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Keine Chance
Harry Morrison trat kurz vor den Spiegel und begutachtete sich. Alles war in Ordnung. Die Haare klebten - wie es nun neueste Mode war - ölig und glatt an seinem länglichen Schädel. Morrison zupfte sein knallgelbes Rüschenhemd, das leger über die halbduchsichtige Kniebundhose hing, zurecht. Morrison machte immer den neuesten Trend mit. Und da in New York neuerdings wieder Kleidung getragen wurde - vorzugsweise Rüschenhemden und halbdurchsichtige Kniebundhosen - trat er ebenfalls nicht mehr nackt in seiner Sendung auf.
Morrison nickte seinem Spiegelbild befriedigt zu, ging ein paar schnelle Schritte in die Mitte des Studios und baute sich vor der Holo-Kamera auf. Sein Assistent Daniel Carmichael hielt den Daumen nach oben. Das bedeutete, Morrison war gut im Bild. Die Aufzeichnung für die nächste Sendung konnte beginnen. "Aufnahme ab" klang es aus der Regie.
Morrison lächelte in die Kamera. "Hallo, liebe Freunde von "Keine Chance. Harry Morrison und sein Team sind heute Abend wieder für Sie da. Wir haben drei wirklich besondere Geschichten für Sie recherchiert. Erleben Sie die Flucht einer jungen Frau vor ihrem Mörder im Jahr 1602 in einem Ländchen irgendwo in Deutschland. Verfolgen Sie die letzten Stunden der Besatzung der Mondstation Sternberg vor dem Terroranschlag im April 2039. Doch zuvor reisen wir zusammen ins 20. Jahrhundert. Auf einer Farm in Texas stirbt Carl Dany Snyder mit seiner Familie. Ein wirklich außergewöhnlicher Tod. Und Snyder war ein Mann mit außergewöhnlichen Ideen, um der Katastrophe zu entgegen. Aber er hatte natürlich – wie alle anderen - keine Chance!"
Carmichael machte das Zeichen für Schnitt. In der späteren Sendung würde nun an die Anfangsmoderation der Holofilm über Snyder angefügt werden. Der Farmer, seine Frau und seine Kinder starben 1957 bei einem Brand auf ihrem Hof. Sie verbrannten bei lebendigen Leibe, eingeklemmt zwischen eingefallenen Holzstützen und die herbeigeeilten Retter mussten hilflos zu sehen. Eine Story, die gut ins Konzept von Morrisons Show passte.
"Keine Chance" hatte im vergangenen Jahr die Spitze der Hitliste der beliebtesten Sendungen erreicht. Zuschauerzahlen und Werbeeinnahmen schossen in die Höhe. Jeder Woche einmal zeigte Harry Morrison drei Fälle, in denen Menschen auf ungewöhnliche Art und Weise und besonders grausam, - das erhöhte die Einschaltquoten beträchtlich - ums Leben kamen.
Die Idee für die Show war relativ simpel. Morrison ließ in den Archiven von seinen Mitarbeitern passende Fälle recherchieren. Mittels Zeittransfer reiste er und sein Kamerateam dann in die entsprechende Epoche, um mit der Holokamera die Ereignisse publikumswirksam in Szenen zu setzen. Morrisons Aufgabe war dabei es, die zukünftigen Opfer glaubhaft von ihrem bevorstehenden Ende zu überzeugen und sie dann bei ihren Rettungsversuchen zu beobachten. Das verzweifelte Bemühen der Betroffenen, ihrem Schicksal zu entkommen, machte den Reiz der Sendung aus.
Natürlich waren alle Mühen der Opfer vergeblich. Längst stand fest, daß Zeitreisende die Geschichte nicht ändern konnten. Harry Morrisons Warnung hatte nur den Sinn, die Qual der Opfer und damit das Vergnügen seines verwöhnten Publikums zu erhöhen.
Morrison führte nun kurz in den Fall jenes deutschen Mädchens ein. Folter- und Vergewaltigungsszenen waren besonders beliebt. Ein paar Sätze noch zu der Katastrophe auf den Erdmond und dann der Abgang. Morrison gähnte herzhaft. Die Moderation im Studio empfand er meistens als sehr anstrengend. Doch für heute war die Arbeit beendet. Diesen Abend würde er in seiner Wohnung alleine bleiben und sich ausruhen. Ein Kabinentaxi brachte Morrison in sein Stadtapartment. Hier wohnte er während der laufenden Dreharbeiten. Morrison überlegte kurz, ob er sich für die Nacht nicht doch eine Partnerin engagieren sollte, verzichtete dann aber darauf und mixte sich nur einen "Gute-Nacht-Drink".
"Guten Abend, Harry", hörte er die Stimme von Carmichael. Morrison drehte sich um.
Sein Assistent stand im Raum, neben ihn ein Kameramann. Die Holokamera war auf ihn gerichtet und lief.
"Daniel! Was willst Du?" fragte Morrison. Und dann zögernd: "Wie kommst Du überhaupt hier herein?"
"Zeittransfer" sagte Carmichael. "Ich bin gekommen, um Dir eine nette kleine Geschichte über Dich zu erzählen." Harry Morrison schüttelte verärgert den Kopf. "Ich bin heute nicht in Stimmung für Witze. Und noch etwas, wenn Du mich schon verarschen willst. Du hättest Dich ruhig etwas älter schminken können. Wie 125 siehst Du nicht aus. Und vor Ablauf von 100 Jahren dürfen wir keine Geschichten verwerten. Wegen der Angehörigen, Du weißt ja, wie manche Leute sich anstellen können. Also, Daniel, Fehlschlag auf der ganzen Linie. Ich falle nicht auf Deine blöden Scherze hereinf." Carmichael seufzte mit gespieltem Mitleid und schüttelte den Kopf. "Harry, Du verstehst nicht."
"Scher‘ Dich raus und nimm den Kameramann mit!" Morrison wurde langsam wütend. Seine Stimme gewann an Lautstärke. "Noch eine Sekunde länger, und Du bist als mein Assistent gefeuert."
"Harry, ich meine es ernst. Ich bin nicht mehr Dein Assistent. Ich bin Dein Nachfolger in der Sendung. Klar. Du hast recht, es gibt die Hundert-Jahr-Grenze - normalerweise. Aber bei Dir dürfen wir eine Ausnahme machen. Es ist doch zu amüsant, ausgerechnet den Holostar von "Keine Chance" höchst persönlich gegen sein Schicksal kämpfen zu sehen." Die Wut im Bauch von Morrison verschwand. Dafür schien sich sein Herz zusammenzukrampfen. "Ich mag diese Witze nicht!" sagte er schon wesentlich leiser. Carmichael grinste. "Es ist kein Witz, Harry. Ich sagte es doch. Hör zu, Dein Ende ist wirklich bemerkenswert."
"Nein", sagte Morrison leise. "Bitte, nein. Nicht mit mir. Das ist - das ist doch unmenschlich."
Carmichael war sichtlich vergnügt. Er zog einen Datenship mit Holoaufnahmen aus seiner Hosentasche hervor. "Da sind die Nachrichten von Deinem Tod drauf, Damit Du mir auch wirklich glaubst." Die sehen wir uns gleich an. Und dann begann Carmichael zu erzählen.