliegen können, dann müssen sie Flügel haben!" Greta war über ihre Erkenntnis so aufgeregt wie noch nie zuvor in ihrem Leben. "Ob ich einfach versuchen soll, sie zu bewegen?" Vorsichtig spannte sie der Reihe nach alle Muskeln an, doch nichts geschah. Plötzlich aber schlenkerte ein hässlicher, blasser Schlauch mit fünf kleineren Auswüchsen an seinem Ende durch ihr Blickfeld, der so überhaupt nichts mit dem gemein hatte, was Greta sich unter einem Flügel vorstellte. Bevor sie darüber nachdenken konnte, was dieses seltsame Gebilde sein könnte, überstürzten sich plötzlich ihre Sinneseindrücke.
Begleitet von einem trockenen, kurzen Knall mitten in ihrem Kopf spürte sie in ihrem linken Hinterbein jene Vibrationen, die gewöhnlich Gefahr bedeuteten. Gleich darauf breitete sich ein stechender Schmerz in diesem, aber auch in ihrem rechten Vorderbein aus. Instinktiv krümmte sie den Hinterleib schutzsuchend unter den Körper und zog dabei blitzschnell die Beine an. Augenblicklich brach die Hölle los. Mehrere dieser seltsamen, fleischigen Gebilde schlugen nun auf Greta ein und zischten kreuz und quer durch ihr Blickfeld, während sie in ihrem Schmerz wild herumstrampelte.
Je mehr sie sich wehrte, um so erbitterter stürzte sich ihr Gegner auf sie. Endlich bekam sie einen der dünneren Schläuche mit ihren Mundwerkzeugen zu fassen und biss mit aller Kraft zu. Doch statt daraufhin von ihr abzulassen, zahlte der übermächtige Angreifer es ihr offenbar in gleicher Münze heim und biss ihr in eines ihrer Vorderbeine. Die Schmerzen wurden nun so unerträglich, dass Greta keine Kraft mehr aufbrachte weiterzukämpfen. Doch genau in dem Moment, in dem sie sich in ihr unausweichliches Schicksal fügen wollte, zog sich der Angreifer unerwartet zurück.
Greta blieb keuchend liegen und ärgerte sich über sich selbst, weil sie nicht früher auf die rettende Idee gekommen war: mit der Kraft ihres Geistes ließ sie es jetzt dunkel werden, um dem Gegner jede Orientierung zu nehmen, falls er sich noch in der Nähe aufhielt. Der Plan schien aufzugehen, denn der Angreifer kehrte tatsächlich nicht zurück.
"Ich glaube, das alles war eine Strafe für meinen Hochmut", dachte Greta, "ich bin eine Arbeiterin und werde immer eine sein. Heute will ich meine Wunden auskurieren, aber gleich morgen werde ich mit dem größten Eifer an meine Aufgabe zurückkehren. Ich will in Zukunft die fleißigste aller Arbeiterinnen sein." Und es war ihr wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als sie am nächsten Morgen als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.