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Keine Chance für Keinen! - Maria
Maria.
Keine Chance für Keinen, denn der Täter war schon vor dir da. 2. Teil.
Maria liegt auf ihrem Rücken, die Augen geschlossen. Maria träumt. Maria vertagträumt das Leben .... und es scheint ihr so, als wäre es nie anders gewesen. Maria träumt den Alptraum ihrer Zeit. Und was Alles noch furchtbarer macht, über diesen Alptraum kann sie, ja darf sie mit Niemandem reden. Es ist ja so, so viel hat sie inzwischen, wenn auch nur ungern, begriffen: Alle Gesellschaften haben ihre fix gesteckten Grenzen, ihre Tabus. Es gibt keine freie Gesellschaft, solche Gedanken waren bloß ein dummer Traum. Und wer da auf die andere Seite fällt, wenn vielleicht auch ohne eigene Schuld, der hat selbst in so einer Gutmenschenwelt, wie der unseren, die sich ja für so wunderbar frei hält, keine Chance mehr auf Rückkehr.
Und so veralpträumte Maria ihr ganzes nun schon ziemlich altes Leben. Sie hatte ihr ganzes Leben einen einzigen Alptraum im Kopf, der ihren ganzen Körper immer und immer wieder so zittrig und sie so weinen machte. Diese Bilder, diese Herz zerfetzenden Bilder, diese ihre Seele so sehr verdreckenden Bilder waren immer da und doch konnte es geschehen, dass sie manchmal wie ein wildes Tier aus dem Busch heraus sprangen und ihr Herz zum Stehen bleiben brachten. Fast. Leider nicht für immer, wie sie manchmal bei sich dachte.
Dieser Tag und Nacht veralpträumende Wahnsinn in ihrem Kopf hat immer ihr Leben bestimmt und sie nie, nicht eine Sekunde lang los gelassen. Urlaub nehmen vom eigenen Kopf, ach wäre das nicht schön. Nur zu wissen, dass man jederzeit, für eine kurze Zeit wenigstens, aussteigen könnte aus seinen so urböse dahinwälzenden Gedanken wäre schon Erleichterung, ein wenig Frieden.
Und am Schlimmsten sind diese Filme im Kopf während sie schläft, diese Nachtträume. Purer Irrsinn. Deshalb schlief sie auch nie sehr viel. Zwei Stunden Nachtfilm täglich reichen. Ein Tag ohne Nachtfilm reicht noch besser. Keine zehn Demester, kein Valium, keine Psycherl konnten diese ihre Träume auch nur annähernd überdecken.
Früher, als sie noch gehen konnte, da war sie immer mit Irgendetwas beschäftigt gewesen. Arbeit, insbesondere solche, bei der man auch immer ein wenig denken musste, hat ihr immer ein wenig geholfen. Deshalb hat sie immer gerne gearbeitet. Kunden beliefern war ihr am Liebsten. Der Kontakt mit den Menschen tat ihr gut, der lenkte ab. Man konnte ein wenig reden, man kam dabei auf andere Gedanken. Und auch sonst hat sie sich immer eine Arbeit gefunden, und wenn es nur Haus putzen oder ein wenig Garteln war. Arbeit bis zum Umfallen war die beste Medizin. Aber arbeiten bis zum Umfallen war ja sowieso einmal die beste Medizin des österreich-deutschen Verlierervolkes, damals .... nach dem Krieg, sonst läge der Schutt ja heute noch da, haha.
Maria muss lachen. Sie war damit also nie allein. Na ja, Nichts für Ungut, die Kinder von Heute sind schon in Ordnung, werden auch nicht besser oder schlechter sein, wie die Kinder zu aller Zeit. Kinder sind ja meist immer so, wie die Umstände ihrer Zeit es erfordern und auch zulassen. Und für die jeweils herrschende Kultur, in die sie hinein geboren werden, oder gar die Politik ihrer Alten können sie ja Nichts, wahrlich Nichts.
Ihre ganze Zeit, nicht bloß sie selbst, war von dieser Arbeit bis zum Umfallen betroffen. Im Sommer draußen abends auf der Gartenbank sitzen und die Wärme der untergehenden Sonne zu genießen, vielleicht mit der Nachbarin ein paar nette Worte zerquetschen, war schon Alles, was sie sich in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg an Rast gewährte(n). Fernsehen war damals ja noch nicht. Und Kino, ha, Kino war vielleicht einmal im Jahr und das ein Geburtstagsgeschenk vom aus Sibirien lungenkrank heim gekehrten Vater, das er sich für sie, seinem einzigen noch verbliebenen Kind, von seiner kargen Kriegsinvalidenrente abgespart hatte. An Rast war nicht zu denken, ne, ne, und für sie wäre das sowieso das Letzte gewesen, das sie gewollt hätte.
Arbeit war dieses Himmelsloch, in das Alle geflohen sind, um den Massenmord von Gestern zu vergessen. Alle wollten vergessen. Bloß "Alles vergessen" war angesagt, sonst hätte es ja gar keinen Sinn gemacht, wieder an ein Morgen zu glauben, an so ein gemeinsames Morgen, ... wenigstens für die geliebten Kinder. Doch da waren dann ein paar dabei, die das nicht so gesehen haben.
Na ja, dieses "Vergessen" war jedenfalls die Hirn- und Seelenmedizin und Arbeit der Antrieb Nummer Eins dafür. Wer keine Arbeit hatte, der konnte nicht vergessen. Meist hatte auch keine Arbeit, wer nicht leicht genug vergessen konnte, weil ihn nämlich die Erinnerungen so schwer belasteten, dass er zu schwach war, sich den Antrieb Nummer Eins überhaupt erst einmal zu suchen. Bei dieser Problematik biss sich ja meist die Katze in den Schwanz. Deshalb wurde dieses "Arbeit haben" ja auch zum obersten Prinzip ihrer Zeit.
Und dieser Bruno Kreisky in Österreich, der hat das damals mit all seinen Zusammenhängen als einer der Ersten begriffen. Deshalb hat er auch auf seine Enkeln, diese Internetgeneration von Heute, wie man so schön sagt, "geschissen". "Schulden machen auf Kosten der Kinder von Morgen" war angesagt, damit die Menschen seiner Zeit genügend Arbeit hatten, um die grauslichen Bilder im Kopf zu vergessen. War nicht ganz so super von ihm, wie wir immer geglaubt haben, das muss sie heute selber zugeben. Aber er wird wohl, so wie wir alle ja auch, gehofft haben, dass sich mit der Zeit schon Alles zum Guten wenden würde, so auf die Art: Kommt Zeit, kommt Rat.
Na ja, dieser sein Geistesblitz sitzt den Menschen von Heute noch immer schwer, ja schwerer denn je in den Knochen. Arbeiten und vergessen. Doch die Alpträume hatte Niemand wirklich im Griff, denn da waren ja diese Gutmenschen, und diese Gutmenschen haben einen Schleier auf einen Teil der Vergangenheit gelegt.
Sie sprachen zwar von Vergangenheitsbewältigung, ja, diese Vergangenheitsbewältigung war sogar ihr höchstes und auch einziges, akzeptiertes Ziel. Auch die Kunst hat sich diesem Ziel untergeordnet, und die Schriftstellerei hierzulande war sogar davon bekrankt, sogar scherst bekrankt. Zukunftsbewältigung war nicht gefragt. Kritisches Fragen nach einer Entwicklung ins Morgen ebenso nicht.
Ja, dieses Narrenvolk dachte doch glatt, sie könnten die Zukunft mit ihrer einseitigen Vergangenheitsbewältigung bewältigen. Da hatten sie einerseits ihr herrliches "Love and Peace" gefunden und dann suchen sich diese Narren doch tatsächlich auch noch ein Objekt, das sie von Herzen aus hassen konnten. Wie passt das wohl zusammen? So was konnte einfach nicht gut gehen.
Was war dieses ganze wichtige Schriftsteller- und Philosophenvolk doch damals nach dem Krieg für eine Dummerltruppe. Und die Schriftstellerinnen und Philosophinnen waren sogar noch viel schlimmer, als ihre dämlichen männlichen Pendants. Diese aus dem Krieg heraus Geborenen dachten damals ja Alle, sie könnten Alles "gut" schreiben. Doch Scheiße im Kopf kann man nicht schön und gut schreiben. So schöne und so gute Worte hat keine Sprache dieser Welt. Zumindest geht das dann nicht, wenn man bei der "Liebe" zur Vergangenheitsbewältigung vor lauter Hass die andere Seite der Medaille zu erzählen vergisst.
Wer kann schon wirklich glauben, man könne die Welt verändern, wenn man diese andere Seite der Wahrheit einer Zeit einfach negiert und schon das Darüberreden zum Totaltabu erklärt.
Maria hat ihr ganzes Leben veralpträumt. Ein Horror nach dem Anderen hat sich Jahr für Jahr in ihre Seele hinein geschlichen. Und der schlimmste Horror für sie und ihresgleichen von Damals war dieses böseste aller jemals wirkenden Zensursysteme, von denen die Menschen aller Zeiten jemals betroffen waren. Diese heimliche, unausgesprochene und so versteckt im Hintergrund organisierte Gutmenschenzensur hat nämlich nicht nur die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs ins totale Schweigechaos gerissen, nein, sondern auch gleich alle anderen Gesellschaften mit.
Die letzten überlebenden Juden, die sich während und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina flüchten und dort niederlassen konnten, haben aus der Niederlage ihres Peinigers Nichts gelernt. Ja, sie sind heute auf dem Weg, es ihren Vernichtern, den Massenmordnazis, gleich zu tun, wenn auch nur in einem kleineren Ausmaß. Doch Massenmord bleibt Massenmord. Auch eine einzelne Rakete, abgefeuert auf ein Wohnhaus, in dem sich ein wichtiger Terrorist vor zehn Minuten gerade noch aufgehalten hat, ist Massenmord, wenn dort neun Unschuldige sterben, darunter ein Säugling, der in seiner Grippe geschlafen hat, und vier weitere Kinder unter vierzehn Jahren. Der Rest waren ihre Mütter. Scharon wird sich wohl gedacht haben: "Gott Jahwe sei Dank sind die auch tot. Die können jetzt wenigstens keine Terroristen mehr "werfen", Gott Jahwe sei´s gedankt." Arschloch. Superarschloch.
Ob Gott Jahwe weiß, dass er von einem alten, kranken und so unsagbar bösen Massenmörder angebetet wird? Wie krank muss dieser arme Gott Jahwe heute sein, wenn er sieht, was wieder einmal aus seinem "auserwählten Volk" geworden ist? Immer wieder einmal so und dann wieder einmal so.
Es ist Alles so furchtbar. Maria ist so traurig. Und dies Alles bloß wieder einmal aus dem Verschweigen der Halben Wahrheit heraus. Aber egal. Maria ist heute so einsam. Sie hat keinen Menschen mehr. Ein schmales Bettchen in einem schmalen Zimmerchen in einem kalten Altersheim, in dem pflichtbewusste Gutmenschen ihre Pflicht verrichten, natürlich gibt es da und dort eine Ausnahme, ... so ein schmales Zimmerchen nennt sie heute ihr letztes Eigentum. Dabei hat sie ihr Lebtag Nichts Anderes getan, als zu arbeiten, und das bis zum Umfallen jeden Tag. Aber sparen, .... ha, wovon? Haha, sie muss wieder in sich hinein lachen, wenn sie an diese olle Schüssel von einem Bundeskanzler denkt, der davon faselt, wie leicht es jetzt wäre, der Pension sein eigenes Standbein hinzu zu setzen. Ja, für ihn und seinesgleichen, .... sicher, aber nicht wenn man nur tausend Euro netto verdient. Kann ruhig auch ein wenig mehr sein. Wenn man auch nur ein Kind hat, dann bleibt nicht genug.
Ja, dieses schmale Bettchen in diesem schmalen Zimmerchen in diesem kalten Siechenheim ist heute ihr letztes Zuhause .... und so ganz nebenbei wird der Besuch auch immer seltener. Ihre alten Bekannten und Verwandten sterben weg. Gestern ist ihre letzte Freundin gestorben. Diese Freundin war die letzte, die (fast) Alles über sie gewusst hat.
Anna ist ja damals im Sommer 1945 stundenlang neben ihr in dieser Baracke gelegen, damals, als diese Heerscharen der zu Bestien mutierten Männer über ihr Dorf hergefallen sind. Genau vierhundertsechsundzwanzig Mädchen und Frauen zwischen acht und und über sechzig Jahren waren sie. Sogar die kleine achtjährige Regina vom Herrn Pfarrer haben sie zu Tode "gepfählt". Sie haben das kleine Ding zuerst brutal vergewaltigt, sie dann auf ihr Kinderbettchen genagelt, wie den Jesus ans Kreuz, und haben ihr dann einen Zaunpfahl zwischen die Beine hoch gerammt, bis zur Gurgel. Das arme, kleine Ding hat geqietscht, dass es nicht zum aushalten war. Sie hat bis zum Schluss noch gewimmert. Der Vater, die Mutter, sie Alle mussten da mit zusehen, wie Eine nach der Anderen massakriert worden ist. Den Pfarrer haben sie dann noch an die Kirchentür genagelt. Und wahrlich, verstecken war nicht. Sie haben keine Einzige ausgelassen. Und auch die Tschechenweiber haben fleißig mit gefoltert. Wie Furien waren die! Eine hat sogar ihren eigenen Mann angefeuert, dass er sie ordentlich durchpudern soll. Aber wen interessiert Das schon? Keine Sau, und eine Gutmenschensau schon gar nicht.
Maria streichelt zärtlich über ihre linke, halbe Brustwarze. (So weit kommt sie mit der einen Hand gerade noch.) Die andere Hälfte hat damals ein besoffener Tscheche im Hass ertrunken abgebissen, .... einfach abgebissen, und den Fleischbrocken dann unter dem irren Lachen der anderen Tiere in der Baracke langsam und genussvoll gekaut und dann vor ihren Augen, die man ihr aufgepresst hielt, hinunter geschluckt. Zwei andere Tiere haben sich dann abwechselnd am Strom des Blutes, das aus der Brust floss, gierig satt getrunken. Sie hat keine Ahnung, wieso und wieso sie das Alles überleben konnte.
Ihr Freund, der Hans, damals gerade fünfzehn Jahre alt, also zwei Jahre älter als sie, hat Alles mit angesehen. Sie haben ihn mit zwei anderen Jungs aus dem Dorf wie Jesus an die Wand der Baracke genagelt. Auf jede Seite einen. Und vorne beim Eingang, da haben sie den großen Fleischwolf aus der Fleischerei aufgestellt und die Hände und Füße des Herrn Bürgermeisters und noch von ein paar anderen Dorfbewohnern durchgedreht. Bei lebendigem Leib natürlich. Was war das doch für ein Gebrüll?! Nicht zum aushalten war das. Sie hört es heute noch jeden Tag.
Irgendwie sind sie dann den Tieren doch noch entkommen. Eine tschechische Heeresabteilung kam irgendwann gegen Abend daher und hat dem Spuk ein Ende bereitet. Sie hat gehört, dass diese späte Ankunft mit dem Offizier vereinbart war. Man hat sie dann mit Peitschen zur österreichischen Grenze getrieben.
Hans wurde dann siebzehn Jahre später ihr Mann. Irgendwie war ihnen beiden klar, dass sie nur zusammen mit ihren Bildern alt werden konnten. Wie seinen Seelenzustand Jemandem erklären, der da nicht dabei war? Also hat sie sich damals entschlossen sich noch einmal hinzulegen, wegen einem Kind. Na ja, dann wurden es zwei Töchter.
Aber der arme Hans war schon so krank im Kopf, seine Seele hat sich nie mehr erfangen. Seine Seele starb damals an der Wand, als er diese Tiere gezählt hat, die ein und aus gegangen und über sie gekommen sind. Er war ja kein Jesus, sondern nur ein armer Hans. Ihre zweite Tochter hat er nur noch um gut ein und ein halb Jahre überlebt. Dann hing er eines Tages am Dachstuhl ihres Hauses, welches sie sich mit der Hilfe aller ihrer Nachbarn und Freunde in ihrer Vertriebenensiedlung in einer Vorstadt von Linz erbaut hatten.
Hans hat sein Leben mit seinem Wissen nicht mehr ertragen. Und auch für ihn war es das Schlimmste, dass man nicht offen darüber reden durfte. Sie haben ihm, dem damals fünfzehnjährigen Jungen eine Schuld einzureden versucht, zumindest war dies eines der Ergebnisse unserer Vergangenheitsbewältigung. In den Sechzigern fragte ja keiner mehr, ob du damals dreizehn oder fünfundzwanzig warst. Du warst ja schon "alt" und sahst auf Grund der Bilder, die du gesehen hast, auch schon viel älter aus.
Man konnte mit Niemandem reden, auch nicht mit den Bekannten und Verwandten, weil die ja dabei gewesen sind und "wussten". Die hätten sich ja sonst auch alle aufgehängt mit der Zeit, wie ihr Hans. Und in der Öffentlichkeit darüber reden, das trauten sie sich damals auch nicht. Diese Art von Leid auszusprechen wurde ja dem Gedankengut der Nazis zugeschrieben. Gräueltaten der anderen Seite hat es nie gegeben. Diese Geschichten liefen unter Schauermärchen und waren eben "Gedankengut der Alt-Nazis." Und wer wollte damals schon gerne ein Nazi sein! Niemand! Schon gar kein Künstler, der was werden und eines Tages von seiner Kunst leben wollte. Und so haben eben Alle geschwiegen. Und Jene, die dieses Schweigen, diese Gutmenschenzensur, nicht ertragen haben, die haben sich halt umgebracht. Pingo! Und wie wir Alle ja wissen oder wissen könnten, wenn es Einen interessiert, ist die Selbstmordrate bei den Vertriebenen gut zehn mal so hoch, wie im Rest der Bevölkerung. Sogar heute noch. Sogar die Kindeskinder leiden noch unter diesem Schweigezwang der Opfer.
Dem 68er-Gutmenschen, der sich ja als Friedensmensch, als auserwählte Generation gesehen hat, überhaupt diesen verlogenen Hassmenschen, wie diesen Jelineks, Bernhards, Handkes und Co., war das Alles wurscht. Die haben damals ja ganz offen in diesem Sinne geschrieben: Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer. Ihr Hauptanliegen war: Niemand äußert auch nur den geringsten Zweifel an ihrer Gutmenschenkultur. Zu dieser "Kultur" gehörte es auch, die Opfer gleich noch einmal über den Tisch zu sehen, indem man ihnen ihre Sprache gestohlen hat. Und die Mütter und Väter dieser ersten echten und endlich ausgereiften Massenmitmördergeneration verdienten sich an diesem Schweigen und am Erzählen ihrer Halbwahrheiten dumm und dämlich, und Niemand durfte dagegen Etwas sagen, sonst war er ein Nazi. Und wie schon gesagt: Wer wollte, will schon gerne ein Nazi sein!
Maria liegt starr und völlig steif in ihrem kleinen Bettchen im kleinen Zimmerchen ihres eisig kalten Gutmenschen-Siechenheims. Maria hat sich schon oft gefragt, wie viele ihrer Landsleute auch, und auch viele andere hier in diesen Landen, ob sie wirklich "ein Nazi" war, weil sie so dachte? Nein, mit Sicherheit nicht. Erstens war sie ja am Ende des Krieges erst dreizehn Jahre alt, was natürlich nicht viel besagen musste.
Aber zweitens hasste sie weder Juden noch Zigeuner, sie hatte auch nie was gegen die angeblich "abartige Kunst". Auch nicht jene aus den letzten Jahrzehnten. Meist war sie ihr ja wurscht gewesen, zumindest das, was ihr nicht gefallen hat. Als sie dann damals überall auf den öffentlichen Plätzen die nackten Weiber angebrunzt und angeschissen haben - sie nannten das Aktionskunst - war sie natürlich schon ein wenig schockiert gewesen. Aber eigentlich nicht so sehr wegen der Anbrunzerei und Anscheißerei, sondern eher nur deshalb, weil sie nur Frauen angebrunst und angeschissen haben. Ein paar Männer hätten sich doch auch ruhig anbrunzen und anscheißen lassen können. Na ja, die waren halt nicht gar so blöd.
Na ja, und drittens war sie beinharte Demokratin. Sie hat immer eine Mehrheit akzeptiert, auch wenn ihr die Entscheidungen nicht immer gefallen haben. Auch die Entscheidung, dass sie jetzt hier liegen muss, hat ihr nie gefallen. Aber sie war ja selber schuld. Na ja, furchtbar ist halt, dass kaum noch Besuch kommt. Die Alten sind ja Alle schon weg gestorben. Von den Jungen besucht sie Keine, Keiner mehr. Selbst dieser komische Dichter, der oft stundenlang neben ihrem Bettchen sitzt, der, mit dem ihre Töchter früher als sie noch klein waren "Vater und Mutter" gespielt haben, was ihr gar nicht gefallen hat, ja, selbst der kommt wohl nur wegen ihrer "Geschichten" her, so viel hat sie inzwischen begriffen.
Ach, hätten sie doch früher schon so zugehört, diese Dichter .... Selbst ihre Töchter kommen nicht mehr, .... schon lange nicht mehr. Ins Siechenheim sind sie sowieso noch nie gekommen. Maria hat ihnen wohl zu viel angetan. Sie war ja damals so einsam gewesen. Und Mann, .... ne, nachdem sich ihr Mann mit dem Strick verabschiedet hatte, weil er mit seinen Bildern nicht mehr leben konnte, weil er ja darüber mit keinem Menschen reden durfte, .... ne, so einen Mann wollte sie nach der Heerschar von Damals keinen mehr.
Ob diese Tiere öfters an sie und die anderen Mädchen und Frauen gedacht haben? Ob die noch Lebenden heute noch öfters daran denken? Und was werden sie wohl gedacht haben? Ja, was werden sie wohl denken? Haben sie selbst heute noch immer kein Mitleid mit uns? Hängen sie deshalb so schwer an ihren so nutzlos gewordenen Benisch-Dekreten? Na ja, ist ja heute wohl egal! Oder doch nicht? Ach, sie weiß nicht mehr, .... ob es wohl einen Gott gibt?
Nun ja, sie wird es ja bald wissen. Sie war jedenfalls damals so furchtbar einsam gewesen. Kein erwachsener Mann in ihrem Haus. Sie wollte ja keinen. Das wäre unvorstellbar gewesen. Sie war mit ihren zwei so lieben Töchterchen allein gewesen. Also hat sie mit ihnen bald im großen Ehebett geschlafen. Oh Gott, .... verzeih, .... sie hat sich doch Anfangs dabei gar Nichts gedacht. Und dann, .... und dann .... dann ist es passiert. Oh Gott, Maria hat keine Ahnung mehr, wie? Sie war so weit weg gewesen. Irgendwie halt.
Oh Gott, oh Gott, .... zuerst ließ sie sich von den kleinen Dingern ja nur streicheln. Ihre Haut, ihr Herz, ihre Seele schrieen wohl so laut vor lauter Einsamkeit. Und irgendwie kamen dann zum Streicheln immer mehr Sachen hinzu. Das Spiel mit den Bananen fanden sie sogar äußerst lecker.
Oh Gott, .... und als sie dann begriffen hatte, da war Alles schon zu spät, und dann irgendwie auch so furchtbar egal. Sie hat dann einfach weiter gemacht, Alles so egal.
Und mit wem, bitte, mit wem dann darüber reden??? Dieses Thema und vor Allem ja sein Großes Warum waren ja sooooo tabu. Maria weint, die Tränen verjucken sich über ihre Wangen, die Augen brennen. Sie kann nicht darüber wischen, .... sie kann sich ja nicht mehr rühren. Und so jucken die Tränen einfach weiter, .... bis sie eingekrustet sind.
Wie hätte sie es denn ohne diesen Zusammenhang erklären sollen? Sie weiß das bis heute nicht! Aber wer weiß, vielleicht ist es damals nach dem Krieg ja auch anderen einsamen Kriegerwitwen so ergangen, irgendwie sind wohl nach diesem Grauen die Sicherungen haufenweise durchgegangen, bei Vielen alle Skrupel gefallen, so und so. Man muss sich ja nur die Statistik mit dem Kindesmissbrauch ansehen, mitsamt seiner Dunkelziffer. Ob das vom Grauen der Kriege kommt und dann in den Gesellschaften immer weiter fort wirkt? Wer weiß?
Jedenfalls hat damals diese Zensur der Gutmenschen voll zugegriffen. Nein, sie konnte nicht darüber reden. Da hätte es dann gleich geheißen: sieh an, diese Sudetendeutsche, dieses Naziweib, .... kein Wunder. Ja, sie ist sich völlig sicher, so hätten sie damals geschrieben, diese Gutmenschen-Dichter. Womöglich hätte dieser Bernhard gar über sie einen Roman geschrieben und dabei wissenschaftlich-wichtig und so glaubhaft statuiert, dass nur die deutschen Naziweiber zu so was fähig sind.
Also hat sie immer geschwiegen, und ihre Töchter auch. Und heute läuft ihr äußerst netter Schwiegersohn, so ein wahrer Bär von einem Mann, einem ehemaligen Meister in einer Art des Kampfsports, der aber keiner Fliege was zu leide tun konnte, .... mit dem man Pferde stehlen konnte, .... ja, einen Besseren hätte ihre kleine Janet nicht finden können ...., so Einen konnte man sich als Frau nur wünschen, .... (ach was wollte sie wohl sagen), .... ach ja, und heute läuft so ein herzensguter Mann völlig einsam mit seinen zwei kleinen Kindern in der Gegend herum, weil ihre Tochter wegen ihr mit den zwei Kindern nicht allein bleiben wollte, konnte, weil sie Angst hat, sie könnte ihnen das Gleiche antun, wie sie ihnen, oh Gott. Das Herz in Maria dreht sich wieder einmal um. Maria denkt: oh Gott, hilf und lass es bitte, bitte endlich stehen bleiben.
Und der arme Willi weiß ja bis heute nicht: WARUM? Er denkt seine Frau wäre halt bloß eine dieser üblichen dummen Ziegen ihrer Zeit, dem Feminismus, der Ich-Suche, und das meist in einem Fitnessstudio, ergeben. Dabei hat ihre Tochter doch die schwerwiegendsten Gründe für dieses Warum, warum sie mit ihren kleinen Kindern nicht allein sein konnte. Und deshalb kommt sie sie nicht besuchen. Maria kann es ja verstehen.
Und jetzt ist auch noch ihre letzte Zeitzeugin, ihre letzte echte Freundin gestorben. Sie wüsste nicht, warum sie jetzt noch weiter leben sollte. Es ist genug. Oh lieber Gott, bitte, mach endlich Schluss.
Diese ihre Geschichte interessiert heute sowieso Niemanden mehr. Bloß dieser Narr von einem Dichter, dieser Nachbarsjunge von Damals, den sie eigentlich nie richtig gemocht hatte, weil er immer so direkt war, der schaut des Öfteren vorbei. Sie weiß, es ist ja bloß wegen der alten Geschichten. Er ist einer von Denen, die jetzt auf einmal drauf gekommen sind, dass die Zeitzeugen von Damals jetzt Alle schön langsam sterben, und die Vergangenheit ja noch lange nicht aufgearbeitet ist, ja eigentlich fängt sie jetzt erst so schön richtig an, interessant zu werden. Jetzt kommt die Zeit des Vergleichens, einer neuen Übersicht.
Na ja, was soll´s? In der Scheiße, oder wie heißt es so schön? .... Ach ja: In der Not frisst selbst der Teufel Fliegen! Ha, sie muss lachen, .... schön spät kommen sie jetzt drauf. Der Gutmensch wird jetzt halt genau so, wie diese armen Nazis einst waren. Er wird auf seinen halben Lügengeschichten sitzen bleiben, sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen und letztendlich doch ein Bösmensch werden, bleiben. Okay, der 68er-Gutmensch war bis dato noch kein Massenmörder, aber ein Massenmitmörder zu sein, ist ja auch kein bisschen besser.
1945 - 1968. Dreiundzwanzig Jahre. Der Wendepunkt in der Ära der Nachkriegsgeneration. 1968 - 1991. Wieder dreiundzwanzig Jahre. Der Höhepunkt, also ebenso ein Wendepunkt. Der Gutmensch wusste vor lauter gut zu den Tätern sein, selber nicht mehr ein noch aus und musste zu einem der von ihm erschaffenen Bösen erstmals selber böse sein. Der 1. Irakkrieg wäre der erste von der westlichen Wertegemeinschaft selbst geführte Krieg gewesen, wie ihr der Dichterling erklärt hat. Und sie hat es verstanden.
Ja, und dann hat er ihr auch noch von dieser DU-Munition, dieser Uran-Munition, mit der heute alle Welt in der Welt herum ballert, erzählt, und ihr auch ein paar Geschichten über die Gefährlichkeit dieser Uran-Munition aus dem Spiegel vorgelesen. Ja, irgendwie kann sie das sogar glauben. Schließlich glaubt sie ja auch daran, dass an Sprichwörtern immer auch was Wahres dran ist: Wer hoch steigt, der fällt auch tief. Eh schon wissen.
Ja, und dann 1995: Srebrenica. Das Jahr der Erkenntnis. Fünftausend Gutmenschen-Soldaten stehen für ihre Gesellschaft in Vertretung völlig unbeteiligt daneben, während eine ganze Stadt abgeschlachtet, dahin geschändet, massengemortert wird. Den Menschen in Srbrenica ist das Selbe passiert, wie ihr und Ihresgleichen damals im Frühjahr 1945. In diesem Jahr 1995 hätte sich für ihn, den Dichterling, offenbart, was diese Gutmenschen in Wahrheit sind: Massenmitmörder.
Maria weiß, dass das Alles keine Entschuldigung für ihre eigenen Taten sein kann. Dafür hat sie zu schwer gesündigt. Sie hat Angst vor Gott, und doch bittet sie ihn inständig zum x-ten Mal, ihr Herz endlich stehen zu lassen. Vor Kurzem hat sich der arme Hund bei ihr sogar für ihr Zuhören bedankt. Kein Mensch seiner Zeit würde das sonst tun, "zu hören", hat er dabei gemeint. Er wäre für die meisten Leute eine reine Anstrengung. Dass er doch ein paar Freunde hat, das würde ihn echt schwer wundern.
Na ja, was sollte sie wohl sonst tun? Sie kann ihm ja nicht davon laufen. Nach ihrem letzten Selbstmordversuch - sie ist von einer Brücke direkt vor ein Auto gesprungen, aber dieses Auto ist nicht richtig über sie drüber gefahren - ist sie ja querschnittgelähmt. Und wie schon gesagt: In der Not ....
Auch ihr armer Schwiegersohn, nun natürlich schon lange geschieden, kommt mit den zwei Kindern nie vorbei. Ob er doch Etwas ahnt? Ihre zwei Enkelkinder hat sie schon seit Langem nicht mehr gesehen. Und auch vorher kaum. Sie wusste ja wieso? Oh Gott! Ihre Tochter hat sie nie mit den Kleinen allein gelassen.
Was sie denen wohl erzählen werden? Vielleicht haben sie den Kindern ja gesagt, dass die Oma schon tot ist? Kann ja sein. Könnte Das möglich sein? Kann es im Leben solche Gemeinheiten geben? Ja, sicher, sogar noch viel Schlimmeres. Maria weiß das ja.
Und so schloss Maria dann am Heiligen Abend 2003 zum letzten Mal ihre Augen. Sie ist endlich für immer eingeschlafen. Maria war eine der letzten Zeitzeugen. Sie war damals ja noch ein Kind, wie wir wissen. Doch sie war schon alt genug, um mit den Älteren "mitzuzahlen". Ihr gilt es noch nicht, doch wäre es nicht hoch an der Zeit, auch den Älteren endlich zu vergeben. Noch dazu, wo man heute ja weiß, dass zwischen dem Gutmensch und dem Nazi nur drei Buchstaben Unterschied sind:
Der Massenmitmörder ist die andere Seite der selben Medaille: keine, oder fast keine Tat ohne einen Mittäter. Und dieser Mittäter ist bekanntlicherweise laut Strafrecht strafbar. Ob es gerechtfertigt ist, den Mittäter von Haus aus leichter zu bestrafen als den Täter, daran zweifle ich.
© Copyright by Lothar Krist (26.12.2003)