Keine Angst
Ich habe keine Angst vor der Liebe. Das macht uns zu ebenbürtigen Partnern. Die Liebe ist gleichzeitig mein vertrautester Freund und mein ärgster Feind. Mein Herz, mein Fluch. Und Segen. Ich habe keine Angst. Mich zu verlieben. Mich Hals über Kopf ins Feuer zu stürzen. Denn jede Sekunde voll Liebe ist es wert. Jeder Moment, in dem ich mich aufgehoben und geborgen fühle. In dem ich denke, die Welt bleibt stehen und der Zauber will niemals verfliegen. In dem ich meine Augen schließe um diese Sekunde mit allen anderen Sinnen in mich aufzunehmen. Jede einzelne dieser Sekunden ist es wert, ein gebrochenes Herz davon zu tragen. Die Scherben vom Boden einzusammeln. Mich in Stille und Einsamkeit zu verkriechen und versuchen, die Teile wieder zusammenzusetzen. Das, was davon übrig geblieben ist. Um mich dann wieder von neuem aufzumachen, um die Liebe wiederzufinden, die sich so sang- und klanglos davon geschlichen hat. Es ist eine ewige Jagd, ein Versteckspiel. Doch ich weiße, eines Tages werde ich sie finden und festhalten können.
Ich traf ihn, als ich ein junges Mädchen war. Er war dieser Junge, der etwas zu groß und etwas zu dünn war. Der diese merkwürdig krausen Haare hatte und eine schräge Brille trug. Der mich ansah, als sei ich das Schönste, was seine Augen jemals erblickt haben. Der auf jedem Fest die ganze Nacht mit mir tanzte. Mit dem ich stundenlang über die schönen und hässlichen Seiten des Lebens philosophieren konnte. Der mir niemals näher kommen würde, da ich zu einem anderen gehörte. Und so führte das Leben allmählich unsere Wege auseinander. Und wir liebten andere und brachen ihre Herzen und unsere wohl auch. Und irgendwann, einige Jahre später, trafen wir uns wieder.
Es brauchte nur wenige Augenblicke um alles wieder zurückzubringen, was die Zeit zu verwischen versucht hatte. Doch der Zauber des ersten Kusses, die Magie der ersten Berührung wurde von dem Wissen getrübt, dass diesmal er es war, der zu einer anderen gehörte. Und die Liebe quälte mein Herz und ließ es beinahe kalt und gleichgültig werden, als er mir wenig später sagte, er sei wieder frei. Doch nicht für mich. Es würde nicht funktionieren, sagte er. Ich bin nicht das, was du suchst. Und so führte er mich, ohne es zu wissen, in die Arme eines anderen. Und die Liebe gab mir alles, was ich mir je ersehnt hatte, nahm mich mit, auf das größte Abenteuer meines Lebens, berauschte mich mit ihrer Kraft und Leidenschaft. Bis sie eines Tages einfach wieder verschwand. Und mich zurückließ, in Dunkelheit, Stille und Verzweiflung. Und wieder einmal glaubte sie fast den Kampf gewonnen. Da führte das Leben unsere Wege aufs Neue zusammen.
Diesmal vorsichtiger - zwar hatte die Zeit die Wunden geheilt, die Narben waren verblasst, doch nicht vergessen - begegneten wir uns. Wir waren beide frei, wir waren jung und wild und ungebunden. Die Liebe zeigte mir, wie sein könnte. Das größte Abenteuer meiner Geschichte. Wenn er mich hielt, fühlte ich mich frei und aufgehoben zugleich. Die Welt blieb stehen und der Zauber blieb bestehen. Was ist es eigentlich? fragte ich. Was ist es, und wo hat es angefangen? Ich weiß es nicht, sagte er. Doch ich denke, es würde nicht funktionieren. Ich bin nicht das, was du suchst. Ich bin nicht gut für dich. Du hast Angst, sagte ich. Und da erkannte ich, was die Liebe vorhatte. Sie hatte mich nicht bezwingen können. Und so gab sie mir alles, was ich mir wünschte, zeigte mir, was vor mir liegen könnte, schürte meine Hoffnung und meinen Glauben an sie. Und dann wandte sie sich an ihn. Und säte Zweifel und Angst und Reue und Schmerz. Die Liebe hatte mich meiner Waffen beraubt und nun stand ich da und musste zusehen, wie sie ihren Kampf mit ihm austrug. Ich hoffte und bangte, dass sein Herz wie meines furchtlos und stark sein würde. Doch ich täuschte mich. Und so zog die Liebe von dannen und nahm alles mit sich, was sie zuvor beschworen hatte. Und ließ mich zurück. In Dunkelheit, Stille und Verzweiflung. Wo ich die Scherben vom Boden einsammelte und versuchte, die Teile wieder zusammenzusetzen. Das, was davon übrig geblieben war. Um mich dann wieder von neuem aufzumachen, sie zu finden. Denn ich habe keine Angst.