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Keine Liebe für Paul
Geschäftig tunkte er die Rolle in den Farbeimer. Eierschale, ein warmes Weiß, das trotz seines beigen Anteils nicht aussehen sollte wie eine Tapete nach fünf Jahren Raucherhaushalt. Er war kein mutiger Inneneinrichter, aber er wollte den Neuanfang feiern mit dieser zurückhaltenden Farbe, die nicht juhu schrie, aber doch neu roch. Er hoffte, sich in diesen Räumen für immer niederzulassen, hier auf ein Leben alleine vorzubereiten. Lächelnd strich er die Walze über die Raufasertapete. Das schmatzende Geräusch und die feuchten Spritzer im Gesicht machten ihm Spaß.
Fast vergaß er, dass er im Anschluss ein Junggesellenbettgestell montieren würde und dass zu dem kleinen Tisch in der Küche ein echter Stuhl und ein Alibistuhl gehörten. Der mit Verwendung hatte das Fenster im Rücken, zufällig schweifende Blicke in die Welt draußen waren herausfordernd, manchmal traf ihn sein Problem unvorbereitet, während er in ein Honigbrot biss.
Die neue Wohnung hatte drei Räume. Im kleinsten würde er sein Schlafzimmer einrichten, der größte Raum war als das Wohnzimmer vorgesehen. Das dritte Zimmer war schwieriger. Sein Hobby, die Drohnen, würde viel Raum einnehmen. Das war gut. Aber es gab da noch den PC. Er hatte lange darüber nachgedacht, diesem gar keinen Raum mehr in seinem neuen Leben zu gestatten. Aber lebe heute ohne Internet, er hatte es versucht, das ist schlicht unmöglich. Vor dem Umzug hatte er alles platt gemacht, neu formatiert, aber wenn er ehrlich zu sich selber war, wie oft hat er das schon getan in der Vergangenheit? Hatte es etwas genutzt?
Die Tabletten halfen. Aber tief in ihm drin gab es einen Raum, in dem er sich nichts mehr wünschte als zu lieben, rein und unschuldig. Und Liebe zurückzubekommen. Auch die Gier nach Körperlichkeit gab es dort. An die Tür hatte er ein Schloss angebracht, den Schlüssel versteckt. Es gab immer mehr Tage, an denen ihn die Kenntnis des Ortes nicht drückte. Ihn der Drang das Monster raus zu lassen nicht in Versuchung brachte.
Ein weiterer Schritt in sein neues Leben bedeutete sich Verbündete zu suchen. Seine Freunde und Familie einzuweihen. Dazu hatten sie ihm in seiner Gruppe geraten. Aber er hatte schreckliche Angst, diese Beziehungen mit seinem Problem zu vergiften. Er wollte Suse als erstes einweihen. Ihrer langjährigen Freundschaft traute er zu, das zu tragen. Um dem Aufschieben entgegenzuwirken, hatte er sich mit ihr verabredet. Hoch offiziell am Freitag. Er hatte ihr gesagt, dass es etwas Wichtiges zu bereden gäbe, um sich selber zu zwingen, damit herauszurücken.
„Du willst doch immer wissen, warum ich keine Freundin habe?“, den Satz hatte er sich zurechtgelegt, ihn auszusprechen war unglaublich schwer. Seine Zunge klebte trocken am Gaumen.
„Aha. Na endlich, komm, sags einfach, du bist schwul, das weiß ich eh schon, alter Feigling. Nach zwei Jahrzehnten Freundschaft vertraust du mir endlich“, jammerte Suse und legte mit großer Geste das Ohr frei. „Also?“
„Nein, ich, ich bin nicht schwul.“ Er sackte merklich in sich zusammen.
„Um Gottes willen, was ist los?“
„Ich liebe Kinder.“ Jetzt war es raus. Er stand versteinert mitten im Park und traute sich nicht, die krampfhaft zugedrückten Augen wieder zu öffnen. Der Satz mit den drei Worten, der alles veränderte, der Gut zu Böse machte, stand zwischen ihnen. Er wollte die Reaktion in Suses Augen nicht sehen. Aber er wusste, so nicht weiter stehenbleiben zu können und öffnete sie vorsichtig wieder. Schaute ihr nur auf die Füße. Sie war nicht weggelaufen, immerhin.
„Wie meinst du das? Sexuell? Oder willst du gerne Kinder haben, verdammt, jetzt sag doch was, Paul und stehe nicht rum wie ein Depp!“ Ihre Stimme bekam einen hysterischen Unterton, was ihm die Antwort nicht erleichterte.
„Also gut. Ich liebe Kinder sexuell. Ich hab mich aber noch nie an einem vergriffen. Das musst du mir glauben.“
„Woher weißt du es dann?“ Auch ihre Bewegungen wirkten nun eingefroren.
„Ich weiß es eben. Erwachsene interessieren mich nicht in dem Zusammenhang.“
„Also … Also bist du als Kind missbraucht worden? Dein Vater?“
„Himmel, nein, du kennst doch meine Eltern. Sie sind toll.“
„Aber so etwas fällt doch nicht vom Himmel?“
„Doch, leider schon. Ich bin Kernpädophil, das heißt, die Orientierung ist angeboren. Stell dir einen Raum im Himmel vor, wo die Seelen der Baldmenschen in einer Art Warteraum sitzen. Dort bekommt man seine Grundausstattung. Mir wurde: Männlich, sexuelle Orientierung: Kinder aufgeklebt. So wie Dir Frau: Heterosexuell. Oder hast du das Gefühl, dich dazu entschieden zu haben, Männer zu lieben?“
„Das ist ja wohl etwas anderes“, schmetterte sie ihm entgegen.
„Nein, es ist nichts anderes. Es war einfach da. Das ist auch der heutige Stand der Wissenschaft, keiner kann sich bisher erklären, warum der eine Mann Frauen, ein anderer Männer und der nächste Kinder liebt.“
„Du willst das jetzt aber bitte nicht mit Homosexualität vergleichen, ich glaub, es hakt!“
„Nein, ich versuche es nicht schönzureden. Sondern ich versuche, es dir zu erklären. Nicht alle Pädophile missbrauchen Kinder, nicht alle Täter sind pädophil.“
„Was soll das heißen? Ein Täter, der Kinder missbraucht, ist ein pädophiles Schwein.“
„Ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus. Um ein Kind zu missbrauchen, muss man nicht pädophil sein. Man kann selber missbraucht worden sein, oder man kann psychisch krank sein und es tun, um Macht auszuüben“, versuchte er es halbherzig.
„Findest du es nicht immer krank, Kinder zu missbrauchen?“ Sie sah ziemlich geschockt aus und hatte ihre obligatorische roten Flecke am Hals, ein Zeichen, dass sie maximal gestresst war. Er erahnte auch eine Spur Ekel und trat ein Stück zurück.
„Ja, schon.“ Resigniert bedeckte er seine Augen mit den Händen. Es war so schwer. „Was ich sagen wollte: Es gibt einen kleinen Prozentsatz Männer und einen noch viel kleineren von Frauen, die Kernphädophil sind, sprich, damit auf die Welt geschissen wurden und nun sehen können, wie sie mit der Scheiße umgehen. Man geht von einem Prozent Männer aus. Zu denen gehöre ich.“ All diese geübten Antworten schienen sie nicht recht zu überzeugen, wie auch, er hatte sich ja eben als Monstrum geoutet.
„Und wie gehst du damit um?“
„Ich habe eine Therapie angefangen. Ich nehme Tabletten, die mich chemisch kastrieren, um den Sexualtrieb zu unterdrücken.“
„Also wurdest du schon mal verurteilt?“
„Verdammt noch mal, nein, ich habe dir doch gesagt, dass ich mich noch nie an einem Kind vergriffen habe.“
„Okay, Paul. Ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
„Was ist das für eine Therapie?“
„Es ist ein Präventionsnetzwerk und heißt kein Täter werden. Ich fahre einmal die Woche nach Berlin in die Charité und habe da eine Gruppentherapie. Ich mache das schon über ein Jahr, vieles ist besser geworden. Wir lernen, nicht mehr unseren Impulsen nachgehen zu müssen. Ich missbrauche Kinder nicht direkt, aber ich habe in der Vergangenheit indirekt missbraucht, weil ich pornographisches Material im Netz gesucht habe. Dagegen kämpfe ich in der Therapie an“, mechanisch hangelte er sich von einer vorgefertigten Antwort zur anderen.
„Also kann man das wegbekommen? Bist du hinterher geheilt und kannst normal leben?“
Hier musste er lachen. Wie man über den schlechtesten Witz aller Zeiten lacht. Geheilt werden. Was sollte er darauf antworten? Er gab die passende Antwort, die sie in der Gruppe im Rollenspiel gelernt hatten:
„Ja und nein. Ich kann lernen, den Trieb zu unterdrücken, aber ich kann nicht lernen, eine normale Beziehung mit einem erwachsenen Mensch zu führen.“
Das hörte sich gut an in der Theorie. Verschwieg aber komplett die Nächte wo sein Schwanz wund war, vom ständigen Wichsen, als er einen Film nach dem anderen angeschaut hatte, getrieben, es endete immer mit dem Zusammenbruch. Eben hatte er noch voller Lust dabei zugesehen, wie ein alter Mann mit vom Bildformat abgeschnittenem Kopf das kleine Ding fickte. Eben hatte es ihn noch erregt, wie sie den Mund öffnete und einen unbestimmten Ton ausstieß. Genau auf diese Lautäußerung hatte er abgespritzt. Das Sperma auf seinen Händen war noch nicht abgekühlt, sein Lustpegel allerdings fast schlagartig, plötzlich konnte der den Ton einordnen. Es war ein Schmerzenslaut. Dem kleinen Mädchen tat der riesige Penis in der viel zu kleinen Öffnung weh. Schon brandete der Selbsthass in ihm auf, das Mitgefühl, die Verdammnis. In dieser Nacht erwachte er plötzlich aus dem Strudel des Selbsthasses mit dem Messer am Schaft und dem verzweifelten Versuch, sich selber zu kastrieren. Das war der Zenit. Danach suchte er sich Hilfe.
„Das heißt, keine Liebe, niemals, keine Beziehung, keine Ehe, kein Sex, kein Nichts? Paul? Niemals kannst Du eine Frau lieben, oder einen Mann? Sag doch was!“
„Genau.“
Nun breitete sich ein Schweigen zwischen ihnen aus. Er gab ihr Zeit. Und nutze sie für sich, um sich ein bisschen zu erholen. Schaute den Schwänen auf dem Teich zu, die ein Blesshuhn jagten.
Plötzlich nahm Suse Pauls Hand und schaute ihm in die Augen.
„Das ist schrecklich.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ungelenk versuchte er sie zu trösten. Die selbstverständliche Unbefangenheit vieler Jahre Freundschaft war wie weggeblasen.